Seit Jahrzehnten tobt in Bolivien ein Kampf um den Reichtum des Landes. Die alten Eliten wollen sich mit einem Referendum gegen Macht- und Landverlust wehren
Am 10. August stellt sich Boliviens Präsident Evo Morales einer Wahl der besonderen Art. Der Führer der MAS – Bewegung zum Sozialismus trat sein Amt vor gut zwei Jahren mit dem Versprechen an, den Andenstaat umzukrempeln. Am kommenden Sonntag können die Bürger entscheiden, ob sie ihn abwählen wollen. Mit Morales stehen ebenso die Präfekten der neun Departements des lateinamerikanischen Landes auf dem Prüfstand. Hier können die Bürger ebenfalls entscheiden, ob die lokalen Regierungschefs, die 2005 erstmals direkt gewählt wurden, gehen sollen – wenn auch neuerdings nach modifzierten Regeln: Nur wenn mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten gegen sie stimmen, werden sie abgewählt (siehe jungeWelt vom 4.8.2008).
Zwei verfeindete Lager
Auslöser für das Referendum sind die Autonomiebestrebungen der reichen Departements. In Cochabamba, der Metropole des gleichnamigen Verwaltungsbezirks, wird dieser Kampf mit harten Bandagen geführt. Der Präfekt Manfred Reyes Villa hatte schon 2006 angekündigt für das zentralbolivianische Departement die Autonomie auszurufen. Die Protestierenden, Anhänger Evo Morales’ aus den Kleinstädten und Dörfern des fruchtbaren Tals und der Kokaanbauregion Chapare, besetzten daraufhin im Januar 2007 die Stadt. Campesinos und Indígenas demonstrierten gemeinsam mit Studenten von der Universität in die Innenstadt. Sie forderten den Rücktritt von Reyes Villa. Die Anhänger des Präfekten organisierten Gegenproteste und verlangten, daß die Campesinos die Stadt wieder verlassen. Am 11. Januar 2007 kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen beiden Seiten. Die Autonomiegegner steckten schließlich den Regierungssitz in Brand. Die Bilanz: Ein Campesino wurde erschossen und ein Jugendlicher zu Tode stranguliert, 200 Verletzte.
Am 11. Januar 2008, zum Jahrestag der Kämpfe, rief das Comité Civico zu einer Kundgebung auf. Die Zivilen Komitees bilden eine rechte Bürgerbewegung in Bolivien, die durch den Amtsantritt von Morales insbesondere von den gutbetuchten Bolivianern, aber auch aus der Mittelschicht Zulauf erhalten hat. Bei den Gedenkveranstaltungen blieb es ruhig. Keines der beiden Lager, die sich momentan in Bolivien unversöhnlich gegenüberstehen, wollte eine neue Konfrontation.
Die Ereignisse in Cochabamba stehen stellvertretend für die Situation, in der sich Bolivien momentan befindet. Nirgends sind die beiden Lager in Bolivien geographisch so nah und in ähnlicher Stärke präsent wie in der drittgrößten Stadt des Landes. Das Departement ist die Kornkammer Boliviens, es liegt 2600 Meter über dem Meeresspiegel und wird von Reyes Villa regiert. Er ist ein konservativer Politiker des Landes, ehemaliger Präsidentschaftskandidat und schon lange auf der politischen Bühne Boliviens aktiv.
In der Hauptstadt des Departements wohnen viele Anhänger des Comité Civico. Im Osten der Region liegt die Provinz Chapare. Hier hat Morales seine politische Karriere als Funktionär der Kokabauerngewerkschaft gestartet, und hier befindet sich eine der wichtigsten Basen der MAS, deren Vorsitzender er ist. – Man sagt, wem Cochabamba gehört, dem gehört auch Bolivien. Im Gegensatz zu den vier Departements des östlichen Tieflandes, Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija hat in Cochabamba allerdings bisher keine Befragung über mehr Autonomie stattgefunden. Die politischen Machtinhaber wissen sehr wohl, daß ein Bürgerentscheid möglicherweise nicht zu realisieren ist.
An der Spitze der landesweiten Opposition gegen die neue Politik der MAS aus La Paz stehen daher, statt Reyes Villa, Rubén Costas, der Präfekt von Santa Cruz, und Branco Marincovic vom Comité Civico »Pro Santa Cruz«. Im tropischen Osten fand im Mai auch die erste Abstimmung für mehr Autonomie statt. Santa Cruz folgten drei weitere Departements aus dem Tiefland. Bei allen Abstimmungen votierte nach Angaben der Opposition eine überwältigende Mehrheit für größere Autonomie.
Indígenas in Regierungsämtern
So umkämpft wie das Departement Cochabamba ist die Macht im ganzen Land. Für die alten Eliten des Andenstaates war im Dezember 2005 die Welt aus den Fugen geraten. Nie hätten es die Großgrundbesitzer und Minenunternehmer des Landes, deren Parteien die Republik seit der Unabhängigkeit 1825 regierten, für möglich gehalten, daß ein »Indio« einmal ihr Präsident werden könnte.
Die Ober- und Mittelschicht des Landes nahmen »Indios« bis zur letzten Präsidentschaftswahl vor allem als billige Arbeitskräfte wahr, die als Tagelöhner oft wie Leibeigene auf ihren Ländereien schufteten oder sich als Dienstmädchen in den städtischen Haushalten plagten. Wie in vielen Regionen Lateinamerikas ist es auch in Bolivien normal, eine »Muchacha« zu haben, die für einen Hungerlohn rund um die Uhr zur Verfügung steht. Aber in kaum einem anderen lateinamerikanischen Land erfuhr das Apartheidsystem der spanischen Kolonialherren eine so konsequente Fortsetzung nach der Unabhängigkeit wie in Bolivien. Die Spanier mußten damals zwar gehen, aber die Kinder der Spanier führten nach der Gründung der Republik 1825 das alte System fort. Erst mit der Revolution von 1952 erhielt die indigene Bevölkerung das Wahlrecht, und zumindest im Hochland, dem Altiplano, konnte eine starke Gewerkschaftsbewegung Reformen durchsetzen. Den Reformen zum Trotz blieben die indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes jedoch weitgehend von der Macht und damit vom Reichtum des Landes ausgeschlossen.
Knapp zwei Jahrhunderte wurde Bolivien von einer Handvoll Familien wie ein Stück Familienbesitz verwaltet. In dieser Zeit war es selbstverständlich, daß ihresgleichen in La Paz im Präsidentenpalast residierte. Morales’ Erfolg und seine MAS haben diese Selbstverständlichkeit grundlegend erschüttert. Plötzlich ist es die indigene Bevölkerung, sind es Quechua und Aymara, die die Geschicke des Landes bestimmen. Frauen mit Strohhüten oder Melonenhüten und Ballonröcken, den Polleras, sind heute nicht mehr nur als Marktschreierin oder billige Arbeitskraft im Haushalt präsent, sondern regieren das Land wie Silvia Lazarte als Vorsitzende der verfassungsgebenden Versammlung mit. Andere indigene Frauen sind Senatorinnen geworden. Mit Morales hat Bolivien mehr als seinen ersten indigenen Präsidenten bekommen. Der Aufstieg der MAS zur stärksten Fraktion im Parlament von La Paz brachte ein anderes Bolivien in öffentliche Ämter. Ivan Nogales, Theaterregisseur aus El Alto, sieht in der neuen Regierung endlich die Armen und Ausgeschlossenen repräsentiert: »Wir sind sehr glücklich über die Regierung, bei der wir wie in einen Spiegel schauen können und uns selbst erkennen.«
Ein Zustand, der für viele weiße Bolivianer schwer erträglich ist. Rassistische Entgleisungen sind daher bei den Gegnern der MAS an der Tagesordnung. Auf Veranstaltungen der Comités Civico werden Morales und sein Kabinett als »Hurensöhne« und »einfältige Indios« aus dem Hochland beschimpft. Im Mai zwangen Gegner von Morales aus Sucre im Departement Chuquisaca eine Gruppe von Indígenas, sich auszuziehen und hinzuknien. Anschließend verbrannten sie die Whipala, die Fahne der Aymara, und sangen die Hymne von Sucre. Übergriffe wie diese finden gegen Indígenas in Bolivien spontan und organisiert statt, vor allem gegen die, die MAS-Sympathisanten sind. Mit dem Haß auf den politischen Gegner geht ein aggressiver Rassismus einher, der geprägt ist von einer jahrhundertealten Tradition der Verachtung der Indígenas.
Unvollendete Agrarreform
Der Angriff auf die Campesinos in Sucre hatte das Comité Interinstitucional der Stadt zu verantworten – wie das Comité Civico aus Cochabamba eine Organisation konservativer Bolivianer. In fast allen Departements Boliviens organisiert sich die Opposition in Zivilen Komitees. In der Hauptsache engagieren sie sich für mehr Autonomie für die jeweiligen Verwaltungsbezirke. So organisierte »Pro Santa Cruz« im Mai das Referendum für die Autonomiestatuten.
Viele ihrer Mitglieder sollen gleichzeitig Mitglieder paramilitärischer Organisationen sein. Zwei Dutzend dieser paramilitärischen Gruppen gibt es, vermutet Staatssekretär Sancho Llorenti. Die bekannteste davon ist die »Union Juvenil Cruzeñista«. Die »Jugendunion« von »Pro Santa Cruz« gilt als organisierter Schlägertrupp, der immer dann in Aktion tritt, wenn es darum geht, den politischen Gegner einzuschüchtern. Die »Union« ist für den Schutz der Veranstaltungen von »Pro Santa Cruz« zuständig und immer dann zur Stelle, wenn sich im Departement Protest gegen die Autonomie regt. Dabei arbeitet sie auch im Auftrag der Großgrundbesitzer.
Immer wieder kommt es dabei zu Übergriffen gegen landlose Bauern, zumeist gegen die Tiefland-Indígenas, die Guaraní, die von den Großgrundbesitzern in vielen Fällen in sklavenähnlichen Zuständen gehalten werden. Wer sich dagegen wehrt oder gar Ansprüche auf zu Unrecht enteignetes Land stellt, gerät schnell ins Visier der paramilitärischen Gruppen oder der »Union Juvenil Cruzeñista«. Bis heute leben, so schätzen Menschenrechtsorganisationen, 5000 bis 7000 Guaraní in sklavenähnlichen Verhältnissen. Oft wird ihnen unter Androhung der Gewalt das Land weggenommen. Anschließend werden sie gezwungen, als Tagelöhner dort zu arbeiten. Ein Zwölfstundentag ist dabei keine Seltenheit, auch Mißhandlungen sind an der Tagesordnung.
Hier im fruchtbaren Osten ist die Landkonzentration besonders hoch. Die Landreform nach der Revolution von 1952 kam im Tiefland nie an. 35 Familien besitzen über fünf Millionen Hektar des fruchtbarsten Landes in der riesigen Ebene im Osten Boliviens, wo der Amazonas beginnt. Allein die Familie von Branco Marincovic, dem Anführer des Zivilen Komitees »Pro Santa Cruz«, soll 150000 Hektar Land besitzen. Land, das die Familie zumindest in Teilen schon längst hätte abgeben müssen. Denn bereits vor rund zehn Jahren wurde ein Gesetz verabschiedet, das besagt, daß ungenutztes Land an Landlose verteilt werden soll.
Da damals in La Paz die Seilschaften der Großgrundbesitzer regierten, kam es aber nie zur Umsetzung der Landverteilung. Jetzt beantwortet der Großgrundbesitzer Marincovic die Bemühungen der MAS-Regierung, die Landverteilung zu organisieren, mit der Forderung nach Autonomie. Dabei haben die Civicos in Santa Cruz im Gegensatz zu ihren Verbündeten in Cochabamba den Vorteil, daß die Idee der Autonomie im tropischen Tiefland einen viel größeren Anklang findet.
Santa Cruz de la Sierra hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vom verschlafenen Provinzstädtchen zum wirtschaftlichen Zentrum Boliviens entwickelt. 1,5 Millionen Menschen beherbergt die Stadt mittlerweile. Das Geld verdient man hier mit Agrarexporten und dem Verkauf von Erdgas- und Erdölvorkommen aus Tarija. Entlang der Einfallstraßen ins Stadtzentrum reihen sich Geschäfte für Landmaschinen aneinander und verkaufen riesige Mähdrescher. Im Stadtzentrum zeigen die durch den Boom reich gewordenen Cambas, so werden die Bewohner des Tieflands genannt, mit protzigen Gebäuden und Nobeljeeps ihren Reichtum.
Santa Cruz ist heute die prosperierende Region Boliviens. 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden dort erwirtschaftet – vor allem mit Landwirtschaft und dem Verkauf von Erdöl- und Erdgas. 34 Prozent aller bolivianischen Exporte kommen von hier. Der größte Teil der Öl- und Erdgasreichtümer liegt im Südosten Boliviens. Die meisten Ölkonzerne haben in der Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ihren Sitz. Über diese Reichtümer will das Departement in Zukunft selbst bestimmen.
Es ist aber nicht nur der Reichtum, der die Lust auf Separatismus bei den Cruzeños anheizt. Schon immer waren sich Santa Cruz und La Paz fremd. Lange Zeit bestand Bolivien nur aus dem kargem silber- und zinnreichen Hochland mit seiner starken indigenen Einfärbung. Das Tiefland galt als menschenleerer Urwald. Erst der Krieg um den Gran Chaco gegen Paraguay zwischen 1932 und 1935 brachte die tropisch heiße Region ins Bewußtsein der Hochlandbewohner.
Kampferprobte Basisorganisationen
Die Fahrt von Santa Cruz nach La Paz dauert 15 Stunden, und bis heute hat man den Eindruck, in zwei unterschiedlichen Ländern zu leben. Macht im Tiefland die indigene Bevölkerung gerade einmal 15 Prozent aus, zählt sich im Hochland die überwältigende Mehrheit zu den Aymara und Quechua. Hier am Titicacasee, dem höchstgelegenen Binnensee der Erde, befinden sich die Kultstätten der beiden großen indigenen Volksgruppen des Landes. Gemeinsam stellen sie über die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung. Hier im Hochland ist das eigentliche Kernland der MAS, auch wenn ihre Anfänge in der Kokaanbauregion Chapare im Departement Cochabamba liegen.
Durch den Silber- und Zinnreichtum war das Hochland früh industrialisiert und dicht besiedelt. Die Minenstädte Oruro und Potosí waren bereits Metropolen, als Rio de Janeiro und Buenos Aires noch verschlafene Städtchen waren. Die bolivianischen Zinnbarone waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert berühmt für ihre Verschwendungssucht. Aber die Indígenas waren es, die den Bergen ihren Reichtum entrissen haben. Sie schufteten in den Minen, und aus dieser Erfahrung heraus entstanden die kämpferischen Minengewerkschaften. Als die Zinnminen aufgrund der gefallenen Weltmarktpreise schlossen, wanderten viele Mineros ins Tiefland. Dort wurden sie Kokabauern, wie die Familie von Evo Morales. Ihre Organisationserfahrung aus den Gewerkschaften brachten sie mit. So organisierten sie sich auch im Chapare in Gewerkschaften. Als die Kokaleros in den 80er Jahren den Einheiten der Armee gegenübertreten mußten, die auf Geheiß der USA einen Krieg gegen den Anbau der Kokapflanze in Bolivien entfachten, entwickelten sich die Kokalerogewerkschaften schnell zu schlagkräftigen Organisationen.
Die Bauerngewerkschaften und die Landlosenbewegung des Tieflands bilden gemeinsam mit den Aymara-Organisationen im Hochland die Stützen für Präsident Morales. Die MAS, die Bewegung zum Sozialismus, war Ende der 90er im Chapare entstanden. Sie ist weniger eine Partei als ein Sammelbecken verschiedener indigener Basisorganisationen und Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees und kleinerer linker Organisationen.
Die Basisorganisationen der MAS sind sehr erfahren. Im Kampf gegen die Wasserprivatisierung im Jahr 1997 in Cochabamba und im Jahr 2003 für die Nationalisierung der Erdgasressourcen haben sie ihre Aktionsfähigkeit unter Beweis gestellt. Im »Krieg ums Gas« zeigten diese Bewegungen sogar der bolivianischen Armee ihre Grenzen auf. Als die Vorgängerregierung von Morales unter Gonzalo Sanchez de Lozada bolivianisches Erdgas zu einem Spottpreis an multinationale Erdölkonzerne liefern wollte, riegelten die Bewohner von El Alto die Zufahrtswege zum Regierungssitz La Paz ab. Obwohl das Militär mit schwerem Gerät ausrückte, mußten die Generäle schließlich vor den mobilisierten Massen kapitulieren. Goni, wie die Menge Sanchez de Lozada nannte, mußte in die USA ins Exil flüchten.
Gegen Referendum, für Verfassung
Vergeblich hatte die Lokalregierung in Santa Cruz damals versucht, de Lozada zu überreden, vom Tiefland aus weiterzuregieren. Die Erosion des alten Machtgefüges war bereits nicht mehr aufzuhalten. In dieser Situation bekam die Idee für Autonomie in den Tieflanddepartements eine neue Dynamik. Für die alten Eliten Boliviens ist es der vorerst letzte Versuch, die enorme Machterosion des vergangenen Jahrzehnts aufzuhalten. In den letzten drei Jahren ist es der Opposition aber gelungen, ein teilweises Gegengewicht zu schaffen und die Erosion ihrer politischen Macht vorübergehend aufzuhalten.
Mit dem Autonomiereferendum gelang es der Opposition sogar, wieder die politische Initiative in Bolivien zu übernehmen. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob es reicht, am kommenden Sonntag Morales abzuwählen. Denn die Autonomiefrage ersetzt kein politisches Programm. Zwar versucht der Präfekt Rubén Costas in Santa Cruz mit der Ankündigung, einen Mindestlohn einzuführen und im gesamten Land Straßen zu bauen, sich bereits wie ein richtiger Regierungschef zu präsentieren. Allerdings fehlen ihm schlicht die Instrumente. Denn die Gelder, die der Präfekt ausgeben kann, werden in La Paz vom Präsidenten festgelegt. Die Autonomiestatute sind bis jetzt nur eine Luftnummer, weil die Verfassung, die momentan noch in Kraft ist, keine Autonomie vorsieht.
So kann Morales die Präfekten jederzeit an die Kandare nehmen und weiß dabei sogar das Militär hinter sich. Denn für die Generäle ist das Spiel der alten Machthaber mit der Autonomie ein Spiel mit dem Feuer. Sie sehen sich als Hüter der nationalen Integrität und betrachten die Entwicklung im Tiefland argwöhnisch. Die abtrünnigen Präfekten hingegen können bis jetzt nur markige Worte, aber keine Taten vorweisen. Die MAS-Regierung aber hat mit ihrer »Politik des Wechsels«, wie Morales sein Programm nennt, durchaus einige Maßnahmen ergriffen, die in ganz Bolivien populär sind. So wurden die Rohstoffvorkommen unter staatliche Kontrolle gestellt und soziale Programme aufgelegt. Seit Anfang 2008 gibt es für mittellose alte Menschen im Rentenalter eine »Rente der Würde«, von der alle Bolivianer über 67 profitieren. Für Kinder, die ein Schuljahr absolvieren, zahlt die Regierung zusätzliches Kindergeld. Zudem soll nach venezolanischem Vorbild ein Gesundheitssystem aufgebaut werden. Durch die teilweise Verstaatlichung der Rohstoffe hatte Bolivien bereits 2006 einen satten Haushaltsüberschuß erwirtschaftet – Geld, das der Präsident für seine Wahlversprechen ausgeben konnte.
Das wichtigste Projekt der Regierung ist allerdings die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Diese sieht die Möglichkeit der Autonomie vor. Damit kann die MAS ihren Gegnern immer wieder sagen: »Laßt uns die neue Verfassung dem Volk zur Abstimmung stellen, und ihr könnt eure Autonomiestatuten in Kraft treten lassen.« Genau das aber will die Opposition nicht. Denn damit käme auch die Landfrage wieder auf den Tisch, und das wollen die Großgrundbesitzer verhindern. Wie lange ihnen die Politik der Blockade noch gelingt, ist ungewiß. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß Morales durch das Referendum bestätigt wird. Letzte Umfragen sehen Morales sogar mit mehr Unterstützung als bei der Wahl 2005. Danach, so hofft Roberto Aguilar, stellvertretender Vorsitzender der verfassungsgebenden Versammlung, gibt es die Möglichkeit, sich mit der Opposition wieder an den runden Tisch zu setzen, um über strittige Fragen der Verfassung zu diskutieren. Denn im Dezember soll die neue Verfassung in einem Referendum der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Bekäme die Verfassung beim Volk die Mehrheit, müßten die Großgrundbesitzer schließlich einen Teil ihrer Ländereien abgeben.
* Thomas Guthmann arbeitet als Redakteur beim Nachrichtenpool Lateinamerika (npla.de) und berichtet dort in der Magazinsendung Onda-Info und dem Poonal Pressedienst schwerpunktmäßig über Bolivien, Mexiko und Venezuela
Dieser Artikel erschien bereits am 7. August 2008 in der Tageszeitung jungeWelt. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und von jungeWelt.de.