Anfänge der Cocalero-Bewegung im Chapare
Das Gesetz 1008 über den Anbau und die Verwendung von Koka erlaubt in der Region Yungas im departamento La Paz bis heute den Anbau von 12.000 Hektar Kokasträuchern. Die Blätter werden traditionell z.B. zur Herstellung von Matetee verwendet und hauptsächlich auf lokalen Märkten verkauft. Aber auch in der Medizin, für Lebensmittel oder den anderweitigen industriellen Einsatz wird der Strauch kultiviert. Schon im 17. Jahrhundert hatte sich die Region als Hauptanbauregion für Koka herauskristallisiert. Die Kultivierung des Strauches wurde damals vor allem durch criollos und mestizos mit Hilfe von Sklaven durchgeführt. Noch heute sind die Yungas de la Paz geprägt durch große Latifundien. Auch der Kaffeeanbau ist in der Gegend ansässig.
In der Region Chapare im departamento Cochabamba wurde hingegen bis in die 1960er Jahre gar keine Koka angepflanzt und auch danach noch sehr wenig. Als jedoch die Weltmarktpreise für Zink zu sinken begannen, wanderten besonders in den 1980er Jahren viele Minenarbeiter aus dem Gebirge in das Tiefland ab und versuchten ihr Glück als Kokabauern. Zu den ersten Minenarbeitern, die in den Chapare gingen, gehörte auch der Vater des derzeitigen bolivianischen Präsidenten, Evo Morales. Zurückzuführen ist der steigende Kokaanbau auch auf den Niedergang der traditionellen Landwirtschaft, die mehr und mehr von sinkenden Nutzflächen und geringerer Produktivität geprägt wurde. Eine Zeit lang galt Chapare als das weltweit größte Anbaugebiet für Koka, deren Blätter zu Kokain verarbeitet werden. Die Einwohnerzahl stieg im Chapare relativ schnell an. Waren es in der Volkszählung 1992 noch etwas mehr als 137.000, so lebten laut der Volkszählung 2005 bereits 220.000 Menschen in der Region. Konflikte entstanden besonders im Zusammenhang mit dem anhaltenden Verbot des Kokaanbaus außerhalb der Yungas und mit Landtiteln. Die meisten der zugewanderten Bauern haben keine Rechte auf das Land, das sie bearbeiten. Die wachsende Zahl der Bauern, die vom Kokaanbau lebten und der soziale Druck, der durch die sich zunehmend organisierenden Kokabauern (cocaleros) entstand, veranlasste wohl die Regierung Ende der 1980er Jahre, den Passus in der UN-Konvention zu narkotischen Mitteln durchzusetzen, die traditionelle Verwendung von Koka zu dulden.
Bereits 1982 hatte sich die Federación del Trópico, der Gewerkschaftsverband der Tropen, in Cochabamba gegründet. Die Gewerkschaften waren und sind ein Organ der Selbstorganisation für die Bauern. Ihre Aufgaben umfassen unter anderem den Bau von Straßen und Wegen in die Berge, die Verteilung von Parzellen an die Mitglieder, Streitschlichtungen, die Verwaltung des Zusammenlebens in der Region sowie die Verwaltung der Wasser- und Flussnutzung. 1985 wurde Evo Morales zum Generalsekretär der Vereinigung ernannt. Ende der 1980er Jahre führte der sich intensivierende Kampf der bolivianischen Regierung gegen den Drogenhandel zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Koka- und Drogenpolitik
Die Antidrogen- und letztlich Anti-Kokapolitik Boliviens steht im engen Zusammenhang mit der Anti-Drogen-Politik der USA, die sich seit den 1970er und massiv in den 1980er Jahren ausweitete und militarisierte. Die Nachfrage nach illegalen Drogen und vor allem nach Kokain begann in dieser Zeit in den USA sehr stark zu steigen. Als US-Außenminister Kissinger 1977 nach Santa Cruz kam, vereinbarte er mit General Hugo Banzer stärker bei der Bekämpfung des Drogenhandels zusammenzuarbeiten. Bereits ein Jahr zuvor wurde ein Wirtschaftsabkommen beschlossen, bei dem die Unterstützung der bolivianischen Regierung im Kampf gegen Drogenhandel eine zentrale Rolle spielte. Die Regierung unter George Bush begann den Drogenhandel als Gefahr für die nationale Sicherheit zu behandeln. 1990 wurde dem US-Kongress die sogenannte Andenstrategie zur Abstimmung vorgelegt. Demnach sollte die Drogenbekämpfung so nah wie möglich an der Ursprungsquelle erfolgen, und das hieß bei den Kokabauern, die für den Kokainhandel produzierten. In dieser Zeit speisten das Huallaga-Hochtal in Perú und der Chapare in Bolivien fast 100 Prozent der Kokainnachfrage. Die Militär- und Polizeihilfe für Bolivien stieg von 5,8 Mio. US-$ im Jahr 1989 auf 33,7 Mio. US-$ im Jahr darauf. Die prekäre sozioökonomische Situation Boliviens und die dadurch entstehende Abhängigkeit von den USA ließ den Regierungen keine andere Wahl, als im Kampf gegen den Anbau von Drogen einzusteigen. 1994 schreibt Lessmann, dass etwa 90 Prozent aller Kokabauern die Pflanze für die Weiterverarbeitung von Kokain kultiviert. Besonders im Chapare ist das nachvollziehbar, da der legale Anbau und dementsprechend die legale Nutzung laut Gesetz 1008 nur auf Yungas de la Paz beschränkt war. Umschlagplatz für die sogenannte pasta basica und Kokain sind Santa Cruz und Cochabamba.
Das militärische Vorgehen der Regierung stieß auf den Widerstand der organisierten cocaleros. 1987 gab es einen Beschluss zwischen einigen cocalero-Organisationen und der Regierung, der vorsah, einen Entwicklungsplan umzusetzen und gleichzeitig den Kokaanbau einzuschränken. Die Regierung verpflichtete sich, keine Pestizide im Kampf gegen Kokafelder einzusetzen. Die cocaleros sollten im Gegenzug ihre Felder selbst vernichten. Allerdings führte der Beschluss nicht zum Frieden. Die cocaleros von Chapare erklärten den Ausnahmezustand und weigerten sich, die Selbstzerstörung der Kokafelder vorzunehmen. Weder die Regierung noch die cocalero-Bewegung wollten einen Schritt zurück gehen. Beide hielten an ihren Forderungen fest. Eine andere Maßnahme war die Einrichtung eines Naturschutzgebietes in der Region. Dadurch sollte der Degenerierung der Böden, verursacht durch den Einsatz von Pestiziden beim Kokaanbau, entgegen gewirkt werden. Während der Kokaanbau im Hochland eher traditionell war, setzten zugewanderte Kokabauern, denen oft die Erfahrung in der Kultivierung fehlte, sehr häufig Pestizide ein. Mit der Einrichtung des Nationalparks sollte zudem die Rodung des Regenwaldes beschränkt und letztlich der Kokaanbau beschnitten werden.
1994 implementierte die bolivianische Regierung die Strategie „Zero Coca“ (Null Koka). Zwar wurde die industrielle Verarbeitung von Koka aus den Yungas de La Paz weiter erlaubt, jedoch erlebten andere Anbaugebiete, vor allem der Chapare, die Folgen der Strategie, die sich hauptsächlich gegen cocaleros richtete. Die Anbaufläche lag Mitte der 1990er Jahre noch bei über 45.000 Hektar. Die Regierung unter Hugo Banzer beschloss 1997 auf Druck der USA, Bolivien bis 2002 aus dem Kreislauf des internationalen Drogenhandels herauszunehmen. Bis zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde ein Großteil der Felder zerstört. In dieser Zeit wurden jährlich durchschnittlich 5.000 Hektar zerstört. 1999 umfasste der Kokaanbau nur noch 21.800 Hektar Koka und fast 17.000 Hektar wurden zerstört. Mittlerweile ist die Anbaufläche auf 25.000 bis 28.000 Hektar wieder leicht angestiegen, und die Hektarzahl an zerstörten Kokafeldern ging zurück auf 5.000 bis 6.500. Die „Zero-Coca“-Strategie rief wiederum den Widerstand der cocaleros aus dem Chapare auf den Plan, denen der Anbau der Pflanze noch immer rechtlich verwehrt war. Sie solidarisierten sich mit anderen gesellschaftlichen Sektoren, und es kam zu Massenprotesten in Form von marchas, in denen einige Kokabauern ihr Leben ließen oder – vor allem ihre Anführer – festgesetzt wurden. Die Kokabauern fanden meist breite Unterstützung in der Gesellschaft. Im Zuge der Konflikte traten einige cocaleros in den Hungerstreik. Am Ende wurde unter der Vermittlung der Kirche eine Einigung erzielt. Wäre der WHO-Bericht zu Koka 1994 veröffentlicht worden, hätten diese Entwicklungen unter Umständen verhindert werden können.
Im Jahr 2002 wurde ein explizites Verbot für die Trocknung und den Weiterverkauf von Koka aus dem Chapare verabschiedet und Regierung setzte erneut Gewerkschafts- und Bauernführer fest. Daraufhin formierten sich Kokabauern umso stärker im Widerstand gegen diese staatlichen Maßnahmen. 2004 gab es unter Präsident Carlos Mesa zwischen der Regierung und den cocaleros in Cochabamba eine Vereinbarung. Sie sah vor, auf Basis einer noch durchzuführenden Studie über den Bedarf an Kokablättern für das traditionelle Kauen den Anbau zu erlauben. Bis dahin sollte es Kokabauern zunächst erlaubt sein, Kokasträucher auf einer Fläche von bis zu 0,16 Hektar Land, dem so genannten cato zu kultivieren.
Koka- und Cocaleropolitik unter einem ehemaligen Anführer der cocaleros als Präsident
Evo Morales erhielt in der Präsidentschaftswahl von 2005 Unterstützung von der Bewegung, da er sich für die Entkriminalisierung der Kokapflanze einsetzte und eine Agrarreform ankündigte. Der MAS, der zwar hauptsächlich die Interessen der cocaleros aus dem Chapare vertritt, hatte sich in den Jahren zuvor zu einer Partei entwickelt, die Unterstützung sowohl von Bauern in anderen Regionen Boliviens als auch von Arbeitern erhielt. Im Mai 2001, als Vizepräsident Jorge Quiroga Hugo Banzer nach dessen Tod ins Amt folgte, führte Evo Morales eine neue Bewegung an, die auch Lehrer, Arbeiter und die Gruppe umfasste, die den Wasserprotest in Cochabamba leitete. In den Präsidentschafts- und Gemeindewahlen 2001 konnten sich Morales und der MAS schon als die zweitstärkste politische Kraft des Landes durchsetzen.
Als Präsident hat Morales das Gesetz zum Anbau und zur Verwendung von Koka (1008) noch nicht abgeschafft. Mit dem Anbau eines cato erhalten Bauern ein Einkommen im Wert von etwa 100 US-Dollar monatlich. Morales hat zudem eine Agrarreform angekündigt, die vorsieht, dass der maximale Landbesitz begrenzt wird und dass an Kleinbauern 25 Mio. Hektar Land verteilt werden. Gleichzeitig erhalten sie staatliche Subventionen, wenn sie andere Produkte anbauen. Dadurch soll der regionale Vertrieb von Koka gefördert, jedoch Anreize für den großflächigen Anbau zur späteren Herstellung von Kokain reduziert werden. Im Sommer 2008 legalisierte die Regierung den Anbau von 1.000 Hektar Koka im Chapare.
Der ehemalige cocalero-Anführer und jetzige Präsident Boliviens, Evo Morales, bemüht sich um die komplette Streichung der Kokapflanze aus der UN-Konvention von 1961. Er will zwar damit nicht die Produktion von Kokain fördern, jedoch eine Legalisierung des traditionellen und industriellen Gebrauchs von Kokablättern erreichen. Da Bolivien hochgradig abhängig von ausländischen Hilfen bleibt, sieht sich die Regierung dem Dilemma gegenüber, mit den USA kooperieren zu müssen und gleichzeitig eine cocalero-freundliche Politik zu betreiben. Die USA bleiben unterdessen immer noch der größte Abnehmer für Kokain.
Verwendete Quellen:
Cajías de la Vega, Magdalena (1995): La Coca en la historia de Bolivia: Su uso en las épocas prehispánicas y colonial, In: Revista Boliviana de Cultura, V/11, http://www.bolivianet.com/cultura/encuentro/coca/la_coca.html
Latin American Bureau (1982): Narcotráfico y Política: Militarismo y mafia en Bolivia, In: http://www.derechos.org/nizkor/bolivia/libros/cocacoup/
Lessmann, Robert (1996): Drogenökonomie und internationale Politik: die Auswirkungen der Antidrogen-Politik der USA auf Bolivien und Kolumbien, Frankfurt am Main
Lessmann, Robert (1998): Alle Schlachten gewonnen, den Krieg verloren: der Drogenkrieg der USA in Lateinamerika, In: Antimilitarismus-Information, 28/12, S. 69-85
Muniz, Adrian (1996): Bolivia and Coca: Trade and Environment, Trade and Development Database, American University, In: http://www.american.edu/TED/bolcoca.htm
National Drug Intelligence Center (2006): National Drug Threat Assessment 2007, In:
http://www.usdoj.gov/ndic/pubs21/21137/cocaine.htm
United Nation Office on Drugs and Crime (UNDOC) (2008): World Drug Report 2008, In: http://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/WDR-2008.html
Valdez, Carlos (20.06.2008): Food Rise Has Bolivia’s Coca Farmers Planting Rice, In: http://www.newsvine.com/_news/2008/07/20/1680768-food-rise-has-bolivias-coca-farmers-planting-rice
Willenborg, Kristina (2001): Coca- die Geschichte einer Pflanze (Teil 2), In: http://www.caiman.de/bolivien/coca2.html
Kokaanbau in Bolivien und Anbaufläche, 2003-2007