Seit Donald Trump zum zweiten Mal das Amt des US-Präsidenten übernommen hat, überschlagen sich die Ereignisse. Sein Vorstoß zur friedlichen Beilegung des Ukrainekrieges hat das transatlantische Bündnis gesprengt und zu einer unerwartet schnellen Annährung der USA an Russland geführt. Nicht wenige Beobachter und Akteure des gegenwärtigen Übergangs zu einer multipolaren Welt sehen in der angekündigten Abkehr der USA von Europa eine Rückkehr zum Isolationismus. Besonders findige Autoren haben der Trump’schen Außenpolitik bereits das Label einer „Donroe-Doktrin“ verpasst, um deren grundsätzlichen Charakter hervorzuheben.
In welcher Beziehung steht Trump 2.0 zur Monroe-Doktrin, die seit mehr als 200 Jahren tragender Pfeiler der US-Außenpolitik ist? Sieht sich Donald Trump als Fortsetzer dieser Tradition oder signalisiert die „Donroe-Doktrin“ die Abkehr von der Monroe-Doktrin? Beide Varianten verweisen auf ein Dilemma, vor dem der im Januar 2025 gewählte Präsident steht. Dieses ergibt sich daraus, dass die Monroe-Doktrin einerseits das geronnene Ergebnis von 250 Jahren permanenter Expansion ist, ihre Fortsetzung aber andererseits mit dem neuen Trend hin zu einer multipolaren Welt kollidiert. Trump sieht sich damit vor einer grundsätzlichen Entscheidung: Entweder bleibt er sich innerhalb der bisherigen Traditionslinie (Pfadabhängigkeit) und gerät damit in eine offene Konfrontation mit der nichtwestlichen Welt, oder er bricht mit der Monroe-Doktrin und begibt sich damit innen- wie außenpolitisch in unsicheres Fahrwasser. Vielleicht findet er auch einen Weg zwischen Skylla und Charybdis. Wie auch immer: Will man herausfinden, ob die Monroe-Doktrin weiter Bestand hat oder ihrem Ende entgegensieht, weil sie nach dem Ende der unipolaren Ära Washingtons in Widerspruch zu den tektonischen Verschiebungen des globalen Machtgefüges gerät, muss man zunächst die vielen Metamorphosen der Monroe-Doktrin von 1823 bis zur Gegenwart rekapitulieren (Teil 1), um dann in einem zweiten Schritt das Verhältnis von Trump 2.0 zur Monroe-Doktrin zu klären (Teil 2).
200 Jahre Monroe-Doktrin – Etappen und Metamorphosen (Teil 1)
Die Monroe-Doktrin geht auf eine Rede zurück, die James Monroe (1758-1831) als fünfter Präsident der USA (1817-1825) am 2. Dezember 1823 zur Lage der Nation gehalten hat. Die dort formulierten Prinzipien und Ansprüche haben sich unter der Formel „Amerika den Amerikanern!“ zu einem Eckpfeiler der US-Außenpolitik entwickelt. Bei der Bewertung der Monroe-Doktrin sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: Erstens handelt es sich um Prinzipien, die von den Vereinigten Staaten einseitig definiert und umgesetzt werden und somit kein Völkerrecht sind. Zweitens hat Monroe seine Erklärung so formuliert, dass sie einerseits an den antikolonialen Ursprung der USA anknüpft, ohne andererseits den eigenen Hegemonialanspruch zu verleugnen. Dies verweist drittens auf den flexiblen Charakter der Monroe-Doktrin. Allein bis 1993 wurde die ursprüngliche Fassung von 1823 mehr als dreißig Mal ergänzt. Diese Flexibilität war viertens vor allem deshalb notwendig, weil Anspruch und Umsetzung der Doktrin zunächst weit auseinanderklafften. Damit wird fünftens die enge Verknüpfung der Monroe-Doktrin mit dem missionarischen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten deutlich, was sich sechstens in der Wechselwirkung von Innen- und Außenpolitik bei der Formulierung und Durchsetzung der Monroe-Doktrin widerspiegelt.
Expansion im Schatten der Pax Britannica (Monroe 1.0)
Im Rückblick lassen sich drei große Etappen der Aus- und Umformung der Monroe-Doktrin unterscheiden. Die erste reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und umfasst damit jenen Abschnitt in der Geschichte der USA, der unter der Bezeichnung der „Westexpansion“ bekannt ist, die 1890 mit der Schließung der „frontier“ beendet wurde. Bereits in Monroes Rede finden sich jene Vektoren, die die US-Außenpolitik dieser Etappe – und darüber hinaus – prägen. An erster Stelle steht das Verhältnis Washingtons zum „alten Kontinent“, welches durch zwei Grundprinzipien bestimmt war: einerseits Nichteinmischung, ja Distanz gegenüber den europäischen Angelegenheiten, andererseits die damit verbundene Warnung an die europäischen Mächte, nicht in der westlichen Hemisphäre zu intervenieren. Damit ist zugleich das heutige Lateinamerika als zweiter Vektor benannt, dessen Völker damals um ihre Unabhängigkeit von Spanien und Portugal rangen. Als dritter Vektor ist der Pazifik zu nennen. Einer der Anlässe der Rede von James Monroe vom 2. Dezember 1823 waren Erkundungen der Russen, die von ihrer amerikanischen Kolonie Alaska aus entlang der Pazifikküste weit nach Süden vorgedrungen waren. Auch wenn es den USA im Adams-Onis-Vertrag von 1819 gelungen war, den 42. Breitengrad als nördliche Grenze der spanischen Besitzungen in Nordamerika festzulegen, erlangten sie erst 1848 – im Ergebnis ihres Krieges gegen Mexiko – mit der Annexion von Kalifornien einen eigenen Zugang zum Pazifik.
Die Crux der von Monroe verkündeten Ansprüche und Prinzipien bestand darin, dass die noch junge Siedler-Republik diese vorerst nicht aus eigener Kraft durchsetzen konnte. Dazu bedurfte es der Absprache mit Großbritannien, der globalen Hegemonialmacht des 19. Jahrhunderts. Im geopolitischen Windschatten der britischen Kriegsmarine konnte Washington gegenüber den kontinentaleuropäischen Mächten auf die Monroe-Doktrin pochen, ohne selbst in Aktion treten zu müssen. Wie Washington verbat sich auch London jegliche Intervention kontinentaleuropäischer Mächte in der Westlichen Hemisphäre. Der Unterschied bestand darin, dass die Briten auch in der Lage waren, das Interventionsverbot durchzusetzen. Es dauerte mehr als 70 Jahre, ehe sich das anglo-amerikanische Kräfteverhältnis im Großraum zwischen Alaska und Feuerland umgekehrt hatte.[i]
Vom Spanisch-Amerikanischen Krieg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (Monroe 2.0)
Zwei Krisen in und um Venezuela (1895/1896 und 1902/1903)[ii] sowie der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898 markieren der Übergang zur nächsten Etappe der Monroe-Doktrin (Monroe 2.0). Nachdem London im Ergebnis der ersten Venezuela-Krise seine Bereitschaft bekundet hatte, sich der Monroe-Doktrin zu beugen, machte Washington mit dem Sieg über Spanien endgültig klar, wer von nun an in der Westlichen Hemisphäre das Sagen hatte. Mit dem Aufstieg zur hemisphärischen Hegemonialmacht gelang den USA 1898 mit einem Schlag eine dreifache Statusaufwertung[iii]: Erstens etablierten sie sich als Kolonialmacht, zweitens vollzogen sie damit ihren Eintritt in den Klub der imperialistischen Mächte, was ihnen drittens in Verbindung mit ihrer ökonomischen Stärke den Status einer Weltmacht bescherte. Als die Vereinigten Staaten 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, hatten sie zwischen Atlantik und Pazifik ein Empire errichtet, dessen Struktur sich wie folgt beschreiben lässt: An das Zentrum, das vom kontinentalen Kernland gebildet wird, schloss sich eine dreifach gegliederte Peripherie an. Neben den Kolonien und Territorien, die direkt von Washington beherrscht wurden (Puerto Rico, Panamakanalzone, Jungfern-Inseln, Hawaii, Guam, Philippinen), gab in der Karibik und in Zentralamerika einen Gürtel von Protektoraten (Kuba, Haiti, Dominikanische Republik, Panama, Nicaragua, Honduras), die die Südflanke der USA und den Panamakanal absicherten und der Versorgung des Kernlandes mit „Kolonialwaren“ (Zucker, Kaffee, Bananen) dienten. Südamerika gehörte als informeller Teil zum „American Empire“. Im Ergebnis der Revolution von 1910 und der Nationalisierung der Erdölindustrie 1938 nahm Mexiko eine Sonderstellung ein.
All diese Veränderungen fanden in der Neuinterpretation der Monroe-Doktrin ihren Niederschlag. In einer nach ihm benannten Ergänzung zur Monroe-Doktrin (Roosevelt Corollary von 1904) beanspruchte Präsident Theodore Roosevelt (1901-1909) fürderhin für die USA das Recht, in den südlichen Nachbarstaaten zu intervenieren. Es genügte schon, wenn Washington in diesen Ländern einen „Mangel an Wohlverhalten“ diagnostizierte, um dort einzugreifen. Das Spektrum der Strafmaßnahmen reichte von der Kontrolle über die Finanzen bis zur mehrjährigen Okkupation. Diese Politik des „big stick“ (dt.: großer Knüppel) wurde unter Roosevelts Nachfolger William Howard Taft (1909-1913) durch die „Dollar Diplomacy“ ergänzt. Als die USA unter Woodrow Wilson (1913-1921) in den Ersten Weltkrieg eintraten und dieser unter dem Banner des „liberalen Internationalismus“ eine neue Außenpolitik“ verfolgte, entbrannte um das weitere Schicksal der Monroe-Doktrin eine heftige Kontroverse. Sollten sich die USA künftig auf dem „alten Kontinent“, auf dem gerade ein Weltkrieg getobt hatte, politisch engagieren oder war ein Rückzug in die eigene Hemisphäre sinnvoller? Die Entscheidung fiel mit den Abstimmungen über den Beitritt der USA zum Völkerbund (November 1919 und März 1920), die Wilson verlor.
Im Ergebnis dessen verfolgten die Vereinigten Staaten bis zu ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg im Dezember 1941 eine Außenpolitik, die unter der Bezeichnung „Isolationismus“ bekannt geworden ist. Dieser gängige Begriff ist insofern irreführend, als dass er bestenfalls für einen der drei Vektoren der Monroe-Doktrin geltend gemacht werden kann. In Richtung Lateinamerika und Pazifik/Ostasien agierte Washington nach wie vor expansiv und interventionistisch. Selbst in Hinblick auf Europa war die damalige US-Wirtschafts- und Finanzpolitik alles andere als isolationistisch. Eine neuerliche Reinterpretation der Monroe-Doktrin bahnte sich mit dem Aufstieg des deutschen Faschismus in Europa an. Bereits 1933 hatte Franklin D. Roosevelt, der bis zu seinem Tod am 12. April 1945 als Präsident die Geschicke der USA lenkte, gegenüber Lateinamerika eine „Politik der guten Nachbarschaft“ (eng.: Good Neighbor Policy) verkündet. An die Stelle der offenen Interventionen trat nun die Betonung der „panamerikanischen Gemeinsamkeiten“. Das hauptsächliche Ziel Washingtons bestand darin, die Region zu stabilisieren und durch gemeinsame Militärabkommen einzubinden, um im Falle einer Intervention von „raumfremden“ Mächten besser gerüstet zu sein. Der im Dezember 1941 gestartete Zwei-Fronten-Krieg gegen Deutschland und Japan ließ die bisherige Strategie des „Fortress America“ obsolet werden. Die Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 und der japanische Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 gaben den entscheidenden Anstoß, die Sicherheitsperimeter der USA über die beiden Ozeane hinweg auf die Gegenküsten in Westeuropa und Ostasien auszuweiten.
Die Weltordnung der Pax Americana (Monroe 3.0)
Mit dem Sieg über Hitler-Deutschland und das kaiserliche Japan 1945 hatte sich die geopolitische Gesamtlage Washingtons grundsätzlich verändert. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete zugleich den Beginn einer neuen Weltordnung – der Pax Americana. Das Territorium der beiden Hauptverlierer des Zweiten Weltkrieges bildete fortan den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt zur Beherrschung des östlichen und westlichen Randes der riesigen eurasischen Landmasse. Aus US-Sicht verbot sich ein Rückzug in die westliche Hemisphäre, der nach Ende des Ersten Weltkrieges noch eine Option gewesen war, aus zwei Gründen von selbst: In Europa, wo die Sowjetunion die Hauptlast des Kampfes gegen das faschistische Deutschland getragen hatte, galt es, der „kommunistischen Gefahr“ entgegen zu treten. Ähnlich sah es auf der anderen Seite Eurasiens aus. In China hatten die Kommunisten im Bürgerkrieg die Kuomintang besiegt und 1949 die Volkrepublik ausgerufen. Die USA und ihre Verbündeten reagierten auf die Herausbildung eines „sozialistischen Lagers“ mit dem Kalten Krieg, der in Asien zwei große „heiße“ Kriege – den Koreakrieg 1950-1953 und den Vietnamkrieg 1945-1975 – einschloss. Als der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 endete, wähnte sich Washington als „Sieger der Geschichte“ und rief die „unipolare Weltordnung“ aus.
Für die Monroe-Doktrin stellte der Kalte Krieg eine doppelte Zäsur dar. Sein Beginn 1947 implizierte de facto die Globalisierung der Monroe-Doktrin.[iv] In der Konsequenz wurde einerseits die traditionelle Ausrichtung auf die Westliche Hemisphäre beibehalten, während andererseits der Hegemonialanspruch der USA auf die östliche Halbkugel erweitert wurde. Die zweite Zäsur bildete das Ende des Kalten Krieges. Mit dem Verschwinden der Sowjetunion erfolgte ein Wechsel der Weltordnung von der Bipolarität zur Unipolarität. In ihrer Selbstwahrnehmung stiegen die Vereinigten Staaten damit „zur einzigen und im Grunde ersten wirklichen Weltmacht auf“ (Brzezinski 1999, S. 15). Legt man diese beiden Zäsuren zugrunde, dann ergeben sich daraus für Monroe 3.0 sechs grundlegende Einschätzungen:
Erstens kommt es in der „grand strategy“ der USA zu einer Prioritätenverschiebung in Hinblick auf die Bedeutung der Weltregionen. Während bis 1941 die Westliche Hemisphäre den geopolitischen Schwerpunkt bildet, rückt danach – über den gesamten Zeitraum von 1945 bis jetzt – der „Kampf um Eurasien“ ins Zentrum der geopolitischen Anstrengungen Washingtons. Dieser Wechsel wird meist als Übergang vom „Isolationismus“ zum „Internationalismus“ beschrieben.
Auf dem „Grand Chessboard“ – wie Eurasien von Brzezinski treffend charakterisiert wird – sind zweitens in der gesamten Etappe von Monroe 3.0 die beiden eurasischen Machtpole Sowjetunion/ Russland und China die Hauptgegner der USA. Diese Kontinuitätslinie im Kampf der USA um die Weltherrschaft ist jedoch durch Verschiebungen und Brüche gekennzeichnet, wobei vier Phasen – zwei innerhalb des Kalten Krieges und zwei danach – erkennbar sind. Die erste und die zweite Phase unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der China-Politik der USA. Während die Sowjetunion der Hauptgegner bleibt, vollzieht Washington Anfang der 1970er Jahre gegenüber Beijing einen Strategiewechsel – aus einem Gegner wird ein Partner. Die dritte Phase reicht vom Ende des Kalten Krieges bis zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Dies ist zugleich die kurze Ära der „unipolaren Weltordnung“ Washingtons. In Hinblick auf die beiden eurasischen Machtpole ist sie einerseits durch den rapiden Verfall Russlands unter Boris Jelzin sowie die Kehrtwende und die mühsame Stabilisierung unter Wladimir Putin gekennzeichnet. Andererseits steigt die Volksrepublik China in dieser Zeit mit dem Segen Washingtons zur ökonomischen Weltmacht auf. Der Neologismus „Chimerika“ wird zum Pseudonym für die engen wirtschaftliche Verflechtung beider Länder im Rahmen der neoliberalen Globalisierung. Die vierte Phase, in die auch die erste Präsidentschaft von Donald Trump fällt, reicht von 2008 bis zum Ausbruch des Stellvertreterkrieges der USA gegen Russland in der Ukraine im Februar 2022. Washington, wo die Neocons das Sagen haben, sieht im Aufstieg Chinas eine Gefährdung seiner unipolaren Weltordnung und sucht in seiner Hybris zugleich die offene militärische Konfrontation mit Russland. Beide Länder reagieren darauf mit der Bildung einer strategischen Achse, die – in Partnerschaft mit dem globalen Süden – auf die Durchsetzung einer multipolaren Weltordnung gerichtet ist.
Die Anwendung der Monroe-Doktrin 3.0 in Lateinamerika
Die Globalisierung der Monroe-Doktrin nach 1945 wirft drittens die Frage auf, wie sich diese Erweiterung auf Lateinamerika auswirkt. Einerseits bildet der „Kampf gegen den Kommunismus“ in beiden Phasen des Kalten Krieges die gemeinsame Klammer, andererseits prägen sich die Besonderheiten der hemisphärische Variante der Monroe-Doktrin weiter aus, was sich anhand der kubanischen Revolution von 1959 besonders anschaulich zeigen lässt. Die offene Hinwendung der Revolutionäre unter Führung von Fidel Castro und Ernesto Che Guevara zum Sozialismus (1961) fordert die USA im eigenen Hinterhof unerwartet und in völlig neuer Weise heraus. In Lateinamerika liegt die Zäsur zwischen Phase 1 und Phase 2 von Monroe 3.0 somit mehr als zehn Jahre vor der Annährung der USA an China.
Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Phasen in der Westlichen Hemisphäre besteht darin, wie Washington die „kommunistische Gefahr“ vor Ort einschätzt und darauf reagiert. Die Interpretation und Anwendung der Monroe-Doktrin in Phase 1 lässt sich anhand eines Vergleichs zwischen der bolivianischen Revolution von 1952 und der guatemaltekischen Revolution 1944-1954 gut illustrieren. In beiden Fällen standen kleinbürgerliche Nationalisten an der Spitze eines Prozesses, der auf eine kapitalistische Modernisierung mittels einer Agrarreform zugunsten der bäuerlichen Mehrheitsbevölkerung und der Nationalisierung strategischer Bereiche der Wirtschaft gerichtet war. Während die bolivianische Revolution von den USA zunächst toleriert und dann sogar unterstützt wurde, fiel die guatemaltekische Revolution 1954 einer CIA-geführten Söldner-Invasion zum Opfer. Die „Schuld“ der guatemaltekischen Revolutionäre bestand in den Augen Washingtons darin, dass US-Unternehmen von der Enteignung betroffen waren und sich die Regierung unter Jacobo Arbenz, einem progressiven Militär, mit der kleinen kommunistischen Partei des Landes eingelassen hatte. In Bolivien hingegen hatte die Revolutionsführung beides zu vermeiden gewusst und einen dezidiert anti-kommunistischen Kurs verfolgt.
Aus dem unterschiedlichen Vorgehen Washingtons lässt sich ableiten, dass die Anwendung der Monroe-Doktrin im „eigenen Hinterhof“ in dieser Phase primär darauf gerichtet war, jene nationalistischen Modernisierer, die in der Abhängigkeit von den USA das entscheidende Hindernis für die Unabhängigkeit ihrer Länder sahen und deshalb einen anti-imperialistischen Kurs verfolgten, mit dem Knüppel der „kommunistischen Gefahr“ zu bekämpfen und auszuschalten. Das Paradox besteht darin, dass dieses Vorgehen, das in der blutigen Niederschlagung der guatemaltekischen Revolution seinen paradigmatischen Höhepunkt gefunden hatte, zur Radikalisierung des lateinamerikanischen Anti-Imperialismus führte. Die kubanischen Revolutionäre unter Führung von Fidel Castro und Ernesto Che Guevara zogen aus dem Sturz der Arbenz-Regierung die Schlussfolgerung, dass konsequenter Anti-Imperialismus ohne Sozialismus nicht zu haben war.
Der Sieg der kubanischen Revolution und der Widerhall, den sie in Lateinamerika fand, hatte viertens zur Folge, dass die Monroe-Doktrin in der zweiten Phase des Kalten Krieges vor allem darauf zielte, ein zweites Kuba zu verhindern. Parallel dazu sollte die aufsässige Karibikinsel wieder in die „Schutzzone“ Washingtons eingegliedert werden, was jedoch dank des Eingreifens der Sowjetunion verhindert wurde. Im Zuge der Beilegung der Raketenkrise vom Oktober 1962 mussten die USA vorerst auf die direkte Intervention gegen Kuba verzichten. Damit wurde das Überleben der Revolution unmittelbar vor der „Haustür“ der USA zum lebendigen Beweis für das Scheitern der Monroe-Doktrin in Lateinamerika. Aber gerade deshalb hielt Washington an ihr fest.
Bei der weiteren Anwendung der Monroe-Doktrin wechselten akute Phasen, in denen die revolutionären Kämpfe im Aufschwung waren und Lateinamerika deshalb auf Washingtons außenpolitischer Agenda nach oben rückte, mit Phasen erzwungener Ruhe, die auf die Niederlage der anti-imperialistischen Kräfte folgten. Im Rückblick lassen sich drei revolutionäre Zyklen der zweiten Phase (1960-1990) ausmachen, die allesamt darin endeten, dass Kuba als „sozialistische Insel“ isoliert blieb. Der erste – kubanische – Zyklus, der 1967 mit der Ermordung Ernesto Che Guevaras endete, hatte ein zwiespältiges Ergebnis. Einerseits muss sich Washington bis heute damit abfinden, dass die kubanische Revolution überleben konnte. Andererseits erreichten die USA ihr Ziel, die „Kontinentalisierung“ der Revolution und damit ein“ zweites Kuba“ zu verhindern. Im zweiten Zyklus, der vor allem den Südkonus und Peru erfasste, bildet Chiles „friedlicher Weg zum Sozialismus“ (1970-1973) den Höhepunkt. Er endete mit der Errichtung der Pinochet-Diktatur (1973-1990). Zentralamerika war der Schauplatz des dritten Zyklus (1977-1990), der zeitversetzt an den ersten Zyklus anknüpfte und im Sieg der sandinistischen Revolution in Nicaragua 1979 gipfelte. Er endete mit der Abwahl der Sandinisten im Februar 1990. Zuvor hatte bereits die offene US-Intervention in Panama im Dezember 1989 deutlich gemacht, dass mit dem absehbaren Ende des Kalten Krieges auch und gerade in Lateinamerika eine neue Phase von Monroe 3.0 unmittelbar bevorstand.
Überblickt man fünftens die Entwicklung in Lateinamerika von 1990 bis jetzt, dann fallen zwei grundlegende Aspekte ins Auge. Einerseits kann sich das revolutionäre Kuba trotz extrem ungünstiger Bedingungen halten und erfährt ab 2000 im Ergebnis zweier Wellen von Linksregierungen wirksame Unterstützung, ohne dass andererseits den Ländern Lateinamerikas ein nachhaltiger Ausbruch aus dem geopolitischen Hinterhof Washingtons gelingt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch und vor allem bei der Anwendung der Monroe-Doktrin. Trotz des Wegfalls der „kommunistischen Gefahr“ und gelegentlicher Versicherungen Washingtons, dass die Doktrin nunmehr Geschichte sei, blieb diese weiter in Kraft. Die Liste der Aktionen und Maßnahmen, die davon zeugen, ist lang: Sie reicht von den militärischen Interventionen in Panama (1989) und Haiti (1994-1995) über den „War on Drugs“ in Kolumbien, Peru, Bolivien, Zentralamerika und Mexiko, die zahlreichen Stützpunkte in der Region (z.Z. 17 Militärbasen in 8 Ländern) und die Präsenz der 4. US-Flotte bis hin zu Sanktionen und zahlreichen Regime-Change-Versuchen gegen Kuba, Venezuela und Nicaragua, denen jedoch der Erfolg bislang verwehrt geblieben ist. Die fortgesetzte Anwendung der Monroe-Doktrin als Teil der globalen Pax Americana verweist auf ein Paradoxon: Obwohl die Westliche Hemisphäre den inneren Ring des American Empire bildet und damit das US-Kernland direkt absichert, nimmt Lateinamerika, wo China und Russland nach 2008 deutlich an Einfluss gewonnen haben, in der weltpolitischen Agenda der USA bislang einen sekundären Rang ein.
Von Obama bis Biden: Eurasien bleibt im Visier Washingtons
Gerade der Ukraine-Krieg zeugt davon, dass der 1945 begonnene Kampf um Eurasien auch und gerade während der Präsidentschaft von Joe Biden (2021-2025) im Zentrum der US-amerikanischen Weltmachtpolitik steht. Eine Kette von nicht enden wollenden Kriegen (eng.: never-ending wars bzw. endless wars) macht die „unipolare Ära“ zum Markenzeichen der imperialen Hybris Washingtons. Als „einzige Weltmacht“ glauben die USA sechstens, in allen für ihre Hegemonialstellung relevanten Regionen gleichzeitig Präsenz zeigen und die wenigen „Widerspenstigen“ straflos mit Kriegen und Sanktionen in die Knie zwingen zu können.
Die Neocons, die seit Anfang der 1990er Jahre die Ausrichtung der US-Außenpolitik bestimmen, fordern sowohl gegenüber den beiden eurasischen „Herausforderern“ (Russland und China) als auch gegenüber ihren Verbündeten in den drei „Rimlands“ – Europa (mit EU und NATO), Naher Osten und Ostasien (Japan, Südkorea, Taiwan, Philippinen) den Tribut der Unipolarität – Unterwerfung und Gefolgschaft – ein. Nach der Niederlage im Irakkrieg und der Krise von 2008 begann Washington, über seine bisherige Prioritätensetzung nachzudenken. 2011 kündigte Präsident Barack Obama (2009-2017) den „Schwenk nach Asien“ (Pivot to Asia) an, ohne dass es ihm gelang, sich aus dem geopolitischen Minenfeld des Nahen und Mittleren Ostens zurückzuziehen. Gleichzeitig trieben die Neocons in Washington die Osterweiterung der NATO voran, die 2008 mit dem Angebot an die Ukraine, der NATO beizutreten, den für Russland kritischen Punkt überschreitet.
Der von den USA orchestrierte Staatsstreich vom Februar 2014 in Kiew führte zur offenen Konfrontation mit Moskau. Während sich die USA immer mehr im Gewirr der von ihnen ausgelösten und forcierten Konflikte verheddern, startete China 2013 mit der Belt and Road Initiative (BRI) seine eigene Version der Globalisierung. Auch Donald Trump gelang es in seiner ersten Amtszeit (2017-2021) nicht, den gordischen Knoten selbstverschuldeter Weltverstrickung zu durchschlagen. Unter Joe Biden steigerte sich der Ukraine-Konflikt zum Stellvertreterkrieg der beiden atomaren Supermächte, der die Welt in den Abgrund der nuklearen Selbstvernichtung blicken lässt. Die Niederlage der USA im Krieg gegen Russland sowie die erneute Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA (Trump 2.0) künden vom Ende der Pax Americana, mit dem auch Monroe 3.0 Geschichte wird. Damit stellt sich die Frage, wie es mit der Monroe-Doktrin weitergeht. Welche geopolitische Agenda verfolgt Donald Trump? Hat die Monroe-Doktrin darin noch einen Platz und welche weiteren Metamorphosen ergeben sich dann daraus? Die Antwort darauf folgt im zweiten Teil dieses Beitrags.
Literatur
Brands, Hal: America’s Best Strategy for Cold War II Is 200 Years Old, unter: https://www.bloomberg.com/opinion/features/2023-12-03/america-s-best-strategy-for-cold-war-ii-the-200-year-old-monroe-doctrine
Crandall, Britta/ Crandall, Russell: „Our hemisphere“? The United States in America, from 1776 to the Twenty-First Century. New Haven & London 2021
Capote, Raúl Antonio: US-Militärbasen in Lateinamerika: Washingtons Hauptinteresse liegt in den Bodenschätzen, unter: https://amerika21.de/blog/2023/03/262950/us-militaer-lateinamerika-rohstoffe
Klare, Michael: America First 2.0, in: Le Monde Diplomatique, Deutsche Ausgabe, Januar 2025, S. 8-9
Merlati, Mariele/ Vignati, Daniela: More than One? The Monroe Doctrine, Cold War Style, in: Nuovi Autoritarismi E Democrazie: Diritto, Istituzioni, Società (NAD-DIS), vol. 7 (Feb. 2025) no. 1
https://thedispatch.com/article/the-monroe-doctrine-then-and-now/ by Dr Evan Ellis was first published in December 2023 at the website of The Dispatch
[i] https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika-im-ueberblick/von-der-pax-britannica-zur-pax-americana-ii-londoner-city-versus-monroe-doktrin-wem-gehoert-die-westliche-hemisphaere (3.6.2021)
[ii] https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/venezuela/die-venezuela-krise-190203-menetekel-auf-dem-weg-in-den-ersten-weltkrieg (3.9.2020)
[iii] https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/kuba/der-spanisch-amerikanische-krieg-von-1898-ein-dreifacher-kristallisationspunkt-im-american-empire-building (6.7.2022)
[iv] https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/die-monroe-doktrin-im-spannungsfeld-von-hemisphaerischer-hegemonie-und-weltordnung (16.3.2023)
Bildquellen: [1-2] Quetzal-Redaktion, gc; [3] Quetzal-Redaktion, agimeno