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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Zinnbarone – Ihr Aufstieg und Fall

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Um etwa 1900 löste Zinn Silber als wichtigste Devisenquelle Boliviens ab. Es kam zu tiefgreifenden Veränderungen in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft. Eine neue Elite bildete sich heraus, die ihren Reichtum nunmehr aus der Förderung von Zinn bezog. Vor allem drei Namen bestimmten fortan die Entwicklung des Landes: Simón I. Patiño, Moritz Hochschild und Carlos Victor Aramayo – die Zinnbarone.

Die wichtigste und überragende Person war Simón Ituri Patiño. Geboren am 01.06.1862 im Departement Cochabamba wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf. Über sein frühes Leben ist wenig bekannt. Es gibt gesicherte Hinweise, dass er als Handelsgehilfe in einem Geschäft für Bergbauausrüstung, der Firma Hermann Fricke & Co, in Oruro beschäftigt war. Ein Gerücht besagt, ein Kunde habe, als er kein Geld zum Zahlen bei sich trug, Patiño eine Besitzurkunde über eine Mine überreicht. Dieser hätte den Tausch akzeptiert und wäre von seinem Chef entlassen worden. Dann machte sich der neue Bergwerkbesitzer auf zu seinem Stollen La Salvadora im Berg Llallagua (Departement Potosí) – und fand eine sprichwörtliche Goldgrube in Form eines reichen Zinnvorkommens.

Eine andere Version besagt, dass der Besitzer der Mine La Salvadora, Sergio Oporto, neues Kapital benötigte, um weiter das Bergwerk betreiben zu können. Als der Sohn des Inhabers von Fricke & Co. weitere Kredite oder gar Investitionen ablehnte, bot Patiño an, Geld vorzuschießen und eine Gesellschaft Patiño – Oporto zu gründen. Er würde bei Fricke & Co. weiter das Metall verkaufen und einen (geringen) Kapitalfluss garantieren, während Oporto für den Erzabbau verantwortlich bliebe. Oporto akzeptierte, gab aber drei Jahre später auf. Am 16.08.1897 übernahm Patiño sämtliche Anteile von Oporto an der Mine La Salvadora. Er kündigte bei seinem alten Arbeitgeber, um per Hand in seiner Mine nach Mineralien zu suchen.

Fest steht: 1900 stieß Patiño schließlich auf eine Zinnader, die sich bald als eine der reichsten der Welt entpuppte. Was bis dato wertlos erschien, wurde nun schnell der Grundstein für seinen späteren Reichtum. Steigende Zinnpreise auf dem Weltmarkt ermöglichten Patiño, andere Bergwerke aufzukaufen und Konkurrenten auszuschalten. Bereits 1910 besaß er mit den Minen Llallagua, Catavi, Siglo XX, Huanuni und Uncía einen mächtigen Bergbaukomplex. Uncía wurde der Hauptsitz des aufstrebenden Magnaten. 1911 baute er von hier aus eine Eisenbahnlinie nach Machacamarca, von wo aus die Bahnlinien nach Oruro und später auch ins Minenzentrum Catavi verliefen. Uncía war auch der Ort, an dem sich 1923 die erste bolivianische Gewerkschaft gründete und wo am 01.05.1923 ein Streik blutig von den Militärs niedergeschlagen wurde.

Doch der Magnat beschränkte sich nicht nur auf die Förderung von Zinn mit der neuesten Technologie. Er schuf eine vertikale Wertschöpfungskette. Bereits 1911 erwarb er die deutsche Gießerei Zinnerzwerke Hamburg-Wilhelmsburg und wenige Jahre später die größte Zinneinschmelzanlage der Welt, die Williams, Harvey & Co. in Liverpool. Außerdem ging er eine Partnerschaft mit der National Lead Company of the United States ein, damals der weltweit zweitgrößte Zinnachfrager. 1924 ließ er zudem die Patiño Mines and Enterprises, Consolidated, Incorporated mit einem Wert von 50 Millionen US-Dollar in Delaware registrieren. Er kontrollierte in jenem Jahr 50 Prozent der bolivianischen Zinnproduktion und beschäftigte 10.000 Arbeiter. Patiño bestimmte maßgeblich, was in Bolivien geschah. 1926 wurde er zudem Botschafter seines Landes in Paris, wo er schon längere Zeit wohnte. Nach Information aus einem Artikel der Time aus jener Zeit soll er sich sogar ein eigenes Botschaftsgebäude gekauft haben.

Wie hoch Mitte bis Ende der 1920er Jahre seine Einnahmen waren, lässt sich nur abschätzen. Die durchschnittlichen Kosten der Zinnförderung lagen damals bei 350 bis 800 US-Dollar pro Tonne. Der Weltmarktpreis für Zinn belief sich 1926 auf 1400 US-Dollar pro Tonne. Bei einer ungefähren Produktion von 20.000 Tonnen pro Jahr ergäben sich somit Gewinne zwischen 12 Millionen US-Dollar und 21 Millionen US-Dollar nur aus der Produktion. Durch die vertikale Wertschöpfungskette kommen noch Einnahmen aus der Zinnverarbeitung hinzu.

Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise verfielen ab 1929 die Weltmarktpreise für Zinn. Sie lagen 1930 nur noch bei 550 US-Dollar pro Tonne. Patiño setzte sich daher zusammen mit anderen Zinnkönigen für die Gründung eines Zinn-Kartells, dem International Tin Reduction Scheme, ein. Um dem Überangebot der Billigproduzenten (Nigeria und Malaysia) entgegenzutreten, musste die Förderung gedrosselt werden. Auch in Bolivien sank die Produktion von 47.000 Tonnen im Jahr 1929 auf 14.700 Tonnen im Jahr 1932. Viele kleine Firmen gingen bankrott. Einen Großteil von ihnen kaufte Patiño, der über genügend Kapitalreserven verfügte, auf, wenngleich sich seine Förderung von 20.800 Tonnen (1929) auf 8000 Tonnen (1932) bedeutend verringerte.

In diesem Zeitraum, zwischen 1932 und 1934, stieg er zudem in großem Maße bei der British Tin Investment Corp. ein, die wichtige Zinnminen in Malaysia besaß. 1934 übernahm er schließlich für mehr als 800.000 Pfund 33 Prozent an den zehn größten malaysischen Zinnminen, die zusammen etwa das gleiche wie seine bolivianischen Minen produzierten. Wachsender Zinnbedarf und eine Erholung der Weltmarktpreise für dieses Metall, das 1933 bereits wieder bei 1189 US-Dollar und 1934 bei 1248 US-Dollar notiert war, ermöglichten ihm eine schnelle Amortisierung.

Nach dem Kauf der Minen in Malaysia, dem damals bedeutendsten Produzenten von Zinn weltweit, war er endgültig vom bolivianischen Zinnbaron zum globalen Zinnkönig aufgestiegen. Er kontrollierte 1934 etwa zehn Prozent der weltweiten Produktion. Steigende Nachfrage vor allem im Zuge des Zweiten Weltkrieges machten Patiño in den 1940ern zu einem der reichsten Männer weltweit. Allein von 1939 bis 1941 stieg seine Produktion von 7700 Tonnen auf 15.700 Tonnen. Am 20.04.1947 starb der „Zinnkönig“ in Buenos Aires.

Ein zweiter wichtiger Zinnbaron war der Deutsche Moritz (Mauricio) Hochschild. Er wurde am 17.02.1881 in Biblis geboren. Nach einem Studium des Bergbaus und der Ingenieurwissenschaften an der Bergakademie Freiberg arbeitete er als Erzkäufer in Valparaíso und übernahm die Leitung einer Kupfergrube in Argentinien. 1911 gründete er die Firma Hochschild Mining und baute sie zu einer der größten Erzhandelsfirmen Südamerikas aus. Während des Ersten Weltkriegs in Deutschland kehrte er 1919 nach Chile zurück. Er expandierte nun zunehmend auch in die Nachbarländer. Silber- und Goldabbau machten ihn zu einem der reichsten Magnaten in Peru. Schnell konnte er zudem mit dem Handel von Zinn-Erzen ein Wirtschaftsimperium in Bolivien aufbauen, wo er etwa ein Viertel der Produktion des Metalls kontrollierte. Der Aufschwung der Zinn-Industrie in den 1920ern, mit einem Wachstum von 50 Prozent in neun Jahren, machten auch Hochschild reich.

In den 1930er Jahren war er zum zweitwichtigsten Zinnexporteur Boliviens aufgestiegen – und einer der Zinnbarone geworden. Illustrativ ist der Fall der Mine Colquiri, die ihre Produktion nach umfangreichen Investitionen Hochschilds von 250 Tonnen (1935) auf 2500 Tonnen (1940) steigerte.

1951 übertrug Hochschild große Teile seines Vermögens an die Hochschild Trust and Foundation. Er kam damit knapp der Revolution und der Nationalisierung von 1952 zuvor. In Anbetracht der Tatsache, dass jedoch bereits am 13.05.1952 eine Kommission zur Überprüfung der technischen und juristischen Probleme im Zusammenhang mit einer Verstaatlichung der Minen eingesetzt worden war, dürfte er weiteres Kapital abgezogen haben. Die Enteignung im Zug der Revolution erfolgte zudem gegen Zahlung einer Entschädigungssumme (bis 1961 mehr als 8,7 Millionen US-Dollar) und auch nicht vollständig, da der Magnat mit 30 Prozent des Betriebsvermögens verblieb. Dennoch wandte sich Hochschild zunehmend von Bolivien ab. Er verstärkte sein Engagement im peruanischen Gold- und Silberhandel. Auch dehnte er seine Geschäftstätigkeit nach Brasilien, Kolumbien, in die USA und nach Europa aus. Er starb 1965 in Paris.

Der dritte bedeutende Zinnbaron war Carlos Víctor Aramayo. Er wurde am 07.10.1889 in Paris geboren. Sein Vater ist der bekannte Bergbaumagnat Félix Avelino Aramayo, Nachfahre der „Silberkönige“ gleichen Namens. Die Aramayos waren die einzigen Besitzer von traditionellen Silberminen, die frühzeitig die ökonomische Entwicklung, die dem Zinn beschieden sein würde, erkannten. Sie wurden zu den eigentlichen Pionieren bei der Ausbeutung dieses Metalls wie auch von Wolfram. Als wichtig für ihren Erfolg erwies sich zudem die Errichtung des Firmensitzes der Aramayo-Francke Company in London, was ihnen den Zugang zum europäischen Markt sicherte.

Carlos Víctor Aramayo wuchs in London auf, besuchte die Oxford University, ohne jedoch einen Abschluß zu erzielen. Vielmehr ging er mit seinem Vater zurück nach Bolivien, um fortan in dessen Firma zu arbeiten. Ab 1916 wurde er politisch aktiv. Wie kein anderer verkörperte Carlos Víctor Aramayo die Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Neben seinen umfangreichen Besitzungen an Zinnbergwerken trat er vor allem als Diplomat in Erscheinung: 1920-21 war er der Vertrauensmann der bolivianischen Regierung in Washington, 1926-34 bolivianischer Botschafter in London, 1934 Finanzminister.

Ihm gehörte die Aramayo Company, und ab 1925 stand er der Campagnie de Mines de Bolivie in Genf vor, die er von seinem Vater übernahm. Er war zudem der Eigentümer der Tageszeitung La Razón. Obwohl auch von der Weltwirtschaftskrise betroffen, verfügte die Aramayo Company 1935 über mehr als 28,8 Millionen Schweizer Franken Kapital und Reserven. Sie besaß 12.800 Hektar an Bergbaukonzessionen.

Auch Aramayos Besitzungen waren von der Nationalisierung 1952 betroffen. Da sich der Hauptteil seines Reichtums aber außer Landes befand und auch er entschädigt wurde (bis 1961 etwa vier Millionen US-Dollar), konnte er fortan seine Geschäfte von Paris aus weiter führen. Er starb 1982.

Neben den genannten drei Zinnbaronen gibt es weitere bedeutende Bergbauunternehmer im Zinn-Sektor: die Brüder Bebin, Juan B. Minchin, José Bueno, Luis Soux, die Firma Penny and Duncan, Arturo Quezada Alonso und José Enrique Soria.

Allen Zinnbaronen ist gemein, dass der bolivianische Staat wenig von ihnen profitierte. Beispielsweise zahlte Patiño 1925 etwa 900.000 US-Dollar Steuern. Sein Gewinn betrug damals 6,6 Millionen US-Dollar, was einem (Gewinn-)Steuersatz von unter 14 Prozent entspricht. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhundertes war er noch niedriger.

Gemein ist ihnen auch, dass ihr Wirken in einer Art Enklave keinerlei Effekte für die restliche bolivianische Wirtschaft aufwies. Beispielsweise beschäftigte Patiño im Boomjahr 1929 gerade einmal 6700 Arbeiter. Es gab keine Rückkopplungseffekte – und während die Zinnbarone immer reicher wurden, änderte sich die Lage der armen Bergarbeiter eher zum schlechten.


Literatur

Ayub, Mahmood Ali; Hashimoto, Hideo (1985): The Economics of Tin Mining in Bolivia, World Bank, Washington
Crespo, Alfonso (1981): Los Aramayo de Chichas. Tres generaciones de mineros bolivianos, Barcelona.
Geddes, F. Charles (1972): Patiño – the Tin King, London
Hillman, John (1988): Malaya and the International Tin Cartel, in: Modern Asian Studies 22, 2, S. 237-261.
Querejazu C., Roberto (1977): Llallagua. Historia de una montaña, Cochabamba; online: http://www.librosmaravillosos.com/llallagua/
Serrano Bravo, Carlos (2004): Historia de la mineria boliviana (siglos XVI-XX), Potosí.
Time vom 07.05.1934: World of Tin, http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,787861,00.html
Waszkis, Helmut (1993): Mining in the Americas. Stories and History, Cambridge.
Waszkis, Helmut (2001): Dr. Moritz (Don Mauricio) Hochschild (1881-1965). The Man and his Companies. A German Jewish Mining Entrepreneur in South America, Frankfurt.