Falls das für Januar geplante Referendum über eine neue Verfassung positiv ausgeht, bringt das für Bolivien eine vollständige Umstrukturierung. Was würde das für das Land, die Bolivianer und für Sie persönlich bedeuten?
Falls die neue Verfassung am 25. Januar 2009 angenommen wird, bedeutet das einen großen Erfolg, ganz ehrlich, nicht nur für mich, sondern für alle Bolivianer und Bolivianerinnen. Es wäre ein Schritt hin zu einem „guten Leben“ in Bolivien.
Und was würde das, Ihrer Meinung nach, auch angesichts der neuen Verfassung Ecuadors, für Lateinamerika bedeuten? Könnte das der Anfang vom Ende des Neoliberalismus auf dem Kontinent sein?
Nun ja, Bolivien und Ecuador sind ja gerade dabei, ihre eigenen Verfassungen in den jeweiligen Verfassunggebenden Versammlungen zu erarbeiten. Meiner Meinung nach sollte solch ein Prozess in allen Ländern Lateinamerikas stattfinden. Warum sollte sich diese Entwicklung nicht auch auf den ganzen Kontinent ausdehnen? Wir sind doch alle Teil der Gesellschaft, egal ob wir auf dem Land leben oder in der Stadt, da gibt es keine Ausgrenzung oder Diskriminierung. Die neue bolivianische Verfassung bezieht alle mit ein. Wir alle gehören dazu und niemand wird ausgeschlossen. Alle Bereiche spielen eine Rolle. Deswegen müssen wir auch alle an einer Neuordnung mitwirken.
Wie bewerten Sie die Änderungen am Verfassungsentwurf, die im Oktober 2008 vom Kongress vorgenommen wurden?
Nachdem die Verfassunggebende Versammlung ihre Arbeit im Dezember 2007 abgeschlossen hatte, wurde der Entwurf beim Kongress eingereicht und danach den Bürgern vorgestellt, so wie es das Gesetz vorschreibt. Trotzdem gelang es dem Kongress nicht, die Ley de Convocatoria (Gesetz zur Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung) zu erlassen. Obwohl dies zu den Aufgaben des Kongresses gehörte, um die Durchführung eines Referendums zu ermöglichen. Im Referendum wird über die Annahme oder Ablehnung der neuen Verfassung und somit auch über den Artikel 398[1] entschieden. Doch es gibt auch Widerstand, hauptsächlich von Seiten der Konservativen, deren Abgeordnete und Parlamentarier immer noch gegen eine Weiterentwicklung des Landes, also auch gegen unseren Präsidenten und die neue Verfassung, sind. Sie sträubten sich dagegen, wollten keinen Wandel. Aber irgendwie musste ja eine Entscheidung getroffen werden. Das gelang mit Hilfe sozialer Bewegungen aus allen Bereichen Boliviens, die sich zusammenschlossen und gemeinsam auf die Parlamentarier Druck ausübten, damit sie endlich zu einer Sitzung im Kongress zusammentraten und die Ley de Convocatoria verabschiedeten. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Die ersten Zeugen dieser positiven Entwicklung sind die Entwicklungshelfer aus Europa und die Repräsentanten europäischer und anderer Länder, die Teil dieses Prozesses sein durften, mit unserem Präsidenten zusammen, unter dessen Schirmherrschaft dieses Projekt ja steht. Ich danke Gott, dass wir die notwendige Geduld und Behutsamkeit aufgebracht haben. Nur so ist es uns gelungen, die Ehre Boliviens zu verteidigen.
Wird mit den einschneidenden Veränderungen (die Amtszeit des Präsidenten und die Nichtrückwirkung des Referendums auf die Obergrenze von Landbesitz betreffend – Einfügung der Redaktion) nicht das, was von sozialen und indigenen Bewegungen in der „agenda de octubre“[2] erreicht wurde, beeinträchtigt? Und werden mit der neuen Verfassung nicht antineoliberale Tendenzen geschwächt?
Das rückwirkende Gesetz bleibt natürlich ein Diskussionspunkt, auch wenn es schon einige Artikel gibt, die formal geändert wurden, aber nicht inhaltlich. Zum Thema der Wiederwahl des Präsidenten können wir noch nicht genau sagen, was in dieser Frage entschieden wird. Das, was uns im Moment interessiert, ist die Entscheidung des gesamten bolivianischen Volkes: die Verabschiedung der Ley de Convacatoria und die Annahme dieser neuen bolivianischen Verfassung durch ein Referendum. Wir hoffen, dass diese Verfassung angenommen wird.
Eines der wichtigsten Themen in Bolivien ist die Verteilung von Land. Die Regierung will unproduktives (und nur zu Spekulationszwecken genutztes) Land verstaatlichen. Wird es mit der neuen Verfassung „Enteignungen“ geben?
Nein, es handelt sich hierbei nicht um eine „Enteignung“ im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um eine Rückgabe an den Staat. Boden, welcher keine sozialökonomische Funktion erfüllt, wird an den Staat zurückgegeben. Und der Staat wiederum gibt ihn denen, die selbst kein Land besitzen. Wenn es Grundbesitzer oder Unternehmer gibt, die die sozialökonomische Funktion erfüllen, wird dies natürlich berücksichtigt. Um das einschätzen zu können, wird es in der Verfassung den Artikel 398 geben, über den im anstehenden Volksentscheid abgestimmt wird. Es geht darum, per Gesetz zu beschließen, wie viele Hektar ein Grundbesitzer oder Großgrundbesitzer sein Eigen nennen darf. In Übereinstimmung mit dem in der neuen Verfassung verankerten Artikel wird über diesen Punkt im Referendum abgestimmt.
In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass nicht alle politischen und sozialen Kräfte im Land dem Projekt der Neugründung Boliviens zustimmen. Es wurde sogar mit Gewalt auf die bevorstehenden Veränderungen reagiert (zum Beispiel in Santa Cruz oder in Pando). Einige befürchten, dass die neue Verfassung einen Verlust an Macht, Einfluss und Besitz bedeuten könnte. Wie sehen Sie die derzeitige Beziehung der politischen Kräfte Boliviens zueinander?
Die traditionellen Parteien, die keine Veränderungen wollten, haben sich, kurz nachdem der positive Ausgang des Referendums, mit 67 % der Stimmen für die Möglichkeit zur Wiederwahl unseres Präsidenten feststand, erhoben. Die Parteien organisierten sich, um der Regierung die Stirn zu bieten. In diesem Zusammenhang kam es zu dem Massaker in Pando, in dessen Folge auch der ehemalige Präfekt Pandos, Leopoldo Fernández, verhaftet wurde. Trotz dieses blutigen Ereignisses hat die Bevölkerung positiv entschieden. Auch die Parteien haben zugestimmt. Daher mussten sich alle einigen. Es gibt vier Parteien im Kongress: die PODEMOS, die MNR, die UN und die MAS. Deshalb trafen sie eine Vereinbarung, um den Auftrag des bolivianischen Volkes zu erfüllen. Die, die zustimmen wollen, werden am 25. zustimmen. Die, die zur Annahme der Verfassung Nein sagen wollen, werden Nein sagen. Wir werden also am 25. Januar endlich wissen, ob es eine neue Verfassung geben wird. All jene, die mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftragt sind, werden natürlich mit Ja stimmen. In meiner Verantwortung als Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung liegt es, die Umsetzung der Verfassung zu gewährleisten und für den Aufbau der notwendigen Institutionen in allen Teilen Boliviens zu sorgen. Es wird eine sehr große Herausforderung sein, für alle Mitbürger die bestmögliche Lösung zu finden. Denn genau das ist die wichtigste Anforderung an uns und an die Verfassung. In diesem Punkt sind wir uns alle einig. Doch das alles wird erst am 25. entschieden, vorher können wir nichts Genaues sagen.
In der Verfassunggebenden Versammlung wurden nicht nur die indigene Bevölkerung, sondern auch die Frauen in den politischen Prozess mit einbezogen. Sie selbst sind ja als Frau Präsidentin der Versammlung. Die Medien hingegen scheinen ja noch in der Hand der Männer zu sein. Sehen Sie, als (ehemalige) Mitstreiterin in verschieden Frauenrechtsorganisationen, einen Wandel in der Rollenverteilung im politischen Leben Boliviens?
Das Thema Medien ist in Bolivien ein kritisches Thema. Ob nun Frauen oder Männer, die Problematik ist die Gleiche: In dieser Branche dienen sie alle dem Imperialismus. Es hat den Anschein, dass sie alle auf der konservativen Seite stehen, also gegen unseren Präsidenten und gegen die neue Verfassung sind. Aber das betrifft nicht alle. Es gibt einige, die aus Überzeugung den demokratischen Wandel unterstützen. Und deswegen gibt es in der Medienwelt zwei Lager, die sich bekämpfen. Aus welchem Grund auch immer, einige stehen auf der Seite der Rechten, weil sie denken, das wäre von wirtschaftlichem Vorteil. Und ja, der Machismo, der spielt in diesem Bereich tatsächlich eine große Rolle, die meisten Journalisten sind männlich. Und einige verhalten sich nicht so, wie es von einem Bürger und einem Vertreter der öffentlichen Meinung erwartet wird, teilweise sind sie sogar richtig aggressiv. Man weiß nicht, worauf diese teils physischen, teils verbalen, aber immer persönlichen Angriffe zurückzuführen sind. Aber auch bei ihnen hat es in der letzten Zeit Zusammenkünfte, Analysen und Auswertungen gegeben. Die Medien waren kurz davor, ihr Ansehen und ihre Rolle als sozialer Vermittler zu verlieren. Die Bürger haben einfach erkannt, was hinter den Kulissen passierte und wie Entscheidungen getroffen wurden. Deshalb muss sich etwas ändern. Wir, die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung, haben am eigenen Leib erfahren, was für eine Macht die Medien haben. Aber irgendwie haben wir sie besiegt. Der Verfassunggebenden Versammlung und damit der neuen Verfassung wurden viele Steine in den Weg gelegt, doch trotz all dieser Hindernisse mussten wir geminsam unsere Arbeit fortsetzen. Dank dieser Einheit und dank der Mithilfe aller Kräfte und aus allen Bereichen des Landes ist es uns schlussendlich gelungen.
Sie selbst sind ja in der Provinz Chapare aufgewachsen und sind schon früh in die Cocalero-Gewerkschaft eingetreten. Welche Rolle spielt die Cocalero-Bewegung heute?
Heute ist die Cocalero-Bewegung organisiert, dank des Kokablatts (das ich gerade auch im Mund habe). Auf Grund des Kokablatts gab es viel Ungerechtigkeit und Gewalt, es herrschte ja fast der Belagerungszustand. Das musste geändert werden. Durch die Gewerkschaft wurde diesem Zustand ein Ende bereitet, denn Zusammenhalt macht stark. Ich habe ja selbst in der Gewerkschaft angefangen. Mit unserem Präsidenten zusammen ist es uns gelungen, auf dieser Basis zu arbeiten. So hat es Evo Morales letztendlich auch zum Präsidenten gebracht. Deswegen bleibe ich auch weiterhin selbst Cocalera und lebe übrigens auch weiterhin in Santa Cruz. Für mich war die Wahrheit immer das Wichtigste. Ich habe viel Erfahrung als Gewerkschaftlerin, habe in meinem Leben schon viel erlebt und durchgemacht und kämpfe für die Wahrung der Menschenrechte, für die wir, also Männer und Frauen gemeinsam, so hart gekämpft haben.
Wenn ich mich nicht irre, gibt es in der neuen Verfassung nur einen Artikel bezüglich der Produktion von Koka. Warum?
Das Koka-Thema ist ein schwieriges…. Was für eine Art Artikel könnte es dazu denn geben? Alle Fragen zum Kokablatt werden mittels eines einzigen Artikels verfassungsmäßig geregelt. Und das ist es, was die bolivianischen Koka-Produzenten wollten. Das Ergebnis dieser Neuerung wird der Beginn einer Koka-Industrie sein. Es wird einen Absatzmarkt für Koka geben, denn Koka ist ja auch eine Heilpflanze. Was gibt es noch dazu zu sagen? Warum müssen mehrere Artikel zu diesem Thema in der Verfassung stehen, wenn dieser Artikel nur die Grundlage eines Gesetzes bildet, das dann genauere Bestimmungen enthalten wird?
Eine letzte Frage: Welche Rolle spielt die Frau im modernen Bolivien? Sind Frauen heute aktiver Teil des politischen Lebens?
Ja, sicher. Obwohl der Frauenanteil in politischen Ämtern nach den Rechtsvorschriften der aktuellen Verfassung nur bei 30 % liegen darf. Das ist zumindest das, was in der Verfassung steht. Bei uns auf der Ebene der Gewerkschaft mit politischem Instrument, Movimiento al Socialismo, ist der Frauenanteil auf 50 % festgelegt. Frauen und Männer sind im Großen und Ganzen zu gleichen Teilen vertreten. An den Kommunalwahlen haben wir auch schon teilgenommen. Bei den allgemeinen Wahlen wurden auch Frauen als Abgeordnete, Senatorinnen, Bürgermeisterinnen und Ministerinnen gewählt. In der neuen Verfassung ist dieses Recht fest verankert. Man sagte sich: Es kann nicht rechtens sein, dass die Frauen immer noch benachteiligt werden. Frauen und Männern stehen die gleichen Rechte zu. Also wurde für Gleichberechtigung gesorgt. Das Motto ist nun: 50/ 50, oder Hälfte/ Hälfte. Es kann auch vorkommen, dass der Anteil der Frauen 70 % beträgt und der Anteil der Männer nur 30 % oder wie schon gesagt 50 zu 50. Die neue Verfassung steht für Gleichberechtigung.
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[1] Artikel 398 beinhaltet das Verbot des Großgrundbesitzes (latifundio) und der doppelten Schenkung. Im Referendum vom Januar 2009 wurden 5.000 Hektar als Höchstgrenze festgelegt. Als latifundio gilt jener Landbesitz, der nicht produktiv genutzt wird, der keine soziale ökonomische Funktion erfüllt und auf dem Formen von Zwangsarbeit angewandt werden.
[2] Als „agenda de octubre“ wird der politische Forderungskatalog der sozialen Bewegungen Boliviens von Anfang Oktober 2003 bezeichnet. In den Auseinandersetzungen mit der neoliberalen Regierung von Sánchez de Lozada wurde von den aufständischen Massen die Umsetzung eines Minimalprogramms eingefordert, das als kleinsten gemeinsamen Nenner folgende Punkte umfaßte:
1. Aufhebung bzw. Neufassung des 1996 verabschiedeten Gesetzes über die Kohlenwasserstoffe (in erster Linie Erdgas);
2. Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung;
3. Ablehnung des Beitritts zur geplanten Amerikanischen Freihandelszone (FTAA/ ALCA) bzw. Forderung einer erneuten Agrarreform (zu diesem Punkt finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben).
In der Endphase der auch als „Gaskrieg“ bekannt gewordenen Auseinandersetzungen trat zunehmend die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung in den Vordergrund. Nach dreiwöchigen Blockaden und einem elftägigen Generalstreik wurde Sánchez de Lozada schließlich am 17. Oktober zur Amtsaufgabe und zur Flucht nach Miami gezwungen. Bis zum Amtsantritt von Evo Morales, der die „agenda de octubre“ zur Grundlage seines Regierungsprogramms machte, blieb diese die zentrale Plattform der sozialen Bewegungen.
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Das Gespräch fand am 01.11.2008 in Mannheim statt. Die Originalversion auf Spanisch findet sich hier.
Übersetzung aus dem Spanischen: Franziska Junge
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, ssc