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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die „Elite“ von Santa Cruz. Ökonomische Basis und politischer Anspruch

Florian Quitzsch | | Artikel drucken
Lesedauer: 27 Minuten

Die gewalttätigen Ereignisse in den Tieflandprovinzen Santa Cruz und Pando sowie die Ausweisung des US-Botschafters im September 2008 haben Bolivien vorübergehend in das Bewusstsein einer größeren internationalen Öffentlichkeit gerufen. Die momentane politische Situation ist geprägt durch den von indigenen und sozialen Bewegungen geforderten Neugründungsprozess des Landes, verbunden mit einer neuen Verfassung. Eine dagegen aufbegehrende Opposition, die sich vor allem in den regionalen Autonomiebewegungen der Tiefland-Departements manifestiert, lässt es sinnvoll erscheinen, sich eingehender mit den in Santa Cruz (Stadt & Department) ansässigen Akteuren und ihrer politisch-ökonomischen Machtbasis auseinanderzusetzen. Und das aus mehreren Gründen. Die mächtigen privaten Interessenverbände des Departement Santa Cruz, das sich spätestens ab den 1980er Jahren als Wirtschaftsmotor Boliviens etabliert hat, lehnen die von der Regierung per Verfassung und Referendum geplanten sozialökonomischen Reformen ab. Dazu zählen die Landwirtschaftskammer des Ostens (CAO), die Industrie-, Handels-, Dienstleistungs- und Tourismuskammer (CAINCO), der Unternehmerverband und der Verband der Viehzüchter von Santa Cruz (Fegasacruz). Diese wehren sich vor allem gegen die Verstaatlichung unproduktiven Privatlandes, eine noch festzulegende Obergrenze an Landbesitz, die ihrer Ansicht nach damit einhergehende Rechtsunsicherheit sowie eine Kürzung des Departement-Anteils aus direkten Steuern auf Kohlenwasserstoffe (IDH) zugunsten einer nationalen Altersrente. Zum anderen existiert seit dem Niedergang der traditionellen politischen Parteien ab Ende der 1990er Jahre auf der nationalen Politikebene so gut wie kein parteipolitisches Gegengewicht zum Projekt der Neugründung Boliviens, das durch die vom Movimiento al Socialismo (MAS) geführte Regierung vorangetriebenen wird. Einzig die von Jorge „Tuto“ Quiroga 2005 ins Leben gerufene rechtskonservative Poder Democrático y Social (PODEMOS), Nachfolgepartei der von Hugo Banzer gegründeten Acción Democrática Nacional (ADN), stellt momentan eine halbwegs ernstzunehmende parteipolitische Opposition mit nationalem Anspruch dar. Sie besitzt immerhin das Potential eine Blockademehrheit im Senat, dem Oberhaus des Parlamentes, zu organisieren.

Die oft als homogener Macht- oder Interessenblock dargestellten oder als traditionelle Eliten, Oligarchie, Latifundisten, rechte regionale Opposition etc. bezeichneten Akteure bilden ein relativ komplexes Konglomerat an Verortungen und Interessen. Das Ziel des Artikels ist es, anhand der Skizzierung der historischen Entwicklung, der existierenden soziökonomischen Basis sowie den Grundlagen des politischen Projektes jener sich selbst als Eliten verstehenden Akteure einen Überblick zu dieser Thematik zu geben und eine Einordnung vorzunehmen. Der Schwerpunkt des Beitrages liegt auf den „Eliten“ der Region in und um Santa Cruz de la Sierra, obwohl damit nicht unterstellt werden soll, dass es in anderen Departements keine ähnlichen, in Opposition zur derzeitigen Regierung stehenden machtpolitischen Akteure gibt.

II. Historische Entwicklung

Während Bolivien nach Erlangung seiner Unabhängigkeit im Jahr 1825 von einer überwiegend nicht aus dem damaligen Altoperu stammenden kreolischen Elite gegründet und regiert wurde, waren die ersten Jahre der Republik von Kämpfen zwischen einzelnen Caudillos geprägt. Von 1890 bis zur Revolution von 1952 wurde das Land von den europäischstämmigen bzw. mestizischen Zinnbaronen dominiert. Die oligarchische Gesellschaft des Tieflandes – auch wenn ihre eigentlichen Anfänge in der kolonialen Eroberung des Oriente (Chaco-Amazonas-Region) liegen – bildete sich erst im Zuge des Kautschukbooms zwischen 1880 und 1915 heraus. Ihre Transformation erfolgte mit der ab der Mitte des 20. Jahrhunderts vom Nationalstaat forcierten Entwicklung (Plan Bohan, Marcha al Oriente) jener bis dahin kaum besiedelten Region. In diesem Abschnitt sollen die wichtigsten ökonomischen und – wo sie sich abzeichnen – politisch-institutionellen Entwicklungslinien der „Eliten“ von Santa Cruz verdeutlicht werden.

1. Kolonialisierungsperiode (1558 – 1809)

Nachdem die ursprüngliche Suche nach angeblich sagenhaften Reichtümern erfolglos geblieben war und die Nahrungsmittelknappheit die spanischen Eroberer zwang sich dem Ackerbau zu widmen, wurde der Landbesitz in und um Santa Cruz zur primären Machtquelle. Die koloniale Phase der Eroberung, Besiedlung und Urbarmachung der Region ab Mitte des 16. Jh.s ging einher mit dem Anbau von Zuckerrohr, Baumwolle und anderen Agrarprodukten im Encomienda-System. Die durch das Cochabambiner Handelsmonopol vertriebenen Erzeugnisse wurden bis in das 19. Jahrhundert hinein vorrangig für die Versorgung der Bergbau-Minen des Hochlandes (Potosí, Sucre) verwendet. Auf der politischen und sozialen Seite bedeutete das die Versklavung, Ausbeutung und enorme Dezimierung der Tiefland-Indigenen, verbunden mit einer politisch gesteuerten Mestizaje sowie einer Akkulturation, deren Hauptanliegen die Bekehrung zum Christentum war.

In jener Zeit bildeten sich die historischen Grundlagen der Machtverhältnisse und des hegemonialen Konstruktes der aktuellen Machtakteure (Familien, Clans) in der Region heraus. Die Verhältnisse wurden allerdings am Ende des 19. Jh. etwas aufgebrochen, als Mitglieder des elitären aber modern ausgerichteten Club Igualitario die patriarchalen und semi-feudalen Strukturen der Cruzener Gesellschaft in Frage stellten. Aus dieser Epoche stammt das zum Teil bis heute kultivierte Selbstbild der traditionellen Familien als „kreolische Grundherren und Eigentümer mit lokaler Macht, basierend auf dem Landbesitz und dem Kampf gegen die ferne Zentralmacht“ (Prado Salmon 2007, 188). Bis heute verkörpern die Gründung der Stadt Santa Cruz de la Sierra (1561) durch Ñuflo de Chavez, die Betonung des Anfangs seines Eroberungszuges in Asunción und die durch eine andauernde „Abwesenheit“ der Zentralregierung hervorgerufene Eigeninitiative der cruceños wesentliche Teile des Mythos, der in starkem Maße die Cruzener Identität prägt. Diese Legende wurde allerdings – meist unter Weglassung oder Verdrehung bedeutsamer Fakten, welche v.a. die indigenen Ethnien betreffen – wesentlich durch lokale Historiker geprägt und kolportiert. Einige Autoren betonen so die kämpferische Widerstandsfähigkeit der Tiefland-Indigenen, wie etwa der Chiriguano, gegenüber den spanischen Eroberern sowie den Inka. Letzteres dient als Argument für einen historisch sehr beschränkten Abgrenzungsdiskurs gegenüber dem vorrangig von Quechua und Aymara geprägten Hochland, ist aber aufgrund der weitaus stärkeren Dezimierung und Assimilierung der Indigenen im Tiefland kaum haltbar. Interessant aus heutiger Sicht ist die folkloristische Vereinnahmung kultureller Praktiken (Tänze, Kleidung) der verschiedenen indigenen Völker des Tieflandes durch die cruceños. Diese Aneignung vollzog sich ab den 1950er Jahren, als die lokale Elite ihren Regionalisierungsdiskurs initiierte und damit eine angeblich gelungene Mestizaje und deren Ergebnis, die neue Identität des cruceño-camba, demonstrieren wollte.

2. Kautschukboom & Chaco-Krieg (1900 – 1935)

Bis zum Kautschukboom um die Jahrhundertwende (19./20. Jh.) war die Region um Santa Cruz vor allem ein Viehzuchtgebiet sowie ein Lieferant von Zucker und der medizinisch verwertbaren Chinarinde. Der bolivianische Kautschukboom erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1900 und 1915. Er führte mehrere zehntausend Personen in das Gebiet um Santa Cruz und verhalf den mit europäischem Kapital ausgestatteten Unternehmungen wie jenen von Antonio Vaca Diez oder Nicolás Suarez, die damals als „Könige des Kautschuks“ galten, zum Aufstieg. Die entweder schon existierenden oder sich im Zuge des Booms formierenden Handelshäuser heuerten Geschäftsführer und Buchhalter aus Europa (v.a. Deutschland und Schweiz) an, von denen etliche wiederum selbst in das Geschäft einstiegen und neue Handelshäuser gründeten. Bedeutende Häuser, deren Namen sehr deutlich auf ihre mitteleuropäische Herkunft schließen lassen, waren u.a. Casa Zeller, Casa Schweitzer und Casa Elsner. Neben den deutschsprachigen kamen Anfang und Mitte des 20. Jh.s (v.a. nach dem Zweiten Weltkrieg) etliche u.a. vom Balkan stammende Migranten hinzu, die heute eine wesentliche Rolle in der regionalen Wirtschafts- und Sozialstruktur spielen. Während der Kautschuk die entscheidende Akkumulationsbasis der herrschenden Klasse von Santa Cruz bildete, schufen die europäischen (und vor allem deutschen) Investitionen sowie das damalige auf Europa und die USA ausgerichtete Rohstoff-Exportmodell die Grundlagen der späteren Weltmarkt- und geringen Binnenmarktintegration der Region. Obwohl die Extraktion des Kautschuks vorrangig im Nordosten des Departements erfolgte, flossen die Gewinne in die Stadt Santa Cruz, wo sie mehrheitlich konsumtiv und für Handelszwecke (Luxusgüter, Immobilien etc.), nicht aber investiv verwendet wurden. Der soziale Aufstieg gelang den wirtschaftlichen „Emporkömmlingen“ über das Einheiraten in altansässige und angesehene Cruzener Familien und mit der Übernahme gesellschaftlicher Funktionen, wie z.B. in der Handelskammer von Santa Cruz. Nachdem der Boom verebbt war, widmeten sich die verbliebenen Handelshäuser neben ihrer originären Funktion dem Ackerbau und der Viehzucht. Zur Abfederung der sozialen Folgen des Niedergangs der Kautschukindustrie gründeten die Land- und Viehbesitzer das Centro de Defensa Social.

Während der verlorene Chaco-Krieg (1932-35) enorme sozialpolitische Folgen für das ganze Land zeitigte, das oligarchische Machtsystem des Hochlandes in eine existentielle Krise geriet und die „Chaco-Generation“ zu den wichtigsten Akteuren des politischen Systems wurden, änderte sich wenig an den Besitz- und Akteursstrukturen des Tieflandes. Wirtschaftlich profitierten die haciendas sogar vom Krieg, da Santa Cruz den kriegsbedingten Rückgang an Nahrungsmittelimporten kompensierte. Zu juristischen Elementen der Absicherung des Landbesitzes wurden die Gesetze Ley de Tierras Baldías (1886) und Ley Complementaria (1905), die ihren Inhabern Titel zusicherten und ihnen auch das Recht gaben, sie zu veräußern. Die Anfänge eines sozialwissenschaftlich beeinflussten regionalen Elitendiskurses, der erstmalig mit modernisierungspolitischen Forderungen verknüpft wurde, geht zurück auf das Memorandum der Sociedad de Estudios Geográficos e Históricos de Santa Cruz von 1904, in welchem damals allerdings für die Integration in den nationalen Markt plädierte wurde. Darauf aufbauend wurde 1920 die Partido Orientalista gegründet, die beide politischen Strömungen (Liberale, Republikaner) vereinte und eng mit den bisherigen „Eliten“ verknüpft, eine regionale Perspektive vertrat. Die Partei, die erstmalig eine Dezentralisierung der Verwaltung forderte, konnte sich aber nur ein Jahrzehnt lang halten.

3. Modernisierung, Agrarreform und Militärdiktaturen (1940 – 1980)

Der liberale und bis dahin auf das Hochland fokussierte Nationalstaat wandte sich nach der Weltwirtschaftskrise und dem Chaco-Krieg erstmals im Zeichen der Importsubstituierenden Industrialisierung gen Osten mit dem Ziel, die nationale Einheit zu stabilisieren, die Agrargüterversorgung des Binnenmarktes sicherzustellen sowie das überbevölkerte Hochland zu entlasten. Der Zentralstaat investierte im Rahmen des Plan Bohan(1941/42) und mit Zustimmung der „Eliten“ größere Summen in die infrastrukturelle (Straße Cochabamba – Santa Cruz), agroindustrielle (Anlagen, Kredite, maschinelle Produktionsmittel) sowie die petroindustrielle Entwicklung der Region. Ab 1940 lässt sich der Mythos der autozentrierten Entwicklung für das Tiefland somit nicht mehr aufrechterhalten. Diese Tatsache wird im Angesicht der heutigen Fundamental-Opposition der Cruzener „Eliten“ gegen den von La Paz aus gesteuerten Zentralstaat gerne verschwiegen.

Noch viel signifikanter wird der Einfluss des Nationalstaates auf die Landbesitzstrukturen von Santa Cruz im Zuge der Agrarreform von 1952. Während die im Hochland existierenden Latifundien nahezu zerschlagen und an indígenas und campesinos verteilt wurden, profitierte das Tiefland genau entgegengesetzt von den kapitalistischen Entwicklungsplänen für die Region. Die haciendas blieben unangetastet und wuchsen im Laufe der Zeit in ihrer Größe noch an. Und das, obwohl bis dahin überwiegend kleinteilige ländliche Besitz- und Produktionsstrukturen die Verhältnisse im Osten geprägt hatten. Das Anwachsen von Landbesitz wurde vor allem durch die Schenkungen verschiedener Regierungen an Privatpersonen, Unternehmen sowie Kooperativen begünstigt. Dabei zeigten sich die Militärdiktatur von Hugo Banzer (1971-78) und die Regierung unter Jaime Paz Zamora (1989-93) am großzügigsten. Zwischen 1953 und 1994 erhielten im Departement Santa Cruz 316 Einzelpersonen Land in der Größenordung von 5.477.444 Hektar, was einem Umfang von 14,78 Prozent der Gesamtfläche der Region entspricht. Von dieser Fläche wurden allein in den sieben Jahren unter Banzer 51 Prozent vergeben. (1) Zusätzlich erhielt Santa Cruz im Zusammenhang mit der Bewirtschaftung dieser Ländereien Produktionskredite, von denen das Departement zwischen 1955 und 1984 37 Prozent der nationalen Gesamtsumme vereinnahmte (= 214,33 Mrd. Bolivianos), wovon zumeist mittlere und größere Besitzer profitierten. Ein Teil dieser Schulden wurde 1976 unter der Regierung Banzer verstaatlicht, was die Region nicht davon abhielt, bis 1985 wiederholt zum größten departementalen Schuldner der Bolivianischen Landwirtschaftsbank (BAB) aufzusteigen. Die Gelder wurden für finanzielle und spekulative Geschäfte, aber kaum für Investitionen im Agrarsektor genutzt. Einer der größten Geber dieser Kredite waren die USA, die im Zuge der Übernahme der Auslandsaktivitäten des niedergegangenen Britischen Imperiums nach dem Zweiten Weltkrieg und aufgrund des beginnenden Kalten Krieges „kalte Füße“ angesichts der bolivianischen Revolution von 1952 und einer möglichen kommunistischen Ausrichtung des Landes bekommen hatten. Mit ihrer finanziellen Hilfe sollte nach dem Niedergang der Zinnbarone des Hochlandes eine neue agroindustrielle Klasse geschaffen werden, über die sich die Geschicke des Landes lenken ließen – ein politisches Projekt, das bis 1985 gefördert wurde. Nichtsdestotrotz änderten sich in dieser Zeit die semifeudalen prä-kapitalistischen Besitz- und Produktionsverhältnisse hin zu einer agroindustriellen Exportwirtschaft (Zucker, Baumwolle), in der die Lohnarbeit eine zentrale Rolle spielte. Weiterhin differenzierten sich die Verhältnisse zwischen Landwirtschaft und Industrie aus. Externes Kapital wurde in Santa Cruz und regionales Kapital landesweit investiert. Es entstanden neue Bank- und Handelsunternehmungen . Der ab Ende der 1950er Jahre wachsende Erdölsektor im Chaco sorgte für eine steigende Nachfrage nach modernen Dienstleistungen, deren Aufbau sich meist unter der Ägide der etablierten und dominierenden Familien vollzog.

Obwohl die vom Staat fokussierte Entwicklung des Tieflandes zuerst eine Interessenkongruenz erzeugte, liegen in den Auseinandersetzungen der 1950er Jahre die Wurzeln des Konfliktes der Region Santa Cruz mit dem Zentralstaat. Die ersten Auseinandersetzungen resultieren aus den Maßnahmen der lokalen MNR-Regierung, die versuchte, urbanes Land aufzuteilen und eine Devisenbeschränkung einzuführen. In dieser Periode entstanden wichtige politische Organisationen, die die Diskurshoheit über die regionale Identität sowie die theoretisch-praktische Abgrenzung gegenüber dem Zentralstaat an sich rissen. Die wichtigste Institution war das 1950 gegründete Comité Cívico pro Santa Cruz, das sich Ende der 1950er Jahre im „Kampf“ um die Durchsetzung eines aus dem Jahr 1938 stammenden Gesetzes über einen departementalen Förderzins aus der Erdölförderung (11 Prozent) etablierte und dabei eine zivile Basis mobilisierte. Die uneinigen Protagonisten der krisenhaften und durch Gewalt geprägten Jahre 1955-1959 waren die regionale Führung des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), die im Comité Cívico versammelten Cruzener „Eliten“ (Landbesitzer, neue Unternehmer, Intellektuelle, rechte Politiker, die Nachfahren der deutschen Handelshäuser) sowie die nationalistische, in Opposition zur MNR-Regierung stehende Partei Falange Socialista Boliviana (FSB).

Unter den Militärregierungen von René Barrientos (1964-65 und 1966-69) und dem selbst aus dem Departement Santa Cruz stammenden Hugo Banzer (1971-78) nahmen einige Vertreter der Cruzener „Eliten“ am jeweiligen Kabinettstisch Platz und erlangten dadurch zum ersten Mal Einfluss auf nationaler Ebene – unter Banzer immerhin ein Drittel der Minister. Wie bereits verdeutlicht, profitierte die den Militärputsch wohlwollend unterstützende Cruzener „Elite“ auch wirtschaftlich von der Regierung Banzer. Das Bürgerkomitee stellt sich Ende der 1970er Jahre allerdings gegen ein von der Regierung initiiertes Projekt der Zuckerindustrie in San Buenaventura und auch gegen ein geplantes Bürgerkomitee auf nationaler Ebene. Damit verstärkte sich die Opposition gegenüber dem als zentralistisch angesehenen Staat weiter und man ließ deutlich die Verfolgung regionaler Eigeninteressen erkennen. Aufgestiegene und migrierte Unternehmer eigneten sich meist den Diskurs des Bürgerkomitees an, „über den die prinzipiellen Bezüge zu einer Cruzener Identität hergestellt und die Konsolidierung der gegenwärtigen Hegemonie erreicht [wurde]“ (Peña Claros 2007, 124). Aufgrund einer Zäsur in der Flexibilisierung der sozialen Mobilität traten neben den traditionellen Maßstäben der Familienzugehörigkeit und des Landbesitzes nun auch die Kriterien der Professionalisierung und des technischen Wissens hinzu.

4. Neoliberalismus bis zu Gegenwart (ab 1985)

Im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung Boliviens mittels einer von der Weltbank finanzierten Wirtschaftspolitik (NPE) ab 1985, orientierte sich die Region Santa Cruz verstärkt in die Richtung des internationalen Handels und des Exportes von Agrarprodukten. Sie stieg dadurch zur zentralen Wirtschaftsregion des Landes auf. Davon profitierte besonders der Sojaanbau, für den die Agrargrenze immer weiter verschoben und intensiver Raubbau an der Natur – in Form von großflächigen Waldrodungen – betrieben wurde. Trotz verschiedener Subventionen (z.B. Diesel) hat sich in der Region kein auf Weltmarktniveau wettbewerbsfähiger Exportmarkt für Soja herausgebildet. Hinzu kommt, dass dieser Markt von transnationalen Unternehmen beherrscht wird. Damit im Zusammenhang steht die Penetration der Region durch ausländisches Kapital, die für Santa Cruz neben der internationalen Ausrichtung der Wirtschaft ab Ende der 1980er Jahre kennzeichnend ist.

Die politischen Interessen der Cruzener „Eliten“ wurden in der neoliberalen Epoche durch verschiedene Minister in den jeweiligen Regierungen sowie Abgeordnete und Senatoren der traditionellen Parteien (ADN, MNR, MIR, UCS) vertreten. Einen wichtigen sozialen Faktor bildeten die immensen Migrationsströme (v.a. aus dem Hochland), die seit den 1980er Jahren in das Departement flossen und demografische, kulturelle, soziale und politische Veränderungen hervorgerufen haben. Sie verstärkten die vom Comité Cívico geführte Diskussion um eine eigene Cruzener Identität und charakterisieren bis heute den Diskurs der cruceñidad bzw. die konstruierte Dichotomie camba-colla. In dieser Zeit entstehen neue soziale, nicht-elitäre Akteure wie die Nachbarschaftsräte (FEJUVE), Gewerkschaften wie die Central Obrera Departamental (COD) Santa Cruz sowie die durch das Gesetz der Volksbeteiligung zu mehr Einfluss gekommenen Gemeinden. Daneben bilden sich Organisationen von Agrarkolonisatoren oder den indigenen Völkern des bolivianischen Ostens heraus. Wichtige Repräsentanten der Nachbarschaftsräte, der COD sowie der indigenen Organisation Confederación de Indígenas de Bolivia (CIDOB) wurden zumindest zeitweise für die Unterstützung des Comité Cívico vereinnahmt. Weitere „Aufsteiger“ der neoliberalen Episode sind die Mitglieder einer neureichen Schicht, die durch illegalen Drogenhandel (Kokain) unter den Militärdiktaturen zu Reichtum gekommen waren und in welcher etliche Großgrundbesitzer, Viehzüchter oder ranghohe Militärs zu finden sind.

Die sich mit dem Wasserkrieg von Cochabamba im Jahr 2000 verstärkt abzeichnende politische Krise Boliviens zeigte sich mit dem Ende der paktierten Demokratie, dem Scheitern des neoliberalen Modells, der Delegitimierung des traditionellen Parteiensystem, der Zunahme von Konflikten sowie gesellschaftlichen Erwartungen einer transparenteren Demokratie und eines besseren Lebensstandards verbunden. Sie generierte einen „offenen Transformationsprozess, [angetrieben] von einem Machtkampf um politische und soziale Inklusion und um den Zugang zu den wirtschaftlichen Ressourcen […]“ (Quiroga 2006, 79). Hinzu kam ein seitdem „gewachsenes politisches Selbstbewusstsein“ der indigenen Bevölkerung gepaart mit dem „Rückbezug auf ethnische Wurzeln“ (Jost 2006, 5). Zusätzlich wurde dies durch die fortschreitende transnationale Einbindung (Kapitalisierung) einheimischer Unternehmen sowie eine erneute Veränderung der Verhältnisse zwischen Staat und Region/en begleitet. Vor allem die Krise von Oktober 2003 (guerra del gas) und die darauf basierende Agenda de Octubre der sozialen Bewegungen kann als Zäsur für die Stilllegung eines ohnehin nicht vollständig ausgeprägten nationalen Hegemonieprojektes der Cruzener „Eliten“ und ihre Einkapselung in einen regionalen Diskurs gesehen werden. Letzterer ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale:

  • die Entgegensetzung der Region zum Zentralstaat,
  • die Darstellung des Konfliktes Staat – Region als einzigem signifikanten historischen Konflikt unter Negation der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Region,
  • die Präsentation der Cruzener Entwicklung als rationalem und fortschrittlichem Modell, sowie
  • die Betonung der Cruzener Mentalität als Antrieb des wirtschaftlichen Wachstums der Region.

Die vom Comité Cívico 2004 nach einer offenen Bürgerversammlung (cabildo) proklamierte Agenda de Junio mit dem Ruf nach Autonomie als wichtigster Forderung kennzeichnet den Anfang einer relativ starken Mobilisierungs- und Verhandlungsmacht des Komitees in der jüngeren Vergangenheit.

III. Aktuelle Machtakteure und -faktoren in Santa Cruz

Laut Prado existiert eine Verbindung zwischen der ökonomischen (Macht)Basis („Struktur“) und dem juristisch-politisch-institutionellen sowie ideologischen Überbau („Superstruktur“) jener regionalen „Eliten“. Während die ökonomische Basis vor allem in den Sektoren Landwirtschaft und Agrarindustrie, industrielles Gewerbe sowie Handel, Finanzen, Versicherungen und Dienstleistungen zu finden ist, wird die „Superstruktur“ durch politisch-institutionelle (Parteien, Institutionen), zivilgesellschaftliche (Bürgerkomitee), symbolisch-ideologische (Identitäts-Diskurs) und soziale (Herkunft, Abstammung, Familienstrukturen) Machtfaktoren gebildet. Seiner Darstellung soll hier ansatzweise gefolgt werden. Wie Prado aufzeigt, hat sich ab den 1960er Jahren eine neue und äußerst heterogene Cruzener „Elite“ herausgebildet, welche sich aus verschiedenen Akteursgruppen zusammensetzt. Dazu gehören:

  • traditionelle Cruzener Familien, die von Renten (Land, Förderzins etc.) leben,
  • traditionelle Familien, die sich modernisiert haben und v.a. in der Landwirtschaft tätig sind (große Rohstofferzeuger),
  • traditionelle Familien, die von der staatlichen Entwicklung der Region profitiert haben,
  • die so genannten „Neureichen“ die unter den Regierungen des MNR, sowie von Barrientos und Banzer aufgestiegen sind (cruceños und Migranten),
  • Migranten (v.a. aus dem Hochland sowie aus Europa und dem Nahen Osten), die sich dem Handel, aber auch der Landwirtschaft verschrieben haben,
  • lokale und migrierte Professionelle (Ingenieure, Ärzte, Architekten), die sich zum Teil in Dienstleistungs- und Gewerbeunternehmer verwandelt haben,
  • ausländische Unternehmer und Techniker von transnationalen Firmen, die zwar nicht Teil des politischen Projektes sind, aber gesellschaftlich in den zugehörigen sozialen Schichten verkehren.

Hinsichtlich der ökonomischen Basis fallen besonders die folgenden Verbindungen auf:

  • Landwirtschaft/Agrarindustrie: der enorme Einfluss der departementalen Organisationen wie der Landwirtschaftskammer (CAO), der Exportkammer (CADEX) und der Industrie- und Handelskammer (CAINCO), wobei die ideologische Kontrolle bei den Exporteuren (v.a. Soja) liegt: CAINCO gilt als eine der zentralen Institutionen im Prozess der Konstruktion und der Aufrechterhaltung eines hegemonialen Diskurses in Santa Cruz, die Organisationen CAO, Fegasacruz und Forstkammer dagegen als konservative Verteidiger in der Landfrage gegenüber dem Staat;
  • Viehzucht: innerhalb dieses prestigeträchtigen und mittlerweile hochmodernen Sektors finden sich traditionelle Familien (u.a. Monasterios), die zum Teil direkt in verschiedene Organisationen eingebunden sind, wie etwa J. G. Justiniano (†) und W. Ribera (CAO), F. Teodovich und A. Franco vom Viehzüchterverband (Fegasacruz) sowie D. Montenegro vom Verband der Öl- und Weizenproduzenten (ANAPO );
  • weitere wichtige und einflussreiche Sektoren sind: Forstwirtschaft; Handel und Dienstleistungen, der Finanzbereich (mit Aktienbeteiligungen bedeutender Cruzener Familien wie Monasterios, Kuljis, Gasser etc. an Regionalbanken); die Rohstoffindustrie (Zucker, Alkohol, Leder, Baumwolle) sowie die diskursiv wichtigen Kommunikationsmedien.

Die in diesen Sektoren involvierten Familien haben ausgehend von einem traditionellen bzw. angestammten Sektor ihre Aktivitäten diversifiziert und regelrechte Familienimperien geschaffen. Beispielhaft steht dafür der aus Kroatien stammende Mateo Kuljis, der ein bedeutendes Cruzener Wirtschaftsimperium aufbaute. Die Geschäfte und Aktivitäten seiner Söhne verdeutlichen die in Santa Cruz existierenden „Verquickungen“: Walter Kuljis ist technischer Geschäftsführer der Lohgerberei Vis Kuljis, ist Züchter von Rasserindern auf der hacienda „La K de Oro“, Eigentümer des Schlacht- und Kühlunternehmens Fridosa, Direktor der Banco Económico und Präsident des brasilianischen Gerbereiunternehmens USIBRAS (mit 70 Prozent Aktienbesitz); Ivo Kuljis ist Besitzer der Firmen Kupel e Indupel, der TV-Sender-Kette Red Uno de Bolivia und Präsident der bolivianischen Vertretung der internationalen Unternehmergruppe GEICOS. Er war Präsident der CAINCO, der Unternehmer-Messe FEXPOCRUZ, Honorarkonsul in Guatemala, bolivianischer Vizepräsidentschafts-Kandidat für Carlos Palenque 1993, Präsidentschaftskandidat der UCS 1997 und Minister für wirtschaftliche Entwicklung unter Banzer (1997). Tomislav Kuljis ist Präsident der Exportkammer (CADEX) und Besitzer der Supermarktkette Hipermaxi.

Zu den wichtigsten Familien in Santa Cruz zählen:

  • Familien mit nicht-bolivianischer Herkunft: Roda (Spanien), Kuljis (Kroatien), Wille (Deutschland), Marinkovic (Kroatien), Gasser (Belgien), Daher (Libanon);
  • traditionelle Cruzener Familien: Monasterios, Gutiérrez, Saavedra, Parejas, Landívar;
  • Familien aus dem Rest des Landes mit Grundbesitzerwerb in Santa Cruz: Roig, Romero, Petricevic, Pacheco.

Die in sich homogenen, clanartig organisierten, untereinander vernetzten und diversifizierten Familien bilden mit ihren städtischen und regionalen ökonomischen Aktivitäten die wirtschaftliche Machtbasis der Cruzener „Eliten“. Dazu kommen die über den Förderzins (regalías), die direkte Steuer auf Kohlenwasserstoffe (IDH) und andere Abgaben vereinnahmten Gelder, die von der Präfektur und der Kommune verwaltet werden und sich damit quasi in den Händen der Autonomiebefürworter befinden. Auch der Vorsitzende des Bürgerkomitees Branco Marinkovic sowie der Präfekt Rubén Costas sind Teil der wirtschaftlichen und sozialen „Elite“ des Departements. Die Zeitschrift el juguete rabioso listete sie in einer Ausgabe von 2005 neben Zvonko Matkovic, Carlos Dabdoub, Oswaldo Monasterios, Ivo Mateo Kuljis u.a. als „Anführer der camba-Autonomie“ auf und stellte ihre wirtschaftlichen, parteipolitischen und persönlichen Verflechtungen dar. Auf der ökonomischen Seite reichen die „Verquickungen“ von Marinkovic, neben einer einflussreichen Position bei Industrias Oleaginosas Limitada (Soja) bis hin zur transnationalen Erdölindustrie. Marinkovic ist Teilhaber des Ölpipeline-Unternehmens Transredes, welches sich zu 50 Prozent im Besitz von Enron und Shell befindet. Er vertritt eine Anti-Mercosur-Position und sprach sich bisher für ein bilaterales Freihandelsabkommen mit den USA aus. Costas, eher ein Aufsteiger und Unternehmer der wachsenden Mittelschicht, besitzt neben Verbindungen zu Ivo Kuljos ebenfalls gute Kontakte in diesen Industriezweig und amtierte auch schon als Vorsitzender der Viehzüchtervereinigung Boliviens sowie der Landwirtschaftskammer des Ostens.

Die oben genannten Faktoren der „Superstruktur“ sind insoweit unvollständig, als der politisch-institutionelle Part mangels einer oder mehrerer starken Partei/en substituiert wird durch zivilgesellschaftliche oder wirtschaftliche Akteure, die stark institutionalisiert und vernetzt sind und innerhalb derer ein Schema der „korporativen Kooptierung mit intelligenten Mechanismen der Anerkennung und sozialer Kontrolle“ erkennbar ist. Das Bürgerkomitee fungiert als politischer Akteur, der fast wie eine regionale Partei auftritt und mit symbolischer (Identität) und politischer Macht (Autonomie) sowie einem realen Gewaltpotential (Jugendunion Santa Cruz) ausgestattet ist. Die symbolisch-ideologische Macht üben die Cruzener „Eliten“ mittels kulturell-informationeller Kontrolle über die Massenmedien aus, wie von Chalup/Hollweg (2006) in einer Analyse des Pro-Autonomiediskurses in der Tageszeitung El Deber gezeigt wird. Die soziale Macht wird dagegen von den althergebrachten Privilegien der sozialen Herkunft bzw. dem nach wie vor existierenden kollektiven Selbstbild der traditionellen Familien abgeleitet.

Santa Cruz - Machtakteure

Die genannten Akteursgruppen, verfolgten ab den 1960er Jahren eine neue institutionelle und diskursive Strategie, die durch verschiedene historische Stationen gekennzeichnet ist:

  1. Die Gründung einer Interessenvertretung in Form des Bürgerkomitees (bereits 1950),
  2. Die Einrichtung lokaler Institutionen (Kooperativen für die Grundversorgung),
  3. Die Gründung von Zunftstrukturen in den 1970ern,
  4. Die Gründung von Logen über die informell, vor der Öffentlichkeit verborgen, wichtige Institutionen kontrolliert werden,
  5. Die Unterstützung durch die politischen Parteien,
  6. Die Erneuerung des Cruzener Diskurses infolge der starken Migration (inklusives Modell, wichtige Rolle der CAINCO),
  7. Mit dem Ende der Regierung Sánchez de Lozada und dem Niedergang der traditionellen Parteien sowie der subjektiv wahrgenommenen „indigenistischen und linken Bedrohung“ ein von den „Eliten“ erneuertes regionales Projekt mit der Präfektur als neuem politischen Akteur sowie einer verstärkten Nutzung der Kommunikationsmedien,
  8. Das Agieren des Bürgerkomitees als Quasi-Partei verbunden mit Bemühungen um Inkorporation bisher vernachlässigter sozialer Schichten (Indigene, die Führer der Nachbarschaftskomitees, Arbeiter), sowie
  9. Autonomieforderung und Bürgerversammlungen als Homogenisierungsmechanismen für die Massenbasis des Cruzener Bürgerkomitees.

Zusammenfassend gesehen hat sich der regionale Diskurs wie folgt entwickelt: Angefangen mit den Beschwerden über die Abgeschiedenheit und die Passivität der Zentralregierung ging man dazu über, eine verstärkte Dezentralisierung (später als Autonomie definiert) zu fordern, um ein gefühltes Ausbremsen der regionalen Entwicklung durch die Zentralregierung zu verhindern. Im aktuellen Disput über sich zwei entgegenstehende Entwicklungsmodelle (Staatskapitalismus verbunden mit Umverteilung und Eigentumsbeschränkungen vs. Liberaler Freihandels-Kapitalismus à la Santa Cruz) sieht Prado auf der regionalen Ebene zwei diskursive Autonomiemodelle: zum einen ein radikales, von einer Minderheit getragenes separatistisches Modell (Nación Camba) und zum anderen die Proklamation des Cruzener Entwicklungsmodells als Projekt mit nationalem Anspruch, getragen von den Institutionen CAINCO und Bürgerkomitee, unterstützt von internationalen Organisationen.

Die Strategie der Machtausübung bündelt sich in allen bisher angesprochenen Punkten und beruht auf den folgenden drei Pfeilern:

  1. Dem historisch gewachsenen, angespannten Verhältnis der Region mit der Zentralmacht,
  2. Dem Verhältnis der regionalen „Elite“ zu einer (noch genauer zu bestimmenden) zivilen Basis und
  3. Dem Diskurs der regionalen Identität, der regionalen Autonomie und des Cruzener Entwicklungsmodells.

IV. Einordnung

Die Frage ist nun, welche Form der Herrschafts- bzw. Machtausübung die „Eliten“ von Santa Cruz tatsächlich praktizieren. Am treffendsten scheint die Charakterisierung der Cruzener „Eliten“ als einer Art moderner regionaler Oligarchie. Wenn man die Oligarchiedefinition von Herzog anwendet, wird unter dem Begriff die dauerhafte Herrschaft bzw. Machtausübung einer kleinen Gruppe von Personen verstanden (Herzog 2005, 636). Auf den regionalen Bereich von Santa Cruz übertragen, könnte man sogar von einer oligarchischen Unterform, der Plutokratie, sprechen. Bei dieser Subkategorie von Oligarchie wird die politische Vormachtstellung der Herrschenden vorwiegend durch ihren Besitz begründet. Und wie weiter oben gezeigt wurde, sind es vor allem die Kriterien (Land)Besitz und, wenn auch nicht mehr ganz so wichtig wie früher, die familiäre Herkunft, die eine entscheidende Rolle für die Elitenzugehörigkeit in Santa Cruz spielen. Es sind vor allem die alteingesessenen Familien die ihre historische Tradition betonen und einen Reproduktionsmodus pflegen, der ihren Sippschaften einen clanartigen Charakter verleiht. Letzteres gilt ebenso für die im 19. und 20. Jahrhundert hinzugekommenen Familien, die bedeutende und weit verzweigte (Land)Wirtschaftsimperien aufgebaut haben.

Wie auch schon anhand anderer Länder Lateinamerikas gezeigt wurde (Zinecker 2005, 156f.), verbindet sich in Santa Cruz – wenn auch auf regionaler und nicht auf nationaler Ebene – die wirtschaftliche Kontrolle der Produktionsmittel auf der Basis von Landbesitz mit der politischen Macht in wenigen Händen. Ein weiteres Merkmal der Cruzener Elite, das auch schon die lateinamerikanischen Oligarchien des 19. Und 20. Jh.s kennzeichnete (u.a. Carmagnani 1984, 9), ist ihre geringe Binnenmarkt- und starke Weltmarktintegration verbunden mit einer Abschöpfung der wirtschaftlichen Renten. Im Laufe der Zeit hat sich in Santa Cruz ein relativ komplexes Interessenkonglomerat gebildet, das logischerweise nicht als ein vollständig homogener Machtblock angesehen werden kann. Die von den sozialen Bewegungen und indigenen Organisationen aufgeworfene und nun von der Regierung vertretene Frage widerrechtlich angeeigneter bzw. unproduktiv oder spekulativ genutzter Landflächen, ist auf Seiten der Oligarchie der kleinste gemeinsamen Nenner mit einem enormen Mobilisierungspotential. Die Landfrage (Enteignung, Umverteilung) spielt neben den Einnahmen aus der Kohlenwasserstoffgewinnung und ihrer Verwendung ohnehin die Schlüsselrolle in Autonomie- oder etwaigen Separationsbestrebungen. Wie im Artikel dargestellt wurde, existieren dominante Institutionen wie das Bürgerkomitee, CAO, CAINCO und Fegasacruz, die in der Autonomie- oder der Landfrage einen enormen Einfluss ausüben und fast ausschließlich die Interessen der wohlhabenden und besitzenden Familien und Unternehmer repräsentieren.

Alle aufgeführten Fakten führen in Santa Cruz damit zu einer Herrschaft der Wenigen und einer sozialen und politischen Exklusion weiter Teile der Bevölkerung. Schon deshalb sollte in diesem Fall unbedingt eine Unterscheidung zwischen Eliten im klassischen soziologischen Sinn und einer herrschenden Klasse im ökonomischen oder symbolischen Sinn getroffen werden. Auch wenn der Elitebegriff des Öfteren im Text verwendet wurde, ist es sinnvoll die Machtakteure von Santa Cruz als herrschende Klasse zu charakterisieren. Die hohe Steuerungskapazität ökonomischer, politischer und (wenn auch geringer) sozialer Prozesse, die ökonomischen (Produktionsmittel, Kapital), politischen (wichtige Institutionen, zivile Basis/Mobilisierung) und theoretisch-symbolischen (Diskurshoheit, Medienbesitz) Ressourcen, die Kooptionsfähigkeit von führenden Mitgliedern sozialer Sektoren, das real vorhandene Gewaltpotential (Jugendunion Santa Cruz) unterstreichen dieses Argument nur zu deutlich. Hinzu kommt die seit 2005 existierende politische Legitimierung der Präfektur über mehr oder weniger demokratische Wahlen.

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(1) Die momentan größten privaten Ländereien im Departement Santa Cruz werden von etwa 15 Familien kontrolliert. Sie besitzen zusammen 512.085 Hektar Land, was ungefähr der doppelten Größe des Saarlandes entspricht. Zu diesen Familien gehören: Saavedra Bruno Tardío; Monasterio Nieve; Justiniano Ruiz; Roig Pacheco; Rapp Martínez und andere; Antelo Urdininea; Keller Ramos; Candia Mejía; Castro Villazón; Ovando Candia; Roberto Fracaro; Sánchez Peña; Larsen Nielsen Zurita; Bauer Elsner und das Unternehmen Agropecuaria OB S.R.L. (La Prensa, La Paz, 21/04/08: La tierra en Santa Cruz está concentrada en 15 familias).

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Literatur:

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1 Kommentar

  1. Horst G Ludwig sagt:

    Ein ausgezeichneter und sorgfältiger Artikel. Herzlichen Glückwunsch dafür. Mit freundlichen Grüssen aus Kolumbien Horst G Ludwig

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