Dossier: Guatemala – Der Fall Xamán
Editorial
Das folgende Dossier ist dem Film “Auf halbem Weg zum Himmel” gewidmet. Dieser berichtet über den jahrelangen Kampf, den die Einwohner von “La Aurora 8 de Octubre” im Norden Guatemalas geführt haben, um die Schuldigen des an ihnen begangenen Massakers vor Gericht zu bringen.
LA AURORA 8 DE OCTUBRE (Die Morgenröte des 8. Oktober) ist ein Dorf im Norden Guatemalas – und das Resultat eines Traumes: Nach zwölf Jahren in mexikanischen Flüchtlingslagern gelingt es 200 Bauern-Familien einem Großgrundbesitzer mit Hilfe eines Staatskredites seine Finca abzukaufen. Auf einer Lichtung im Regenwald beginnen die Rückkehrer 1994 ihre Zukunft aufzubauen.
Sie haben lange diskutiert, ob sie den Schritt wagen sollen, denn noch herrscht Krieg in Guatemala. Anfang der 80er Jahre waren Hunderte von Mayadörfern im Zuge der sogenannten „Aufstandsbekämpfung“ dem Erdboden gleichgemacht worden. Die meisten ihrer 200.000 Toten mußten die Flüchtlinge in geheimen Massengräbern zurücklassen. Aber nun sind die ersten Friedensabkommen zwischen Regierung und Guerilla unterschrieben. Und der Staat gibt Garantien: Bewaffnete dürfen das Gemeindegebiet der Rückkehrer nicht betreten.
Ein Jahr lang scheint alles ruhig. Doch als die Bewohner von LA AURORA 8 DE OCTUBRE am 5. Oktober 1995 ein großes Fest zum ersten Jahrestag ihrer Dorfgründung vorbereiten, taucht plötzlich eine schwerbewaffnete Militärpatrouille auf. Ihre Mission: „Zivile Angelegenheiten und psychologische Operationen.“ Ein paar Stunden später sind elf Dorfbewohner tot, darunter zwei Kinder. Über dreißig sind verletzt.
Diesmal fliehen die Dörfler nicht über die Grenze nach Mexiko. Sie bieten all ihre Kräfte auf und schaffen es, einen Prozess anzustrengen. Auch der internationale Druck ist groß: Die Militärgerichtsbarkeit wird für ganz Guatemala abgeschafft. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes müssen sich Soldaten und ein Offizier vor einem zivilen Gericht verantworten. Nicht wegen fahrlässiger Tötung oder individuell motiviertem Mord, sondern wegen eines Staatsverbrechens: außergerichtliche Hinrichtung. Das Dorf wird auf eine harte Probe gestellt: Zehn Jahre dauert der mühsame und bedrohliche Weg durch das Labyrinth der Justiz. Ein exemplarischer Weg – für die ganze Welt.
Eine Reise durch die Geschichte und durch den Schmerz
Weitere Artikel
- Chronologie und historischer Kontext des „Xamán“-Prozesses (Oktober 2009)
- Wiederkehr des Alptraums – Das Massaker von Xamán (Dezember 1995)
Glossar
Folgt in Kürze.
Natividad Sales Calmo – Tod und Leben in Guatemala
Im Juli 2009 war Natividad Sales Calmo (Nati) zur Premiere des Dokumentarfilms „Auf halbem Weg zum Himmel“ in Deutschland zu Gast. In Leipzig sprachen mit ihr für den QUETZAL: Peter Gärtner, Andrea Lammers (la) und Patrice Castillo. Ihr Leipziger Testimonio , das von Andrea Lammers übersetzt und redaktionell bearbeit wurde, geben wir ungekürzt in deutscher Übersetzung wieder.
Nati wird 1961 in San Idelfonso, Ixtahuacán (Departement Huehuetenango) im Hochland Guatemalas geboren; ihre Kindheit erlebt sie überwiegend auf den Kaffeeplantagen der Südküste, wo ihre Eltern arbeiten. Sie ist heute Bäuerin und Weberin, bei Bedarf auch Hebamme und Leichenwäscherin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie zwei Töchter und einen Sohn. Sie spricht Mam, Q’anjobal und Spanisch.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre siedelt Nati mit ihren Eltern und Geschwistern in den Ixcán im nördlichen Tiefland Guatemalas über. Ihr Vater wird führendes Mitglied der Kooperativenbewegung um den US-amerikanischen Pater Guillermo Woods; drei Jahre lang kann Nati die Grundschule in Xalbál besuchen, danach muss sie als Unterstützung für die kranke Mutter und die jüngeren Geschwister zuhause bleiben. Sie versucht, durch Fernkurse mehr Bildung zu erlangen. Nach Entführungen und ersten Erschießungen von Führungspersonen der Kooperativen durch die Armee formiert sich breiter Widerstand im Ixcán. Die Armee antwortet mit Massakern gegen die Zivilbevölkerung. Natis Familie flieht zu Beginn der achtziger Jahre, nachdem die Nachbarsfamilie in ihrem Haus lebendig verbrannt worden ist.
Nati überlebt im Regenwald und arbeitet als Gesundheitshelferin für die zivilen Widerstandsdörfer und die versprengten Gruppen Flüchtender, die auf der Suche nach einem Weg nach Mexiko sind; auf der Flucht Richtung Grenze wird sie bei einem Militärangriff schwer verletzt und bleibt ein Jahr bettlägerig in einem Versteck bei einer Heilerin. Schließlich glückt das Zusammentreffen mit ihrer Familie in einem Flüchtlingslager im mexikanischen Bundesstaat Quintana Roo. Sie heiratet, bekommt trotz großer Komplikationen durch ihre Kriegsverletzung ihre erste Tochter und engagiert sich für die Flüchtlingsfrauenbewegung „Mama Maquín“. 1993 kehrt sie mit dem zweiten Rückkehrerblock nach Guatemala zurück und siedelt sich mit ihrer Familie 1994 auf dem ehemaligen Großgrundbesitz „Xamán“, der neuen Gemeinde „La Aurora 8 de Octubre“, in Alta Verapaz an. Am 5. Oktober 1995 wird sie von einem Geschoßfragment oder einem Granatsplitter gestreift, als eine Militärpatrouille im Ortszentrum ein Massaker begeht. Ihr Baby, das sie im Tragtuch auf dem Rücken trägt, wird davon verletzt. Ihr vierjähriger Sohn Gerardo fällt zu Boden und die in Panik vor den Soldaten flüchtenden Dorfbewohner laufen über ihn hinweg. Von 1996 bis zum Urteil 2004 ist Nati Zeugin im Prozess gegen die Militärpatrouille. 2004 stirbt Gerardo an den Spätfolgen seiner Verletzungen.
Ein Testimonio* in drei Teilen
* Aus meiner Sicht ist ein Testimonio eine individuelle, sehr persönliche Rekonstruktion zurückliegender Ereignisse, Wahrnehmungen und Gefühle – in einem bestimmten Moment und einer bestimmen Sprechsituation – also keine Geschichtsschreibung und auch keine sichere Quelle für eine solche. Stattdessen erhalten wir einen sehr lebendigen und detailreichen Einblick in einen stets veränderlichen subjektiven Sinngebungsprozess. Besonders faszinierend und charakteristisch für Nati, und vielleicht auch kennzeichnend für ihre kulturelle Zugehörigkeit ist, dass in ihrer Rede imaginierte bzw. rekonstruierte äußere Dialoge und innere Monologe nahtlos ineinander übergehen. Ich habe versucht, tendenziell eher „äußere“, erinnerte Dialoge durch das Setzen von Anführungszeichen kenntlich zu machen und innere Monologe in den Sprachfluß zu integrieren, kann mich aber an der einen oder anderen Stelle durchaus auch einmal geirrt haben. (la)
Auf halbem Weg zum Himmel
Dokumentarfilm – Deutschland 2008 – 108 Minuten
Spanisch mit deutschen Untertiteln
Eine Koproduktion von pop tutu film Leipzig mit ZDF/Das Kleine Fernsehspiel (Redaktion: Claudia Tronnier)
- Regie: Andrea Lammers & Ulrich Miller
- Kamera: Lars Barthel
- Ton: Nic Nagel
- Montage: Dörte Völz-Mammarella
- Sounddesign: Markus Böhm
- Originalmusik: Barre Phillips, Evan Parker, Lawrence Casserley
- Soundtrack: Doug Martsch, Toni Goth, Francisco Choc Sen., Tiburcio Cuz Max & Band
- Produzenten: Gisela Wehrl & Ulrich Miller
- Gefördert von: BKM, eed/EZEF, mdm
- Website zum Film: Auf halbem Weg zum Himmel