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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Dezemberwahlen 2005 in Bolivien: Wie tief geht die Zäsur?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Am 18. Dezember 2005 wurde Evo Morales mit fast 54% der abgegebenen Stimmen zum neuen Präsidenten Boliviens gewählt. In einem Land, dessen Bevölkerung zwar zu mindestens 60% aus indígenas besteht, aber in seiner gesamten Geschichte noch nie von einem indianischen Staatsoberhaupt regiert wurde, stellt allein die Wahl eines Aymará und Koka-Bauern eine tiefe Zäsur dar. Sie ist ein unübersehbarer Hinweis dafür, daß sich in dem Andenland tektonische Verschiebungen vollziehen, deren Ausmaß und Auswirkungen derzeit nur schwer abzuschätzen sind. Immerhin läßt sich eines jetzt schon sagen: Anders als die Wahl von Alejandro Toledo, der ebenfalls indianischer Abstammung ist und bereits 2001 im Nachbarland Peru ins Präsidentenamt gewählt worden war, sind die Wahlergebnisse in Bolivien kein Produkt eher zufälliger Konstellationen und Ereignisse, sondern Ausdruck andauernder politischer Proteste gegen den neoliberalen Kurs der herrschenden Elite, die von einer breiten und gut organisierten sozialen Bewegung getragen werden. Analysiert man die begonnenen Veränderungen zunächst auf der Ebene des politischen Systems, dann fallen vier Aspekte ins Auge:

Erstens kann sich Evo Morales auf eine überraschend klare Mehrheit im Parlament stützen. Erstmals seit dem Beginn der Demokratisierung 1982 hat sich mehr als die Hälfte der Wähler für einen Kandidaten entschieden. Bislang lag der Rekord bei etwa 36% (Sanchez de Lozada für den MNR bei den Wahlen 1993). Der Zäsurcharakter des Wahlsieges von Evo Morales wird durch die Verbindung von indianischer Identität und linker Programmatik nachdrücklich unterstrichen In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum die vor dem Wahltermin von der Presse publizierten Umfragen bezüglich seiner Siegesaussichten weit unter den tatsächlichen Ergebnissen lagen.

Zweitens verteilen sich die Stimmen nicht mehr wie bisher fast gleichmäßig auf fünf oder mehr Parteien, sondern konzentrieren sich zu über 80% auf nunmehr zwei Parteien mit gegensätzlicher politischer Ausrichtung. Manche Beobachter sehen bereits ein Zwei-Parteien-System entstehen. Dieser Trend wiegt umso schwerer, wenn man berücksichtigt, daß vom traditionellen Parteiensystem kaum etwas übrig geblieben ist. Sowohl UN als auch PODEMOS stellen Neugründungen dar und selbst der MAS von Evo Morales hat erst 2002 wahlpolitische Relevanz erlangt. Der MNR, die älteste und bis 2002 führende Partei des Landes, ist mit den jüngsten Wahlen sogar an den Rand der Bedeutungslosigkeit gerückt.

Drittens schlägt die innere Zweiteilung des Landes nun auch wahlpolitisch deutlich durch. Während Morales im indianisch geprägten Andenhochland seine Hochburgen hat, war sein Hauptkonkurrent Jorge Quiroga („Tuto“) von PODEMOS im östlichen Tiefland, das mehrheitlich von mestizischen und „weißen“ Bolivianern besiedelt ist, Wahlsieger. Dies verschafft PODEMOS die Möglichkeit, im Senat mit dem MAS gleichzuziehen (beide Parteien stellen je 13 der insgesamt 27 Senatoren) und im Abgeordnetenhaus, in dem der MAS die Hälfte der 130 Parlamentarier stellt, mit einer starken Fraktion (45 Sitze) die Oppositionsführerschaft zu übernehmen. Damit besteht zwischen dem Wahlsieger MAS und den übrigen Parteien ein Patt, das Morales dazu zwingen wird, Koalitionen und Kompromisse einzugehen.

Viertens hat mit der erstmals durchgeführten Wahl der Präfekten der neun Departements des Landes eine Machtverschiebung zu Lasten der Zentralregierung stattgefunden. Da der MAS lediglich drei der insgesamt neun Präfekten stellen wird, ist auf dieser machtpolitischen Ebene ein starkes Gegengewicht zur künftigen Regierung zu erwarten. Nicht nur die Etablierung der Präfekten stellt wegen der noch unklaren Kompetenzverteilung einen Unsicherheitsfaktor dar, die Unwägbarkeiten werden noch dadurch verstärkt, daß drei der Präfekten von regionalen Parteien gestellt werden (siehe Anhang). Der Einfluß der MAS-Präfekten ist somit auf relativ unbedeutende Departements im westlichen Hochland beschränkt, während PODEMOS und die drei Regionalparteien sowohl den östlichen „Halbmond“ als auch die von La Paz (politisches Zentrum), Cochabamba (Kokaanbaugebiet und Hochburg von Morales) und Santa Cruz (ökonomisches Zentrum mit starken Autonomiebestrebungen) gebildete „zentrale Achse“ des Landes kontrollieren.

Wie auch immer die Bewertungen der Dezemberwahlen 2005 im einzelnen ausfallen mögen, fest steht auf alle Fälle, daß die Ära der von der nichtindianischen Elite 1985 etablierten „Paktdemokratie“ und der sie tragenden traditionellen Parteien endgültig vorbei ist. Ob der klare Wahlsieg von Evo Morales auch zur Überwindung des neoliberalen Entwicklungsmodells führen und auf dieser Grundlage die erhoffte Neugründung des bolivianischen Nationalstaats möglich sein wird, muß jedoch die Zukunft erst noch zeigen. Wie groß die Herausforderungen sind und wie sich die einzelnen Akteure ihnen zu stellen bereit sind, soll deshalb näher beleuchtet werden.

Herausforderungen und Bruchlinien

Bolivien ist nicht nur nach wie vor das ärmste Land Südamerikas, sondern zudem mehrfach -ethnisch, geographisch, ökonomisch und nun auch wahlpolitisch – gespalten, wobei sich die jeweiligen Bruchlinien größtenteils decken und sich damit in ihrer negativen Gesamtwirkung noch potenzieren. Gegenüber äußeren Einflüssen ist das Land, das – neben Paraguay – als einziges auf dem lateinamerikanischen Kontinent keinen direkten Zugang zum Meer besitzt, wegen seiner schwachen, exportorientierten, offenen Ökonomie höchst verwundbar. Nach den Hauptexportprodukten Erdgas und Sojabohnen bilden Geldüberweisungen von mehr als zwei Millionen Bolivianern, die im Ausland leben, die wichtigsten Deviseneinkünfte. In Kriegen mit seinen Nachbarn Chile, Brasilien und Paraguay hat Bolivien nach Erlangung der staatlichen Selbständigkeit 1825 mehr als die Hälfte seines ursprünglichen Territoriums verloren. Das einzige Pfund, mit dem Bolivien in seiner wechselvollen Vergangenheit wirtschaftlich wenigstens ansatzweise wuchern konnte, waren seine Rohstoffe. Nachdem die seit der spanischen Eroberung abgebauten reichen Silbervorkommen versiegt waren und die Küstenregion mit ihren großen Salpetervorkommen 1884 an Chile abgetreten werden mußte, war Zinn bis Anfang der 1980er Jahre das wichtigste Exportprodukt. Trotz seines Ressourcenreichtums blieb Bolivien während seiner gesamten Geschichte ein armes, verschuldetes und rückständiges Land. Es ist deshalb kein Wunder, wenn der erst jüngst angebrochene Erdgasboom von den meisten Bolivianern als wichtigste und zugleich letzte Chance gesehen wird, den Teufelskreis von Armut und Rückständigkeit zu durchbrechen. Die Kontrolle über die von ausländischen Firmen ausgebeuteten Erdgasvorkommen und die Verwendung der durch sie erzielten Gewinne ist für die Bevölkerung eine zentrale Frage der nationalen Souveränität. Gleiches gilt für die Auseinandersetzungen um den Anbau von Koka. Die Vernichtung der in der Kultur der Hochlandindios tief verwurzelten Pflanze ist das vorrangige Ziel des von den USA forcierten Drogenkrieges, der von den bisherigen Regierungen Boliviens mehr oder weniger stark unterstützt wurde. Aber selbst von jenen, die nicht in den Anbau und die Verarbeitung von Koka involviert sind, wird der von außen initiierte Vernichtungsfeldzug zumeist als Verletzung der nationalen Würde abgelehnt und verurteilt. Die zentralen Defizite des bislang unvollendet gebliebenen bolivianischen Nationalstaats beschränken sich nicht allein auf die Souveränitätsfrage, sondern zeigen sich ebenso auf den Problemfeldern der nationalen Identität, der territorialen Integration sowie der sozialen und politischen Inklusion. Die ethnisch, geographisch und sozioökonomisch definierte Hauptbruchlinie spaltet das Land in einen West- und einen Ostteil. Im hochgelegenen Westen Boliviens befinden sich zwar die traditionellen politischen Machtzentren des Landes (La Paz, Sucre) und dort siedelt auch die Bevölkerungsmehrheit, er ist aber ökonomisch zurückgeblieben, entspricht mit seiner vorwiegend indianischen Bevölkerung nicht den Vorstellungen des mestizischen Nation-building und verfügt kaum über eigene Ressourcen. Alle sozialen Indikatoren (Armut, Bildung, Lebenserwartung, Versorgung mit Wasser, Brennstoffen und Wohnraum) fallen hier weitaus schlechter aus als im Osten. Die auch als „Halbmond“ bezeichnete östliche Region unterscheidet sich in allen grundlegenden Merkmalen vom Hochland: Ethnisch-kulturell dominieren an westlichen Werten orientierte Einwohner mestizischer und europäischer Herkunft: Ökonomisch und demographisch handelt es sich um eine dynamisch wachsende Region, in der zudem fast die gesamten Erdgasvorräte lagern; Klima und Landschaft werden vom tropischen Tiefland geprägt; im prosperierenden Agrarsektor dominieren technisch gut ausgestatte Großbetriebe und der durchschnittliche Lebensstandard braucht den Vergleich mit lateinamerikanischen Spitzenreitern nicht zu scheuen. Zentrum des östlichen „Halbmonds“ bilden Stadt und Departement Santa Cruz. Hier bündeln sich auch alle relevanten Bruch- und Konfliktlinien des gegenwärtigen Bolivien. Ethnisch-kulturelle Abgrenzung verbindet sich mit dem Gefühl der sozialen und ökonomischen Überlegenheit und dem Bedürfnis, die Verfügungsgewalt über die nationalen Ressourcen auszuweiten und sich den politischen Entscheidungen im fernen La Paz zu entziehen. Mit der massiven Propagierung einer eigenständigen „nación camba“ durch die Unternehmer-Elite von Santa Cruz ist eine Art „Wohlstandsnationalismus“ im Entstehen begriffen, der zwar vorerst auf Autonomie setzt, weitergehenden separatistischen Gelüsten jedoch auch nicht abgeneigt scheint. Zu dem historisch „alten“ Problem der Exklusion, Diskriminierung und Ausbeutung der indianischen Bevölkerungsmehrheit, das den genetischen Strukturdefekt des bolivianischen Nationalstaats bildet, gesellt sich nunmehr der neue Abgrenzungsnationalismus des tropischen Oriente. Erst die ererbten und neuen Versäumnisse, Defizite und Defekte der Nationalstaatsbildung erklären die von den meisten Experten so vehement beklagte Institutionenschwäche des bolivianischen Staates, die durch die verheerenden Folgen des seit 1985 kontinuierlich vorangetriebenen neoliberalen Experiments massiv verschärft wird. Immerhin hatten die Architekten des neoliberalen Entwicklungsmodells 15 Jahre Zeit, ihre Vorstellung unter nahezu optimalen machtpolitischen Bedingungen umzusetzen. Herausgekommen ist dabei die weitere Schwächung des ohnehin schon schwachen bolivianischen Staates bei gleichzeitiger Verschärfung des sozialen, ethnischen und ökonomischen Konfliktpotentials. Auch das Aufflammen neuer sozialer Bewegungen seit 2000 ist in erster Linie eine logische Folge der neoliberalen Reformpolitik. Der neugewählte Präsident, selbst Protagonist der sozialen Bewegungen, steht vor der gewaltigen Herausforderung, aus einer akuten Krisen- und Konfliktsituation heraus Alternativen aufzeigen und durchsetzen zu müssen, die die nationale Identität stärken, die territoriale Integrität sichern, die soziale Integration verbessern und die politische Inklusion ausweiten helfen. Gleichzeitig mit der nicht zu unterschätzenden Gefahr des Zerfalls des bolivianischen Nationalstaats bietet die gegenwärtige Situation aber auch die Chance, dessen alte und neue Gebrechen zu überwinden, indem Nationsbildung und Stärkung des Staates endlich zusammengeführt werden.

Dynamik und Akteurskonstellation der gegenwärtigen Alternativsituation

Innerhalb der „demokratischen Ära“ (1982 bis Gegenwart) stellt der „Wasserkrieg“ von 2000 in Cochabamba einen entscheidenden Wendepunkt dar: Er eröffnete einen neuen Zyklus politischer und sozialer Kämpfe, der durch die zunehmende Mobilisierung und Koordinierung der anti-neoliberalen Kräfte charakterisiert ist und schließlich zum überwältigenden Wahlsieg von Evo Morales geführt hat. In dieser Zeit standen fünf Präsidenten an der Spitze des Landes: Ex-Diktator Hugo Banzer mußte am 6. August 2000 wegen schwerer Krankheit zurückgetreten und seinem Vizepräsidenten Jorge Quiroga bis zur turnusmäßigen Wahl 2002 die Amtsgeschäfte überlassen; zwar konnte Gonzalo Sánchez de Lozada, der bereits 1993-1997 regiert hatte, damals gegenüber Evo Morales einen knappen Sieg erringen, sah sich aber schon im Oktober 2003 unter dem Druck einen breiten und militanten Protestbewegung gezwungen, fluchtartig das Land in Richtung Miami zu verlassen. Sein verfassungsmäßiger Nachfolger Carlos Mesa mußte schließlich am 6. Juni 2005 das Handtuch werfen und Eduardo Rodríguez, dem als Oberstem Richter nach dem erzwungenen Verzicht von Hormando Vaca Díez (Senator des MIR aus Santa Cruz und Kongreßpräsident) und Mario Cossío (MNR-Parlamentarier aus Tarija und Präsident des Abgeordnetenhauses) das Präsidentenamt zufiel, blieben laut Verfassung nur sechs Monate, um die Durchführung der nun fälligen Wahlen zu sichern. Im Zentrum der Proteste stand die Frage, wer über die Erdgasvorkommen verfügen sollte und wie die künftigen Erlöse zu verteilen waren. Nach der Verabschiedung eines für die global player des Gasgeschäfts günstigen Gesetzes durch Sánchez de Lozada im Jahre 1997 sind diese in Bolivien fast allesamt vertreten und kontrollieren die mit 810 Mrd. Kubikmetern zweitgrößten Erdgas-Reserven Lateinamerikas (siehe Tabelle). Neben der Einführung unpopulärer Steuern trug des Vorhaben der Regierung von Sánchez de Lozada, Erdgas über einen chilenischen Hafen in die USA zu exportieren, maßgeblich dazu bei, daß es zur gewaltsamen Massenrebellion kam, die mit dem Sturz der neoliberalen Regierung endete. Sein Nachfolger Carlos Mesa mußte versprechen, baldigst ein Referendum über die Kohlenwasserstoffe durchzuführen, auf dieser Grundlage ein neues Gesetz zu verabschieden und eine verfassunggebende Versammlung wählen zu lassen (Agenda de Octubre). Als er bei der Umsetzung dieser Drei-Punkte-Agenda zu lavieren begann, schwoll die Protestbewegung erneut an. Ohne eigene parlamentarische Basis und nicht bereit, bewaffnete Gewalt gegen die Demonstranten einzusetzen, sah er sich schließlich ebenfalls gezwungen zurückzutreten. Der Verlauf der Massenproteste seit 2000 zeigt, daß drei zentrale Probleme, an denen sich die Zukunft des Landes entscheiden wird, im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen: Der Konflikt um die Erdgas-Reserven verweist erstens auf die Entschlossenheit breiter Bevölkerungskreise, die Privatisierungspolitik rückgängig zu machen, dem Staat wieder eine größere Rolle zuzuweisen und insgesamt eine Abkehr vom neoliberale Entwicklungsmodell einzuleiten. An diesen Forderungen entzündet sich zweitens der Konflikt um die Autonomiebestrebungen des Oriente, in Sonderheit um die von Santa Cruz. Angeführt von der Unternehmerschaft ist die Autonomiebewegung bestrebt, sich einen größeren Anteil an den Einkünften der Erdgasförderung, die zu 80% in den Export geht, zu sichern. Die arme Bevölkerungsmehrheit im andinen Hochland befürchtet wiederum, erneut als Verlierer dazustehen. Drittens geht es bei der Forderung nach der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung um nicht weniger als die Neugründung des bolivianischen Nationalstaates. Dabei kreuzen sich zwei unterschiedliche Konfliktlinien: Auf der einen Seite geht es um die Durchsetzung der grundlegenden Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit, die im Westen des Landes konzentriert ist; auf der anderen Seite fordern die Regionen des östlichen „Halbmond“ weitgehende Autonomie. Wie eng und konfliktbeladen der Zusammenhang von verfassunggebender Versammlung und Autonomieforderungen ist, zeigt das Tauziehen um die Termine für die Wahl der Konstituente und das Autonomiereferendum in Santa Cruz. Während die Autonomiebefürworter das Referendum noch vor der Wahl durchführen wollen, bestehen die übrigen politischen Akteure darauf, erst eine in der Verfassung verankerte Regelung in der Autonomiefrage zu verabschieden, die von der Mehrheit getragen wird. Die Suche nach einer Lösung, die den Bestand und die Festigung des bolivianischen Nationalstaates sichert, wird durch die unübersichtliche und sich rasch verändernde Akteurskonstellation erschwert. Die offensichtliche Schwäche der Institutionen und der wachsende Druck von unten, die in ihrer Wechselwirkung das Land fast unregierbar gemacht haben, schlagen sich sowohl „oben“ als auch „unten“ in zunehmender Unübersichtlichkeit nieder. Mit dem Ende des bisherigen Parteiensystems und der uneingeschränkten Verfügungsgewalt über die Regierung befindet sich die traditionelle Elite in einem Prozeß der Neuorientierung und Umgruppierung. Nachdem die Wirtschaftselite im Osten schon länger auf die autonomistische Karte setzt, sucht nun auch die politische Klasse ihr Glück in der Gründung von Regionalparteien. Bereits 2003, als sich Polizei und Armee bewaffnete Auseinandersetzungen lieferten, war klar geworden, daß auch auf die Sicherheitskräfte kein Verlaß mehr ist. Auf der anderen Seite sind sich die sozialen Bewegungen zwar in ihrer Gegnerschaft zur Regierung und zum Neoliberalismus einig, differieren aber stark in der Wahl ihrer Mittel und Wege sowie ihren realen Einflußmöglichkeiten. Neben den Basisbewegungen von El Alto, das in unmittelbarer Nachbarschaft von La Paz liegt und mit 700.000 Einwohnern immerhin drittgrößte Stadt des Landes ist, stellen die cocaleros des Chapare und die im Gewerkschaftsverband COB organisierten mineros die Protagonisten der Protestbewegung. Alle drei Akteursgruppen zeichnen sich durch einen hohen Organisations- und Mobilisierungsgrad aus und gelten als besonders kampferprobt. Daneben sind die Aymará-Bauern, die das Hochland zwischen La Paz und Titicacasee bewohnen, die aus dem „Wasserkrieg“ von 2000 hervorgegangenen sozialen Bewegungen von Cochabamba sowie die Indigenen und die Bauern von Santa Cruz wichtige Akteure der antineoliberalen Protestbewegung. Die soziale, regionale und ethnische Vielfalt der Bewegung macht ein koordiniertes Vorgehen nicht einfach, zumal wenn wie im Verhältnis des indigenistischen Bauern- und Gewerkschaftsführers Felipe Quispe zum MAS-Chefs Evo Morales persönliche Rivalitäten hinzukommen. Hauptkonfliktpunkt innerhalb der Protestbewegung sind strategische und taktische Fragen, wobei sich grob ein gemäßigter Flügel um Morales, der auf Wahlen und politische Partizipation setzt, und ein radikaler Flügel um Quispe, für den außerparlamentarische Aktionen den Hauptweg zur vollständigen Umwandlung Boliviens in einen von der indigenen Bevölkerung regierten Staat bilden, unterscheiden lassen.

Szenarien nach der Wahl

Mit dem überlegenen Wahlsieg von Evo Morales hat sich vorerst die Waage zu Gunsten der von ihm vertretenen Strategie geneigt. Der Erwartungsdruck aller Akteure der sozialen Protestbewegung ist jedoch derart hoch, daß dem neugewählten Präsidenten nur ein kleines Zeitfenster und ein eng begrenzter Entscheidungsspielraum bleiben. Immerhin belegt das Wahlergebnis, daß der MAS derzeit die einzige politische Kraft darstellt, die in der Lage ist gesamtnationale Interessen zu artikulieren und zu vertreten. Basis, Anhängerschaft und Einfluß des MAS sind in ihrer regionalen, ethnischen und sozialen Streuung breit genug, um ihm die Führerschaft im antineoliberalen Lager zu sichern und im Sinne des Erhalts und der Festigung des bolivianischen Nationalstaats zu wirken. Ausdruck dafür sind nicht zuletzt der Stimmenanteil von ca. einem Drittel in den beiden wichtigsten Departements des „östlichen Halbmonds“ (Santa Cruz und Tarija). Allerdings sind die Gegner eines solchen Kurses nicht zu unterschätzen. Neben den USA, den großen ausländischen Gasunternehmen und der regionalen Elite von Santa Cruz dürfte auch die traditionelle politische Klasse nichts unversucht lassen um zu verhindern, das Morales sein Programm umsetzt. Diesem bleiben neben dem Schulterschluß mit den sozialen Bewegungen seines Landes immerhin genügend Möglichkeiten, sich im lateinamerikanischen Umfeld verläßliche Bündnispartner zu suchen. Welch hohe Priorität er dem zumißt, zeigen seine Auslandsbesuche nach dem 18. Dezember, die ihn zuerst nach Kuba und dann nach Venezuela und Brasilien geführt haben. Sieht man einmal davon ab, ob sich Morales in seiner innenpolitischen Ausrichtung eher an Lula (Brasilien) oder Chávez (Venezuela) orientieren wird, besteht sein Hauptproblem darin, sowohl eine Verschärfung der Krise wie in Ecuador und Peru als auch den worst case – das Auseinanderbrechens Boliviens zu verhindern. Wie der Sturz von Gutiérrez 2005 in Ecuador und der dramatische Legitimitätsverlust von Toledo nach dessen Wahlsieg 2001 in Peru kontrafaktisch gezeigt haben, kommt es darauf an, Alternativen zum Neoliberalismus ernsthaft und glaubwürdig anzugehen, ohne dabei wesentliche Teile der realen und potentiellen Bündnispartner zu verprellen. Dies wird angesichts des fragilen Zustands des bolivianischen Nationalstaates eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe sein, nichtdestrotz führt um den Preis des Staatszerfalls kein Weg daran vorbei. Wenn ein bolivianischer Politiker diese Last zu stemmen imstande ist, dann ist das Evo Morales. Darin besteht nicht nur seine zentrale Herausforderung, sondern auch seine große Chance.

Eckdaten zu Bolivien:

Fläche: 1.098.581 km² Einwohner: 8.809.000

Vorläufige Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 18.12.2005

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MAS – Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus) PODEMOS – Poder Democrático y Social (Demokratische und Soziale Kraft) UN – Unidad Nacional – Nationale Einheit MNR – Movimiento Nacionalsita Revolucionario (Revolutionär-Nationalistische Bewegung) MIP – Movimiento Indígena Pachacuti (Indianische Bewegung Pachacuti)

andere: FREPAB – Frente Patriotico Agropecuario de Bolivia NFR – Nueva Fuerza Republicana USTB – Union Social de los Trabajadores de Bolivia

Gültige Stimmen insgesamt: 2.873.801 Abgegebene Stimmen insgesamt: 3.102.417 Eingeschriebene Wähler: 3.671.152 Wahlbeteiligung: 84.5%

Ergebnisse der Präsidentenwahl nach Departements (www.cne.org.bo, 5.1.06)

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Wahl der Präfekten

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Pando hat nur 25.607 eingeschriebene Wähler MAS: Chuquisaca, Oruro, Potosi (3x) PODEMOS: La Paz, Beni, Pando (3x) Regionale Parteien: Santa Cruz, Cochabamba, Tarija (3x)

Tabelle Gasreserven

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Literatur:

Behrens, Peter-Alberto: Bolivien: Die Überraschungswahl, KAS-Länderberichte, 20.12.2005 Centro de Documentación e Información Bolivia: Análisis de las elecciones del 18 de deciembre, http://www.adital.org.br/ Corte Nacional Electoral. http://www.cne.org.bo/ International Crisis Group: Bolivia at the Crossroads: The December Elections, Latin America Report No. 15, 8. 12.2005 International Crisis Group: Bolivia’s Divisions: Too Deep to Heal? Latin America Report No. 7, 6.7.2004 Ismar, Georg: Bolivien: Ein Land „fuera de servicio“? http://www.bolivien-tagung.de/Materialien/materialien.htm Laserna, Roberto/ Schwarzbauer, Annette: Bolivien: Soziale Bewegungen und Probleme der Regierbarkeit. Rio de Janeiro, KAS Juli 2005 (Europa-América Latina – Analysen und Berichte Nr. 19) – Laserna, Roberto: Bolivien: Verzehrer von Demokratie, S. 6-29 – Laserna, Roberto: Soziale Konflikte und Demokratie in Bolivien. Eine mittelfristige Perspektive (1994-2004), S. 30-46 – Schwarzbauer, Anette: Bolivien – Unregierbar? S. 47-52 Maihold, Günther/ Husar, Jörg: Demokratiekrisen in Lateinamerika, SWP-Aktuell 25/ Juni 2005 Rohrer, Katja: Die Krise des bolivianischen Staates und die Ursachen der Unregierbarkeit. http://www.weltpolitik.net/print/2521.html Schürkes, Jonna: Bolivien im Spannungsfeld zwioschen Regierung und sozialen Bewegungen, IMI-Studie 2005/04, in: Ausdruck Oktober 2005 (Gas)

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