Wer sich mit dem bolivianischen Kino auseinandersetzt, Fragen nach Filmen und Regisseuren stellt, wird um einen Namen nicht herumkommen: Jorge Sanjinés.
Sanjinés ist einer der großen lateinamerikanischen Regisseure und der international bekannteste bolivianische Filmregisseur. In seiner nun schon vierzigjährigen Karriere hat er das bolivianische Filmschaffen entscheidend geprägt und mitbestimmt. Seine Filme haben politische und soziale Kontroversen ausgelöst und nicht nur eine neue Filmsprache hervorgebracht, sondern auch der Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung, den Indígenas, eine Stimme verliehen.
Nachdem Jorge Sanjinés (*1936 in La Paz) in Chile Film und Philosophie studiert hatte, kehrte er 1959 nach Bolivien zurück und gründet mit anderen Filmkünstlern die Gruppe UKAMAU. Gemeinsam realisierten sie mehrere viel beachtete Kurzfilme unter der Regie von Sanjinés, die bereits eine deutliche Handschrift trugen und eine Vorausschau auf sein späteres Schaffen geben. Sein Kurzfilm Revolución, für den er 1963 in Leipzig den ersten internationalen Preis erhielt, spiegelt den programmatischen Ansatz seiner künstlerischen Arbeit.
Sanjinés‘ Kino versteht sich als politisches Kino. Mit seiner Arbeit verfolgt er einen stark gesellschaftspolitischen Ansatz, indem er die Lebens- und Arbeitsweisen der indigenen Bevölkerung Boliviens thematisiert und verteidigt. Sanjinés will jedoch nicht nur Unterdrückung oder Ausbeutung dokumentieren, er versteht den Film als revolutionäre Waffe, als Form des Kampfes. Sein Wirken zielt darauf, soziale und politische Bedingungen und Spielräume der Indígenas zu verbessern. Der erste Schritt dorthin sei es, die andine Kultur darzustellen, Kenntnisse über sie zu vermitteln sowie ein Bewusstsein für ihre Identitäten, Traditionen und Lebensformen zu schaffen. Die Aufmerksamkeit, die Kontroversen und Reflexionen, die durch seine Filme angestoßen werden, sind für ihn ein künstlerischer Beitrag zu soziopolitischen Veränderungen.
Dem liegt ein Kunstverständnis zugrunde, das die Rolle von Künstlern und Intellektuellen in der Gesellschaft betont. Kunst versteht Sanjinés nicht als Ausdruck eines individuellen, autonomen Willens, sondern als Ausdruck einer durch den Künstler artikulierten kollektiven Erfahrung. Kunst muss demzufolge immer in den Kontexten betrachtet werden, in denen sie entstanden ist, da in ihr bestimmte gesellschaftliche Erlebnisse und Traditionen zusammenfließen.
Diese Präferierung kollektiver Erfahrung lässt sich auch in Sanjinés‘ Filmen wieder finden, in denen anhand eines individuellen Schicksals auf ein kollektives verwiesen wird. Das Individuelle und Kollektive sind in seinem Verständnis und in seinen Darstellungen auf das engste miteinander verwoben und nicht ohne einander zu denken. Der Einzelne wird zur Folie für das Ganze und verweist gleichzeitig auf die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes.
Sanjinés‘ erster Langspielfilm UKAMAU (1966) greift diese Thematik auf, der er auch in seiner weiteren filmischen Arbeit treu bleibt. Am Beispiel eines Aymara, der sich am Mörder seiner Frau rächt, werden die sozialen Probleme der andinen Landbevölkerung, geprägt von Unterdrückung und Diskriminierung, beleuchtet. Als erster Film, der ausschließlich auf Aymara gedreht wurde, avancierte er zu einem Publikumserfolg, jedoch begleitet von heftigen politischen Kontroversen, in deren Folge Sanjinés als Direktor des Filminstituts zurücktreten musste.
Auch an seinem zweiten Film Yawar mallku (1969) nahmen die Behörden erheblichen Anstoß Erst nach öffentlichen Protesten wurde der Film von der Zensur frei gegeben. Basierend auf realen Begebenheiten hat Sanjinés mit Yawar mallku seinen wohl bekanntesten Film gedreht, der eine Anklage gegen ein geheimes Sterilisationsprogramm US-amerikanischer Peace-Corps an armen indigenen Landfrauen darstellt. Auch hier ist das kollektive Elend mit dem Schicksal eines einzelnen Dorfbewohners verknüpft, der in der Stadt rassistische und soziale Ausgrenzung erfährt und schließlich in seine Heimat zurückkehrt. Yawar mallku ist ein Protestschrei gegen Grausamkeit und Unmenschlichkeit und zugleich die Verteidigung eines andinen Universums voller kultureller, aber bedrohter Reichtümer.
Die oft betont bewegende Authentizität seiner Filme erklärt sich vor allem durch die Tatsache, dass seine Themen immer einen klaren historischen Bezug haben und an Originalschauplätzen mit überwiegend Laienschauspielern, die ihre Muttersprache sprechen, gedreht werden. Mit seinem dritten Film El coraje del pueblo (1971) treibt er diesen Anspruch nach Authentizität auf die Spitze. Der dokumentarische Film bezieht sich auf das weitgehend unbekannte Massaker an bolivianischen indigenen Minenarbeitern unter der Diktatur von René Barrientos, das sich als La noche de San Juan in das kollektive Gedächtnis der indígenas eingeschrieben hat. Dargestellt wird der Film von den Überlebenden des Massakers, deren unmittelbares Erleben der Ereignisse jedes vorherige Drehbuch überflüssig machte. Sie diktieren die Chronologie der Ereignisse, nehmen der Kamera ihre beobachtende Funktion und verwandeln sie in einen Teil ihrer Gemeinschaft. Der viel gerühmte Realismus der Darstellung entbehrt trotz des dokumentarischen Charakters keiner poetischen Intensität. Als geradezu lyrisches Werk wurde El coraje del pueblo zu einem Standardwerk lateinamerikanischer Filmkunst.
Mit dem Militärputsch Hugo Banzers verschärft sich die innenpolitische Lage und zwingt Jorge Sanjinés erst nach Peru und später nach Ecuador zu emigrieren. Im Exil dreht er zwei weitere Filme El enemigo principal (1973) und Fuera de aquí (1977), deren Erzählstruktur sich immer weiter vom europäischen Kino entfernt. Die Filme werden von einer Erzählerstimme begleitet, die sich immer wieder direkt an den Zuschauer wendet. Diese Form der Narration entspricht den auf Mündlichkeit beruhenden Erzähltraditionen der indígenas und bezieht sie als Rezipienten stärker ein. Sanjinés nimmt bewusst diese Traditionen auf, da er auf seinen Reisen mit einem Kinomobil durch das andine Hochland feststellt, dass gerade diejenigen, denen er mit seinem Kino mehr Gehör verschaffen will, es nicht verstehen oder akzeptieren. In dieser Konsequenz entwickelt Sanjinés eine ganz eigene Ästhetik, die auf zu große Spannung verzichtet und den schnellen Wechsel der Kameraeinstellungen vermeidet, sondern ruhige Bilder erzeugt, die sich in fortwährender, gleichmäßiger Bewegung befinden. Mit dieser zirkulären Bildsprache visualisiert Sanjinés die andine Kosmovision, die von einer zyklischen Zeitstruktur ausgeht und im Gegensatz zur westlichen Vorstellung einer Chronologie und Linearität der Zeit steht. Auch die bereits erwähnte Bevorzugung kollektiver Protagonisten anstelle einer individualistischen Hauptperson folgt den andinen Vorstellungen von sozialer Harmonie.
Mit La nación clandestina (1989) und Para recibir el canto de los pájaros (1995) hat sich der scharfe politische Impetus seiner Filme gewandelt. Obwohl Sanjinés seinen Themen und Motiven treu blieb, sind seine Filme nicht mehr einem revolutionären politischen Programm verpflichtet. Stattdessen zeichnen sie sich durch leise Töne aus, die eine vorsichtige Parteinahme für die indígenas darstellen. Im Zentrum seines künstlerischen Schaffens stehen nun nicht mehr Rebellion und Aufruf zu politischer Aktion, sondern ein kultureller Dialog, der sein Augenmerk auf das kulturelle und politische Selbstverständnis der Indigenen richtet. Dabei haben seine Filme weder an Aktualität noch an Brisanz verloren. So löste Para recibir el canto de los pájaros in Bolivien eine breite Diskussion über den alltäglichen Rassismus aus. Obwohl Sanjinés ebenso klar wie in seinen frühen Arbeiten die Akteure und Opfer umfassender Diskriminierungen in Bolivien benennt, setzt er nun auf Toleranz und Integration und fordert zu genauem Hinsehen auf.
In seinem letzten Film Los hijos del último jardin (2002) entwickelt Sanjinés ein Panorama der aktuellen bolivianischen Wirklichkeit anhand von fünf befreundeten Jugendlichen. Betroffen von der allgegenwärtigen Korruption beschließen sie zur Selbstjustiz zu greifen und der Bevölkerung einen Teil ihres Geldes zurückzugeben. Aus den verschiedenen Geschichten und Motiven, die die Jugendlichen antreiben, entwickelt er ein komplexes Bild von Sehnsüchten, Idealen und Zwängen bolivianischer Realität.
Jorge Sanjinés‘ künstlerisches Wirken steht vor allem für ein relevantes Kino. Er widmet sich dem wenig Beachteten, um all jenen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, die Teil der Gesellschaft sind und trotzdem, durch konsequente Missachtung, nicht erkannt und nicht gehört werden. Mit extrem begrenzten technischen und finanziellen Möglichkeiten hat er eine ästhetisch und politisch innovative Filmkunst geschaffen, die ihn über alle Widerstände hinweg zu einem der wichtigsten lateinamerikanischen Filmregisseure gemacht hat.
Literatur:
www.jorgesanjines.org
www.filmreference.com
Pedro Susz K.: 100 Jahre Film in Bolivien. In: Rafael Sevilla u.a. (Hg.): Bolivien – das verkannte Land? Bad Honnef: Horlemann, 2001, S. 197-220.
Bernd Wolpert: Vom Revolutionskino zum Kino der kulturellen Begegnung: Das Werk des Jorge Sanjinés. In: Rafael Sevilla u.a. (Hg.): Bolivien – das verkannte Land? Bad Honnef: Horlemann, 2001, S. 221-228.