Dossier: Bolivien im Umbruch
Editorial
Am 25. Januar 2009 haben sich in Bolivien 61,4% der ca. 4 Millionen Wahlberechtigten in einer Volksabstimmung für die neue Verfassung des Landes ausgesprochen. Nach spanischer Eroberung (1535), Unabhängigkeit (1825) und Revolution (1952) beginnt damit eine neue Etappe der bolivianischen Geschichte. Besonders für die indigene Bevölkerungsmehrheit ist die Annahme der Verfassung von zentraler Bedeutung. Nach fast 500 Jahren Diskriminierung, Ausbeutung und Widerstand geht nun endlich die Ära des inneren Kolonialismus ihrem Ende entgegen.
Was für die Mehrheit Grund zur Freude und zum Feiern ist, ruft bei jenen, die bisher Nutznießer der bestehenden Verhältnisse waren, Ablehnung und Ressentiments hervor. Vor allem im prosperierenden und wohlhabenden Osten des Landes stößt deshalb der Prozeß der Neugründung Boliviens auf Gegenwehr. So haben die Präfekten der in dieser Region gelegenen departamentos bereits verkündet, die neue Verfassung trotz des klaren Wählervotums nicht anerkennen zu wollen. Die Tatsache, dass sie vor Ort lokale Mehrheiten für ihre Obstruktionspolitik mobilisieren können, lässt ein Fortbestehen der Spannungen und Konflikte befürchten. Mancherorts wird bereits von Spaltung und drohendem Bürgerkrieg gesprochen.
Für die Redaktion des QUETZAL, der bereits in der Vergangenheit die Ereignisse in Bolivien in Gestalt eigener Beiträge sowie eines „Bolivianischen Tagebuches“ begleitet und kommentiert hat, ist das Verfassungsreferendum Anlaß, sich in einem Dossier intensiver mit den Hintergründen der Auseinandersetzungen in dem Andenland zu befassen. Wir versuchen deutlich zu machen, dass die gegenwärtigen Konflikte das Ergebnis struktureller Defizite und Verwerfungen sind, die zum Teil jahrhunderte alte Wurzeln haben und schon deshalb keine schnelle Lösung zu erwarten ist. Das Land befindet sich inmitten eines Umbruchs von historischer Dimension und seine viel beschworene Neugründung hat gerade erst begonnen. Die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Komplexität der aktuellen Entwicklung dem Leser nahe zu bringen, ist ein zweites Anliegen dieses Dossiers. Neben historischen Rück- und Überblicken stehen die politischen Auseinandersetzungen der Jahre unmittelbar vor und nach dem Regierungsantritt von Evo Morales im Zentrum der Analyse. Auch der Text der Verfassung selbst wird einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Durch Glossar, Chronologie, Personen- und Parteienprofile kann sich der interessierte Leser selbst ein Bild von der tief greifenden Umgestaltung im vielgestaltigen Bolivien machen. Es liegt in der Natur dieser Umgestaltung, dass wir unser Bolivien-Dossier durch aktuelle und ergänzende Beiträge auf dem Stand der laufenden Entwicklung halten werden.
Boliviens Lage im Herzen Südamerikas symbolisiert zugleich die zentrale Bedeutung der Neugründung des Landes für die Zukunft des gesamten Kontinents. Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob die Wahl des ersten indigenen Präsidenten mehr als eine symbolische Bedeutung hat. Erfolg oder Scheitern des Transformationsprozesses in Bolivien, in dem es neben dem Aufbau eines neuen, multiethnischen Staates auch um eine gerechtere Gesellschaft geht, hat zweifellos kontinentale wie globale Auswirkungen. Es bleibt zu hoffen, dass die schwer errungenen Fortschritte und Kompromisse der letzten drei Jahre das Fundament für ein neues Bolivien bilden werden, in dem das Erbe des äußeren wie inneren Kolonialismus der Vergangenheit angehört und alle Bolivianer tatsächlich gleichberechtigt und gemeinsam an der weiteren Entwicklung ihres Landes mitwirken. In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern eine erkenntnisreiche und neue Einsichten fördernde Lektüre. Wie immer freuen wir uns über Kritiken und Verbesserungsvorschläge.
Leipzig, 26. Januar 2009 – die Redaktion
offizielle Endergebnisse der Volksabstimmung || Download der neuen bolivianischen Verfassung (PDF)
Ältere Artikel | |
|
Ausgewählte Beiträge aus unserem Bolivien-Tagebuch „Bolivia en Movimiento“ | |
————-
Bildquellen: [1] Politik: University of Texas at Austin, [2] Wirtschaft, [3] Indigene, [5] Kultur: Quetzal-Redaktion, wd.