Der Machtdiskurs der Migrationspolitik ist in Deutschland geprägt von einer ständigen Problematisierung. Obwohl Deutschland einen verschwindend geringen Prozentsatz der Geflüchteten aufnimmt im Vergleich zu etwa afrikanischen Ländern (und hierbei sei erwähnt, dass es sich nicht um eine verhandelbare Option, sondern um mehrere Menschenrechte gleichzeitig handelt, die durch eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden gewährleistet werden sollen), werden von Regierungsvertreter*innen im verallgemeinerten Kontext immer wieder Worte wie „Flüchtlingskrise“ oder „Obergrenzen“ in den Mund genommen. Wohin eine solche Rhetorik im schlimmsten Fall führen kann, sieht man gerade am Beispiel der USA, deren Demokratie-Glaubwürdigkeit als oligarchische, nicht mehr nur angehauchte, sondern tatsächlich autoritäre Regierungsführung den Bach runtergeht. Es gibt aber auch Hoffnung im Bereich Migrationspolitik und eine Verbesserung der Einstellung von Aufnahmegesellschaften, begleitet von tatsächlicher Erleichterung des alltäglichen Lebens der Geflüchteten und dadurch konstruktivem, lösungsorientiertem Zusammenleben. Im Folgenden, zwei kontrastreiche Beispiele, übersetzt aus der chilenischen Zeitschrift El Clarín de Chile.
Die Redaktion
Trump droht: „USA soll zum Razzienland werden“[i]
In der vergangenen Nacht ordnete die Bürgermeisterin von Los Ángeles, Karen Bass, eine nächtliche Ausgangssperre in einem Teil des Stadtzentrums an, um Verwüstungen und Vandalismus zu stoppen.
Die militarisierten Angriffe gegen Migrant*innen und diejenigen, die sich für sie einsetzen, sind eine direkte Folge der Aufforderung aus dem Weißen Haus, Razzien nicht nur bei Kriminalität einzusetzen, sondern auch gezielt gegen alle Migrant*innen ohne Papiere allerorts auszuweiten. Vor diesem Hintergrund erklärte Präsident Donald Trump am Dienstag, er würde im ganzen Land genauso vorgehen wie er es in der Stadt in Kalifornien getan hatte.
Der Befehl, Großrazzien auch gegen Menschen ohne Papiere zu richten, war eine Folge davon, dass die Trump-Regierung an dem unerfüllten Wahlversprechen gescheitert war, Massenabschiebungen von „ausländischen Kriminellen“[ii] auszuführen.
Angesichts dieses formvollendeten Misserfolgs, machte der Berater des Präsidenten, Stephen Miller, der Weiße-Hauseigene Konstrukteur der anti-migrantischen Agenda, seiner Frustration Luft. Er suchte den Verwaltungssitz des Immigration and Customs Enforcement (ICE) auf.
„Geht raus und bringt diese illegalen Ausländer hinter Gitter“, wies Miller die Führungskräfte des ICE an. Laut eines Berichts des The Wall Street Journal habe Miller keine Listen von Kriminellen ohne Papiere erstellen lassen, sondern angeordnet, Home Depot und Umgebung aufzusuchen – dort wo sich Tagelöhner*innen versammeln, in der Hoffnung auf einen Arbeitseinsatz – ebenso die Selbstbedienungsläden 7-Eleven. In der besagten Sitzung, akzeptierte die Chefetage des ICE diesen Auftrag und so kam es zu den aggressivsten und ausgedehntesten Razzien an Arbeitsplätzen, Parkplätzen, die in Verbindung mit Tageslohnarbeit stehen und Einwanderungsgerichten. Miller legte dreitausend Festnahmen pro Tag als Ziel fest.
Als die Proteste in Städten wie Los Angeles, Chicago, Phoenix und New York ausbrachen, antwortete Trump mit der Drohung, die Einsatzkommandos zu verschärfen und wärmte wieder seine alte Behauptung auf, der er sich in der ersten Amtszeit bedient hatte, nämlich, dass die Welt unter den Regierungen der Democrats aus den Fugen geraten wäre, weil sie mit ihren Wohlfahrtsmaßnahmen für Immigranten[iii] „gewalttätige Kriminelle“ beherbergen würden.
Die spannungsvolle, aber im Allgemeinen friedliche Antwort in Los Angeles gegen die von Trump angeordneten Razzien wurde als Ausrede für die militärischen anti-migrantischen Ausschreitungen benutzt.
Auf die Frage hin, weshalb er bis zu viertausend Truppen der Nationalgarde und siebenhundert Marinesoldaten entsende, antwortete Trump am vergangenen Dienstag, er würde ein Desaster, ja ein scheinbar geplantes Chaos stoppen […]
Einige Medien zählten allein zwischen Montag und Dienstag in Städten im ganzen Land mindestens 25 Demonstrationen – einige im zweistelligen Bereich, andere wiederum mit Tausenden von Teilnehmer*innen -, so wird bei NBC News berichtet. Die Proteste in Los Angeles, San Francisco, San Diego, Atlanta, Chicago, Las Vegas, Dallas, San Antonio, Portland, Charlotte, Philadelphia, Washington und New York verliefen, mit Ausnahme einiger weniger Einzelpersonen, alle friedlich.
Im Big Apple versammelten sich Hunderte von Menschen neben dem Bundesgebäude, in dem sich die ICE-Büros und Einwanderungsgerichte befinden, und skandierten „ICE, raus aus New York“. Sie kündigten an, dass sie in dieser Woche täglich wiederkommen würden.
Der Gouverneur von Kalifornien, Gavin Newsom, bekundete, dass die Entscheidung des Präsidenten, die Nationalgarde zu entsenden, nicht nur illegal sei, sondern damit der Ausbruch von Krise und Gewalt in Los Angeles provoziert würde. Dies seien die Handlungen eines Diktators, nicht eines Präsidenten, so Newsom in den sozialen Medien. […]
Es ist nicht klar, ob Trump seine Aggressionskampagne weiter durchziehen kann, nachdem Berichte über Gewalttaten von Seiten der Behörden aufgetaucht sind, darunter Journalist*innen, die durch Gummigeschosse verletzt wurden, und über Abgeordnete der Bundesstaaten, denen der Zutritt zu Gefängnissen zum Zwecke der Überprüfung der Haftbedingungen verwehrt wurde.
Migration in Chile – Mehr Fakten, weniger Vorurteile[iv]
Inmitten eines stickigen politischen Klimas, das von alarmierten Diskursen und verzerrten Ansichten über die Migration geprägt ist, hat die Stiftung porCausa Chile einen neuen Bericht herausgegeben, der die Realität der Migration im Land gründlich und faktenbasiert beleuchten soll. „Eine statistische vergleichende Fotografie“, von Patricia Sampedro, Diego Chaparro und Gonzalo Fanjul, bietet ein umfassendes und humorvolles Porträt eines Phänomens, das eher instrumentalisiert als verstanden wurde.
Im Jahr 2024 ist Chile das Zuhause von 1,6 Millionen Migranten – das sind mehr als acht Prozent der Bevölkerung. Sie leben vor allem in der Región Metropolitana. Der Anteil liegt zwar unter dem OECD-Durchschnitt (14 Prozent), doch das Wachstum ist rasant: Die Zahl der Migranten hat sich in weniger als zehn Jahren verdreifacht. Grund dafür ist vor allem die Krise in Venezuela und die Wahrnehmung Chiles als relativ stabiles Land mit Chancen in der Wirtschaft.
Abgesehen von allgemeinen Daten, geht der Bericht auch in die Tiefe und untersucht acht wichtige Dimensionen: Migrationsströme, Verteilung, Irregularität, Armut, Wohlfahrt, Asyl, Sicherheit und alternde Bevölkerung. Das Ergebnis ist eindeutig: Migration ist nicht nur kein Problem, sondern könnte ein entscheidender Teil der Lösung für die strukturellen Herausforderungen des Landes sein.
“Irreguläre Migration”[v]: Ein kontrolliertes Phänomen, keine Krise
Ein Aspekt, der in der öffentlichen Debatte mit am häufigsten verzerrt dargestellt wird, ist die irreguläre Migration. Dem Bericht zufolge haben 17,5 Prozent der Migrant*innen in Chile einen irregulären Status. Die Zahl ist geringer als in Nachbarländern wie Peru oder Costa Rica. Die seit 2018 geförderten Verfahren zur Regularisierung haben sich als wirksam erwiesen, auch wenn die Hindernisse beim Visazugang einige Migrant*innen weiterhin dazu zwingen, über nicht zugelassene Wege einzureisen.
Armut und Verwundbarkeit, aber auch Resilienz
Die soziale Benachteiligung migrantischer Haushalte ist eine spürbare Realität:
15,3 Prozent leben in multidimensionaler Armut. Besonders betroffen sind Kinder. Die Daten zeigen jedoch auch, dass sich die Lebensbedingungen der Migrant*innen nach einigen Jahren in der Regel erheblich verbessern, was eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Integration und zur Überwindung der Armut beweist.
Glücklichsein im Gegensatz zu gesellschaftlicher Ablehnung
Eine der erstaunlichsten Enthüllungen des Berichts ist, dass trotz aller Schwierigkeiten 80 Prozent der Migranten angeben, in Chile bleiben zu wollen und die Gastfreundschaft des Landes zu schätzen. Im Gegensatz dazu sind 86 Prozent der chilenischen Bevölkerung der Meinung, dass es „zu viele“ Migrant*innen gäbe. Eine Wahrnehmung, die durch Falschinformationskampagnen und moralische Panikmache genährt wird und wenig mit der Realität zu tun hat.
Migration und Sicherheit: Gefährliche Mythen
Die Assoziation zwischen Migration und Kriminalität wurde von politischen Kreisen ausgenutzt, um Gesetzesverschärfungen und repressive Kontrollen zu rechtfertigen. Die Daten zeigen jedoch, dass die Kriminalitätsrate der Migrationsbevölkerung demografisch betrachtet proportional niedriger ist. […]
Asyl: Die große Lücke beim chilenischen Staat
Auf der anderen Seite zeigt der Bericht auf, wie prekär das Asylsystem in Chile ist: Weniger als drei Prozent der Anträge werden angenommen, eine der niedrigsten Quoten in ganz Lateinamerika. Administrative Hürden, bürokratische Zähflüssigkeit und offensichtliches politisches Desinteresse haben dazu geführt, dass dieses Recht [auf Asyl] fast keine praktische Anwendung findet.
Zukünftige Demografie und die Rolle der Migration
Mit einer historisch niedrigen Geburtenrate (1,58 Kinder pro Frau) und einer schnell alternden Bevölkerung steht Chile vor einem „demografischen Winter“, der die Nachhaltigkeit des Rentensystems und der Arbeitskraft bedroht. Ein gutes Migrationsmanagement kann ein strategischer Hebel sein, um auf diese Herausforderung zu reagieren.
Gonzalo Fanjul, einer der Autor*innen des Berichts, betont: „Chile hat immer noch die Möglichkeit, eine Migrationspolitik zu entwickeln, die auf eigenen Interessen und auf rationalen Daten und nicht auf verzerrten Wahrnehmungen beruht“. Dazu ist es unabdingbar, die politische Instrumentalisierung von Migration als Sündenbock für alle Übel hinter sich zu lassen und einen modernen, effektiven und respektvollen Umgang mit den Menschenrechten an den Tag zu legen.
Die Aktionswoche, die porCausa Chile vom zweiten bis siebten Juni organisiert hat, zielt genau darauf ab: Die öffentliche Debatte über Migration auf der Grundlage von Fakten, verantwortungsvollem Journalismus und Menschenrechten neu zu gestalten. Ein dringender Dialog in einem Land, das, wie so viele andere auch, mit der Migration nicht vor einem Problem, sondern vor einer Chance steht.
Original-Beiträge aus El Clarín de Chile vom 11.06.25. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.
Übersetzung aus dem Spanischen: Uta Hecker
Bildquelle: [1] Quetzal-Redaktion, mzilli
[i] Jim Carson und David Brooks (La Jornada) in: El Clarín de Chile, Ausgabe vom 11. Juni 2025
[ii] Anführungsstriche von der Übersetzerin hinzugefügt
[iii] Im Originaltext wird der, wahrscheinlich im politischen US-Kontext häufiger gebrauchte Begriff „Immigrant“ verwendet. Ich distanziere mich von dem Begriff und habe ihn im neutralen Kontext durch „Migrant*in“ ersetzt, sofern dabei keine andere Bedeutung impliziert war.
[iv] in: El Clarín de Chile, Ausgabe vom 11. Juni 2025
[v] Anführungsstriche von mir hinzugefügt; der Begriff erscheint mir in sich auch fragwürdig. (Anm. d. Übs.)