Der Schriftsteller Víctor Montoya und sein literarisches Werk stehen in typischer Weise für eine bolivianische Lebenswirklichkeit, die bisher nur wenig Beachtung gefunden hat. Montoyas Biographie und seine Erzählungen spiegeln die Gegensätze und Kämpfe, die viele Bolivianer auszuhalten hatten und haben. Zwischen den Polen von Macht und Ohnmacht, Geschichtsbewusstsein und –vergessenheit erzählen seine Protagonisten von gelebter und unterdrückter Identität, von Marginalität und Engagement, von Sehnsucht und Missachtung.
Immer wiederkehrendes Thema seiner Erzählungen ist die Lebenswelt des Bergbaus im bolivianischen Hochland. Alltag, Tradition, Glauben und Geschichte der Bergarbeiter, der sogenannten mineros, durchziehen Montoyas gesamtes erzählerisches Werk, das dabei nicht nur ein Dokument andiner Kultur darstellt, sondern ebenso als Dokument des Widerstandes, vor allem des proletarischen Widerstandes, betrachtet werden muss.
Über die Alltagskultur der mineros zu schreiben bedeutet für Montoya auch, über die Misere ihres Lebens, ihre politische und soziale Unterdrückung zu schreiben. Seine Texte versäumen es nie, auch einen tiefen Einblick in die jeweiligen Kontexte zu geben, um auf diese Weise ein umso genaueres Bild der tragischen und in vielen Fällen grausamen Realität der bolivianischen mineros zu zeichnen. Vor allem sein 1991 erschienener Erzählband „Cuentos violentos“ entwickelt Bilder einer kaum zu ertragenden Brutalität, welche die Erfahrungen junger, politisch engagierter Bergleute schildern. Die Protagonisten – und auch Protagonistinnen wie etwa in „Me podrán matar, pero no morir“ – dieser Erzählungen verleihen damit den Unterdrückten, Gefolterten und Verschwundenen eine hörbare Stimme, die sich gegen das Vergessen richtet und einen unverzichtbaren Beitrag zu einer kaum entwickelten offiziellen Erinnerungskultur leistet.
Víctor Montoya selbst ist ein Beispiel jener gewalttätigen Vergangenheit, die viele Bolivianer ins Exil trieb. 1958 in La Paz geboren, wuchs er ab seinem zweiten Lebensjahr in den Bergarbeitersiedlungen Siglo XX und Llallagua im Norden von Potosí auf. Siglo XX war zur damaligen Zeit ein Zentrum radikaler linker Ideen und spielte in der Arbeiterbewegung Boliviens eine wichtige Rolle. Viele mineros organisierten sich in linken Parteien und Gewerkschaften, welche jedoch mit der Machtübernahme René Barrientos Ortuño verboten und verfolgt wurden. 1967 musste Montoya als neunjähriger miterleben, wie das Militär in die Bergarbeitersiedlungen eindrang und wahllos Menschen erschoss. Dieses Massaker von San Juan fand keinen Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung Boliviens. Unter den mineros hat sich jedoch die Erinnerung an diese Tragödie in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und wird durch mündliche Erzählungen an jüngere Generationen weiter getragen. Auf diese Weise entschwinden ihre traumatischen Erlebnisse nicht in einer diffusen Vergangenheit, sondern bleiben durch ihre Artikulation Teil der Gegenwart. Bis 1976 engagierte sich Montoya als Studentenführer, doch mit Beginn der Militärdiktatur Hugo Banzers wurde er aufgrund seiner politischen Aktivitäten verfolgt. Er floh in den Untergrund, versteckte sich im Inneren von Bergbauminen und in einem Haus in Oruro, wurde jedoch schon nach wenigen Monaten gefasst und verhaftet. Während seiner Gefangenschaft in einem Hochsicherheitsgefängnis, in dem er wie viele andere Folter und Erniedrigung erlebte, gelang es ihm heimlich zu schreiben und mit Hilfe seiner Mutter seine Niederschriften aus dem Gefängnis zu schmuggeln. So entstand sein erstes Buch „Huelga y represión“, in dem er Zeugnis über seine Erlebnisse ablegte. Ein Jahr später konnte er dank einer internationalen Kampagne von Amnesty International aus dem Gefängnis befreit und ins Exil nach Schweden gebracht werden. Bis heute lebt und arbeitet Montoya als Autor, Journalist und Dozent in Stockholm.
Trotz der zeitlichen und räumlichen Entfernungen ist Bolivien das große Thema seiner Erzählungen, Novellen und Essays. Besonders die Lebenswelt der mineros bildet eine thematische Konstante in seinem literarischen Werk. Doch während er in seinen frühen Schriften vor allem die Lebensbedingungen der bolivianischen Bergleute aus sozio-ökonomischer und politischer Perspektive reflektierte und interpretierte, ist mit seinem Erzählband „Cuentos de la mina“ (2000) eine ganz neue Form der sogenannten literatura minera entstanden. Die Erzählungen bieten ein Panorama andiner Lebenswelt am Beispiel der Bergarbeiter, sie erzählen von den Legenden, Mythen, Ritualen, Zeremonien und Symbolen der cultura minera und sind als Literarisierung mündlicher andiner Traditionen zu verstehen. Offensichtliches Element dessen sind die vielen Aymara– und Quechua-Wörter in seinen Erzählungen, denen immer ein Glossar anhängt, um den Leser mit der Terminologie der mineros vertraut zu machen Protagonist und Mittelpunkt seiner 18 Erzählungen ist el Tío, widersprüchliche, vielschichtige Gottheit der mineros. Zugleich dämonisch und heilig entscheidet er über Leben und Tod der Männer in den Bergwerken und ihrer Familien. Wie ein König thront er unter der Erde, in den dunklen, feuchten Gängen der Bergwerke wartet er auf die Huldigungen und Opfergaben der mineros. All diejenigen, die ihn nicht ehren, ihm nicht mit dem entsprechenden Respekt begegnen und ihm weder Alkohohl noch Koka oder Zigaretten darbieten, straft er mit grausamer Gewalt. Seine launische Natur lässt ihn in dem einen Moment als gütigen Herrscher erscheinen, der Wünsche erfüllen und Erfolge bieten kann. Im nächsten Moment erscheint er als rachsüchtiger und blutrünstiger Gott, vor dem es kein Entrinnen geben kann, weil man immer wieder auf ihn zurückfällt. Schon viele mineros sind durch Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit im Umgang mit el Tío verrückt geworden oder gestorben.
Als libidinöser Verführer verlässt el Tío von Zeit zu Zeit sein Reich, nimmt menschliches Antlitz an und zieht mit unersättlichem sexuellen Appetit durch die Siedlungen der Bergarbeiter auf der Suche nach ihren Frauen und Befriedigung. Seine Verführungskünste beziehen sich jedoch keineswegs nur auf Frauen, in einigen Fällen nimmt er selbst die Gestalt von Frauen an, um arglose mineros zu verführen. El Tíos Verführungskünste offenbaren seine Macht, die Mann und Frau zum Spielball seiner Obsessionen werden lassen. Häufig werden sie sich erst nach vollzogenem Akt dessen gewahr, dass es el Tío war, der sie verführte. Nicht selten endet jedoch für Männer, die sich von ihm in Gestalt einer Frau (die häufig der Virgen del Socaván ähnelt) in die Tiefe der Stollen locken lassen, die sexuelle Begierde in einem grausamen Tod als Rache für ihm entgegengebrachte Respektlosig- oder Unachtsamkeiten.
Die multiplen Persönlichkeiten el Tíos, die heilige und dämonische Eigenschaften in sich vereinen, ergänzen einander und spiegeln die Vielschichtigkeit des Glaubens in der cultura minera. Montoya versteht el Tío als einen der bedeutendsten Ausdrücke eines religiösen und kulturellen Synkretismus, der Elemente der katholischen Religion und eines uralten Heidentums miteinander verbindet. Als Heiliger ist er dazu in der Lage Menschen zu befreien, als Inkarnation des Teufels kann er sie versklaven. Zu jeder Zeit ist el Tío ihr Begleiter, er verfolgt sie, penetriert sie, schützt sie, inspiriert sie.
Víctor Montoya versucht mit „Cuentos de la mina“ die Legenden und Mythen der mineros bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen. Er fängt mit seinen Erzählungen die faszinierende, lebendige und immer wieder bedrückend grausame Atmosphäre der cultura minera ein, die ihn sein Leben lang auch außerhalb Boliviens begleitet und geprägt hat. „Cuentos de la mina“ sind Montoyas Hommage an el Tío und das phantastische Universum der andinen Bergarbeiterkultur.
Literatur:
www.sololiteratura.com
www.ficticia.com
www.narradores.cjb.net
www.bolpress.com/art.php?Cod=2008092909