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Von der Pax Britannica zur Pax Americana II – Londoner City versus Monroe-Doktrin: Wem gehört die Westliche Hemisphäre?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Die Pax Britannica repräsentiert eine höchst ambivalente Machtkonstellation. Einerseits gilt sie als Krönung globaler britischer Vormacht, andererseits war sie selbst aus der Londoner Perspektive kein Jahrhundert des Friedens. Zwar gab es zwischen dem Wiener Kongress 1815 und dem Krimkrieg 1853-1856 auf europäischem Boden zwischen den Großmächten keine Kriege, aber bereits die Niederschlagung der Revolutionen des Jahres 1848 und mehr noch die sich beschleunigende Welteroberung außerhalb Europas durch ebendiese Mächte waren ohne militärische Gewalt nicht zu haben. Letztendlich blieb das britische Weltreich unvollendet und seine Geschichte bis heute zutiefst umstritten (John Darwin, S. 15). Nichtdestotrotz prägte die Pax Britannica das 19. Jahrhundert maßgeblich und gerade ihr Scheitern, das 1914 in der „Urkatastrophe“ des 1. Weltkrieges mündete, zwingt zu nachhaltiger Analyse, um ähnliches im 21. Jahrhundert zu verhindern. An dieser Stelle richtet sich der Fokus auf jene Hälfe der Welt, die vom amerikanischen Doppelkontinent ausgefüllt wird. Dies hat zwei Gründe: Zum einen spiegelt sich dort die Vielfalt der einzelnen Bestandteile des britischen Weltreiches in besonders prägnanter Weise, zum anderen ist die Westliche Hemisphäre jener Teil des Globus, wo die ersten entscheidenden Weichenstellungen des Übergangs zur nächsten imperialen Weltordnung, der Pax Americana erfolgen. Doch zunächst eine kurze Darstellung der Pax Britannica als globale Machtkonstellation.

Die Pax Britannica als sich verändernde globale Machtkonstellation

Die Pax Britannica ruhte auf drei Säulen. Die erste wurde vom Britischen Empire gebildet, das sich aus abhängigen Territorien mit unterschiedlichem Status zusammen setzte. Die „weißen“ Dominions, die weitgehende Selbstverwaltung besaßen und seit 1926 Großbritannien gleichgestellt waren, bildeten das Siedlerimperium. Nach der Unabhängigkeit der USA gehörten in Nordamerika nur noch Kanada und Neufundland dazu. Weitere „weiße“ Dominions waren Australien und Neuseeland sowie die Südafrikanische Union. Der Irische Freistaat, der ebenfalls den Status eines Dominions besaß und aus dem später der Republik Irland hervorging, nahm eine Sonderstellung ein, da er erst 1922 aus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland ausgegliedert worden war. Der Rest des Empire setzte sich aus Kolonien, Mandatsgebieten, Klientelstaaten und Kondominien zusammen. In diesem Teil des Britischen Empire, in dem Indien die mit Abstand wichtigste Kolonie darstellte, regierten Weiße ein Imperium von Nichtweißen. Neben dem formellen Empire existierte ein weiteres, das sich aus Staaten zusammensetzte, die zwar formell unabhängig waren, aber weitgehend unter dem Einfluss Großbritanniens standen. Neben Ländern wie China, Persien, Thailand und Ägypten gehörte vor allem Lateinamerika zu diesem informellen Empire (Jackson, S. 34-44).

Die zweite Säule der Pax Britannica bestand in der nahezu unangefochtenen Herrschaft über die Weltmeere. Nach dem Sieg über Napoleon kontrollierte Großbritannien alle wichtigen See- und Kommunikationsrouten. In Gestalt der Royal Navy verfügte es über eine Flotte, die fast 100 Jahre ohne Konkurrenz war. Im 19. Jahrhundert nutzte Großbritannien seine Seeherrschaft, um das Prinzip der „Freiheit der Meere“ erstmals im doppelten Sinne durchzusetzen. Die hohe See war nicht nur für alle nutzbar, „sondern dieser Nutzen wurde auch für alle gesichert durch die Präsenz der britischen Flotten“ (Menzel, S. 74). Durch den Bau von dampfbetriebenen Kriegsschiffen und den Ausbau des weltweiten Netzes britischer Stützpunkte nahm die Militarisierung der Meere eine zuvor nicht erahnte Dimension an. Erst durch das Flottenwettrüsten der anderen Großmächte, das Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzte, sah Großbritannien seine maritime Dominanz gefährdet.

Die dritte Säule der Pax Britannica bildete die Machtbalance gegenüber den Großmächten auf dem europäischen Kontinent. Durch seine Insellage und Seeherrschaft doppelt geschützt, setzte Großbritannien dort auf eine Politik, die zwischen gemeinsamen Absprachen, wechselnden Allianzen und gelegentlichen auch Krieg (Krimkrieg) oszillierte, um seine Hegemonialstellung auch in dieser Richtung abzusichern. Dadurch gelang es der Regierung in London bis 1914, in Europa Kriege zwischen den Großmächten weitgehend zu vermeiden und die Einigungskriege in Deutschland bzw. Italien lokal einzudämmen.

Diese drei Säulen der Pax Britannica ruhten auf einem mächtigen und zugleich sehr dynamischen Fundament: Der Pionierrolle Großbritanniens in der industriellen Revolution. Um 1830 war Großbritannien zur Werkstatt der Welt geworden. „Seine Leichtindustrie versorgte Märkte auf allen Kontinenten. Die meisten Eisenschiffe, Eisenbahnen und Textilmaschinen wurden in Großbritannien gebaut. Großbritannien bot Waren an, die es sonst noch nirgendwo gab. … Die hohe Produktivität der Wirtschaft ermöglichte es zudem, die Exportprodukte preisgünstig zu verkaufen und Konkurrenten aller Art zu unterbieten“ (Osterhammel, S. 651/652). Auf diese Weise entwickelte sich die Pax Britannica zu einem „weltumspannende(n) System kapitalistischer Ermöglichung“ (ebenda, S. 652). Damit kann Großbritannien trotz seines imperialen Status als globale Hegemonialmacht bezeichnet werden. Es stellte international öffentliche Güter bereit, an denen vor allem europäische und amerikanische Länder profitierten. Als weltweiter Motor kapitalistischer Entwicklung forcierte und strukturierte Großbritannien die internationale Arbeitsteilung. Es errichtete ein globales Freihandelssystem und übernahm die Garantie für ein internationales Währungssystem, das auf den Goldstandard und dem britischen Pfund als Leitwährung beruhte (Menzel, S. 72/73).

Ernsthafte Konkurrenz erwuchs dem Britischen Empire erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Mit dem Ende des Bürgerkrieges in den USA 1865, der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und der Meiji-Restauration 1868-1877 betraten jene drei Mächte die Weltbühne, die als Newcomer die britische Hegemonie in unterschiedlicher Weise herausforderten. Ab 1870 verbanden sich zwei neue Entwicklungen miteinander, die in ihrer Wechselwirkung der Pax Britannica bis 1914 ein Ende bereiten sollten. Zum einen hatte die Wirtschaft Großbritannien im globalen Vergleich ihr Zenit erreicht, was sich vor allem auf der rasanten industriellen Aufstieg der USA und Deutschlands zurückzuführen war, die Großbritannien bis 1900 (USA) bzw. bis unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges überrundet hatten (Tabelle 1).

Tabelle 1: Anteil an der Welt-Industrieproduktion (in Prozent)

 

1880

1900

1913

Großbritannien

22,9

18,5

13,6

USA

14,7

23,6

32

Deutschland

8,5

13,2

14,8

Zwischensumme

46,1

55,3

60,4

Frankreich

7,8

6,8

6,1

Rußland

7,6

8,8

8,2

Österreich-Ungarn

4,4

4,7

4,4

Italien

2,5

2,5

2,4

Quelle: Kennedy, S. 311, Tabelle 18

Diese Verschiebungen in der Weltwirtschaft gingen zum anderen mit dem Übergang zum Imperialismus einher. Dessen Novum bestand darin, dass sich im Zuge der zweiten industriellen Revolution die zunehmende Monopolbildung in der Industrie und die Herausbildung einer Finanzoligarchie auf der einen Seite mit der abschließende Aufteilung der Welt unter den europäischen Mächten (unter Einschluss Japans als neue asiatische Großmacht) auf der anderen Seite verbanden. Zwischen den Großmächte begann ein Wettrüsten, das im Flottenbau seinen sichtbarsten Ausdruck fand. Im Rückblick spricht Ulrich Menzel von einem „doppelten Zenit“ der Pax Britannica, der wirtschaftlich bereits zu Beginn der 1870er Jahre erreicht war, sich militärisch aber erst 30-40 Jahre später zeigte (Menzel, S. 76). Im 1. Weltkrieg, den die Großmächte als imperialistischen Krieg um die Neuaufteilung der Welt führten, fand die Pax Britannica schließlich ihr blutiges Ende. In Hinblick auf den Hegemonietransfer stellt dieser Krieg eine – wenn nicht sogar die – entscheidende Weichenstellung dar: Der nordamerikanische Aspirant (USA) kämpfte ab 1917 an der Seite der abtretenden Hegemonialmacht gegen den europäischen Anwärter (Deutschland). Die Erklärung dieser Konstellation konzentriert sich zumeist auf die britisch-deutsche Rivalität und dabei wiederum auf das Wettrüsten im Flottenbau. So berechtigt dieser Ansatz ist, so wenig genügt er, um den britisch-amerikanischen Hegemonietransfer hinreichend zu erfassen. Hierzu bedarf es zusätzlich der Einbeziehung der Rivalitäten zwischen allen drei genannten Großmächten, die in der Westlichen Hemisphäre ihren wichtigsten Austragungsort hatten. Dabei richtet sich der Fokus zunächst auf die britisch-amerikanischen Beziehungen innerhalb der Pax Britannica.

Die Westliche Hemisphäre als Austragungsort britisch-amerikanischer Rivalität

Der amerikanische Doppelkontinent hat aus europäischer Perspektive mehrfach einen Bedeutungswandel erfahren. Christoph Kolumbus, der ihn 1492 im Dienst der spanischen Krone „entdeckt“ hatte, starb 1506 in dem Glauben, in Asien gelandet zu sein. Noch bevor den Europäern klar geworden war, dass eine riesige Landmasse mit einer Länge von 15.000 km in Nord-Süd-Richtung den Weg dorthin versperrte, begannen sie mit der Eroberung der „Neuen Welt“. Durch die Inbesitznahme Amerikas erlangten die europäischen Kolonialmächte einen Machtzuwachs, der ihnen schließlich die Herrschaft über den Globus sicherte. Die koloniale Eingliederung Amerikas in das europäische Weltsystem fand später ihre Entsprechung in einer ersten Welle anti-kolonialer Revolutionen, die 1775 durch den Unabhängigkeitskrieg von 13 britischen Kolonien in Nordamerika eröffnet wurde und mit der Independencia Spanisch-Amerikas 1825 ihren Abschluss fand.

James_Monroe_Bild_pixabay_CCMit der Erlangung der Unabhängigkeit standen die neuen Staaten vor der grundsätzlichen Frage, wie sie ihre Beziehungen zur britischen Hegemonialmacht bestimmen wollten bzw. konnten. Damit wurden im 19. Jahrhundert zugleich die Weichen dafür gestellt, welchen Platz das jeweilige Land in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung künftig einnehmen würde. Die Vereinigten Staaten, deren Atlantikküste vor der Unabhängigkeit gemeinsam mit den karibischen Kolonien (Westindien) den Kern des „ersten britischen Empires“ gebildet hatte, weiteten ihr Territorium bis zum Pazifik aus und stiegen nach dem Bürgerkrieg 1861-1865 zum ernsthaften Rivalen des vormaligen Mutterlandes auf. Bereits 1823 hatte US-Präsident James Monroe mit der später nach ihm benannten Doktrin den ungeteilten Anspruch auf die Westliche Hemisphäre angemeldet. Als die USA 1898 schließlich selbst zur Kolonialmacht avancierten, sah sich London gezwungen, einen Ausgleich mit der neuen Regionalmacht zu suchen. Anders die lateinamerikanischen Nachbarn im Süden: Diese mussten sich auf Dauer in ihr Schicksal als Rohstofflieferanten an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems fügen.

Eine ähnliche Ausdifferenzierung hatte sich innerhalb des amerikanischen Teils des britischen Empires vollzogen. Während Kanada an der Seite Großbritannien die Privilegien eines weißen Dominions genießen konnte, sanken die kleinen Inseln der Karibik nach dem Zuckerrohrboom des 18. Jahrhunderts zu Lieferanten von billigen Arbeitskräften herab. Nachdem die USA 1812 vergeblich versucht hatten, Kanada zu erobern, fanden Washington und London zu einem Interessenausgleich. Sowohl bei der Festlegung der gemeinsamen Grenzen in Nordamerika als auch beim Streit um einen künftigen inter-ozeanischen Kanal in Zentralamerika erreichten beide Mächte Kompromisslösungen. Auch im Bürgerkrieg blieb die britische Regierung trotz ihrer Sympathien für die Südstaaten neutral.

Nach dem Sieg der Nordstaaten veränderte sich das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Mächten in zwei Punkten grundlegend: Wirtschaftlich entwickelten sich die USA im Zuge ihrer Industrialisierung zu ernsthaften Konkurrenten Großbritanniens und machtpolitisch zogen sie im Ergebnis ihres Sieges im Krieg gegen Spanien 1898 mit den europäischen Großmächten gleich. Vor dieser doppelten Machtverschiebung konnte Washington gegen die europäische Konkurrenz zwar vollmundig die Monroe-Doktrin in Feld führen, faktisch hatten aber die britische Seemacht dafür gesorgt, dass die Westliche Hemisphäre „raumfremden Mächten“ verschlossen blieb. Im Windschatten der Pax Britannica konnten die Vereinigten Staaten bis 1890 ihre territoriale Expansion vollenden, ohne in die europäischen Mächterivalitäten hineingezogen zu werden. 1898, als die USA stark genug waren, sich in den Karibik (unter Einschluss Zentralamerikas) einen eigenen Hinterhof und im Pazifik eigene Kolonien zu sichern, konnten sie ihre bisherige Rolle als Trittbrettfahrer (free rider) der britischen Hegemonie aufgeben.

Die Ersetzung des Clayton-Bulwer-Vertrages von 1850 durch den Hay-Paucefote-Vertrag, der am 18. November 1901 vom US-amerikanischen und vom britischen Außenminister unterzeichnet wurde, symbolisiert die neue Stellung Washingtons gegenüber London. Die Briten verzichteten auf jegliche Rechte an einen Kanal in Zentralamerika und erkannten damit die Vorherrschaft der USA über das Karibische Becken (Greater Caribbean) an. Die Abspaltung Panamas von Kolumbien 1903 und die damit verbundene Entscheidung Washingtons, dort einen Kanal zu bauen, gaben den letzten Anstoß für die Anpassung der Monroe-Doktrin an die neue Situation. Mit der Roosevelt Corollary erklärten sich die USA im Dezember 1904 zur alleinigen Ordnungs- und Interventionsmacht der Region. Mit der Eröffnung des Panamakanals im August 1914 und der Errichtung einer kolonialen Zone auf beiden Seiten der neuen Wasserstraße, die von Washington erst 1999 an Panama übergeben wurde, unterstrichen die USA ihre neue Machtposition. William Howard Taft, der von 1909 bis 1913 im Weißen Haus regierte, kleidete den Hegemonialanspruch der Vereinigten Staaten über die Westliche Hemisphäre 1912 in folgende Worte: „Der Tag ist nicht mehr fern, an dem drei star and stripes (gemeint ist die US-Flagge – P.G.) an drei gleich weit entfernten Punkten unser Territorium markieren werden: eine am Nordpol, eine andere am Panamakanal und die dritte am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird dann tatsächlich unser sein; kraft unserer Überlegenheit als Rasse gehört sie uns schon jetzt aus moralischen Gründen.“(1)

Britanniens informal Empire in Lateinamerika

Mit diesem Anspruch forderten die USA zugleich die britische Hegemonialmacht in Südamerika heraus. Dort hatte London ein „informelles Empire“ (informal Empire) errichtet, das in erster Linie auf der ökonomischen Vormachtstellung Großbritanniens beruhte. Noch bevor Großbritannien 1860 seine Zöllen vollständig aufgehoben hatte, prägte der Freihandel die Wirtschaftsbeziehungen mit Lateinamerika. Aufgrund der britischen Vorreiterrolle bei der Industrialisierung kamen die meisten lateinamerikanischen Importe von dort, während die Region einen relativ geringen Anteil an den britischen Gesamtexporten hatte. 1860 lagen sie bei sieben Prozent, erreichten 1913 mit elf Prozent ihren Höhepunkt und sanken 1938 auf acht Prozent. Der übergroße Teil ging in die sogenannten ABC-Staaten (Argentinien, Brasilien, Chile), unter denen wiederum Argentinien mit einem wachsenden Anteil dauerhaft den Spitzenplatz einnahm (Tabelle 2).

Tabelle 2: Britische Exporte nach Lateinamerika – Anteil der einzelnen Länder in %

 

Argentinien

Brasilien

Chile

ABC

Kolumbien

Mexiko

Peru

Rest

1860

12,9

31,4

12,1

66,4

5,7

3,6

10

24,3

1913

40,8

22,6

10,8

74,2

3,1

4

2,7

16

1938

53,8

14,4

4,6

72,8

9,3*

2,4

2,9

11,7

* unter Einschluss von Ecuador und Venezuela

Quelle: Bulmer-Thomas, S. 3

Neben dem Export von Industriegütern gründete die britische Vormachtstellung auf der Rolle der Londoner City als Weltfinanzzentrum, wo die lateinamerikanischen Eliten bevorzugt ihre Kredite aufnahmen. Auch die britischen Direktinvestitionen standen hoch im Kurs. Sie flossen in erster Linie in den Eisenbahnbau. So wurde die erste lateinamerikanische Eisenbahn, die in den 1830er Jahren in Kuba ihre Premiere feierte, durch britisches Kapital finanziert. Später (vor allem ab 1880) entwickelte sich Argentinien zum Schwerpunkt britischer Eisenbahninvestitionen. Vor dem 1. Weltkrieg entfielen dort etwa 60 Prozent aller ausländischen Investitionen auf britisches Kapital. Nach dem Krieg erreichte das argentinische Eisenbahnnetz, das sich zum überwiegenden Teil in britischem Besitz befand, eine Länge von mehr als 20.000 Meilen. Seine Nationalisierung 1948 durch Juan D. Perón bedeutete folgerichtig das Ende des britischen informal Empire in Argentinien. Auch dort hatten die USA inzwischen die Rolle der Briten übernommen.

Argentinien_Export_Bild_Quetzal-Redaktion_solebDie zentrale Bedeutung Argentiniens für den Freihandelsimperialismus Großbritanniens lässt sich mit strukturellen Ähnlichkeiten erklären, die das Land am Río de la Plata mit den britischen Siedlungskolonien und den USA teilte. Dazu zählt erstens die hohe europäische Einwanderung. Von 1870 bis 1914 immigrierten ungefähr sechs Millionen Menschen aus Europa nach Argentinien, von denen die meisten aus Spanien und Italien kamen. Die britische Community blieb hingegen relativ klein. Zweitens gehörte Argentinien zu den reichsten Ökonomien der Welt. 1913 lag das durchschnittliche BIP pro Kopf des südamerikanischen Landes bei 75 Prozent des entsprechenden Wertes der USA. Drittens ist vor allem die gemeinsame Rolle als Nahrungsmittellieferant der britischen Industrialisierung zu nennen. Zwischen 1901 und 1914 bezog Großbritannien nur noch 15 Prozent seiner Weizenimporte aus Russland, dem letzten wichtigen Exporteur auf dem europäischen Kontinent. Aus den Amerikas, wo Argentinien gemeinsam mit den USA und Kanada zur Spitzengruppe der Lebensmittel-Exporteure gehörte, kamen hingegen 60 Prozent der Weizeneinfuhren. Dies begann sich jedoch nach dem 1. Weltkrieg zu ändern. Während die USA in der Folgezeit Großbritannien als Hegemonialmacht ablöste und Kanada später sogar als ein führendes Industrieland in den Klub der G7 aufgenommen wurde, verharrte Argentinien im Status des „ewiges Schwellenlandes“ und musste innerhalb Südamerikas seine Führungsrolle an Brasilien abtreten. Wie sehr die argentinische Oligarchie die Unterordnung unter die britische Hegemonie verinnerlicht hatte, macht eine Bemerkung des damaligen argentinischen Präsident Julio A. Roca deutlich, der anlässlich der der Verlängerung des Handelsabkommens mit Großbritannien im Jahr 1935 sein Land voller Stolz zur „Musterkolonie des britischen Imperiums“ erklärte (Morazán, S. 11).

Bei der geographischen Verteilung der britischen Kapitalflüsse und -bestände vor dem 1. Weltkrieg (Tabelle 3) fällt auf, dass über die Hälfte (53,1 bzw. 54,8 Prozent) in der Westliche Hemisphäre konzentriert war. Das Land mit den weltweit meisten britischen Kapitalanlagen waren die USA (22 Prozent sowohl der Flüsse als auch Anlagen), gefolgt von Kanada (10,7 bzw. 14,4 Prozent), das als „weißes Dominion“ zum Britischen Empire gehörte. Legt man nur die britischen Kapitalflüsse zwischen 1865 und 1914 zugrunde, dann liegt Argentinien auf dem Länderranking an dritter Stelle. Somit kann man alle drei Länderkategorien, die für das britische Kapital während der Pax Britannica von zentraler Bedeutung waren, in der Westlichen Hemisphäre finden: die USA als das am schnellsten aufstrebende Industrieland, Kanada als bedeutendste britische Siedlungskolonie und Lateinamerika als wichtigste Region des britischen Freihandelsimperialismus (informal Empire).

Ordnet man das Ganze nach Kontinenten, dann liegt Lateinamerika mit 20,3 Prozent der Gesamtflüsse und 18,4 Prozent der Gesamtbestände nach Nordamerika auf dem zweiten Rang. Europa hingegen bildete unmittelbar vor Beginn des 1. Weltkrieges mit einem Anteil von 5,6 Prozent an den britischen Kapitalinvestitionen sogar das Schlusslicht. Die zentrale Bedeutung der Amerikas für das britische Kapital ist auch dann noch festzustellen, wenn man Kanada als Teil des britischen Empire beim Vergleich außen vor lässt. So liegt der Anteil des Kapitals, das im besagten Zeitraum in die USA und nach Lateinamerika fließt, sogar noch etwas höher als der des Britischen Empire (42,3 zu 42 Prozent). Bei den Gesamtbeständen liegt letzteres mit 46 Prozent zwar vorn, die USA und Lateinamerika zusammen folgen aber mit beachtlichen 40,4 Prozent.

Tabelle 3: Vergleich der Bestands- und Flußstatistiken für britische Finanzanlagen

 

Kapitalflüsse 1865-1914 in Mio. Pfund von 1913

% der Gesamtflüsse

Bestände 1913/1914 in Mio. Pfund von 1913

% der Gesamt-bestände

Europa

478

11,7

224

5,6

Nordamerika

1334

32,8

1448

36,4

– USA

898

22

873

22

– Kanada

436

10,7

575

14,5

Lateinamerika

829

20,3

731

18,4

– Argentinien

380

9,3

319,6

8

– Brasilien

185

4,5

148

3,7

– Chile

67

1,7

61

1,5

– Mexiko

89

2,2

99

2,5

Asien

555

13,6

672

16,9

– Indien

347

8,5

378,8

9,5

– China

80

2

123

3,1

– Japan

85

2,1

102

2,6

Afrika

410

10,1

483

12,2

– Südafrika

288

7,1

370

9,3

Ozeanien

467

11,5

416

10,5

Brit. Empire

1698

42

1880

46

– Dominions*

1191

29,2

1361

34,3

Welt

4073

100

3974

100

* Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika

Quelle: Schularick, Tabelle 1.8, S. 46

Angesichts dieser zentralen ökonomischen Bedeutung der Westlichen Hemisphäre stellt sich die Frage, weshalb London dort den friedlichen Transfer seiner Hegemonie zu den USA bereits um die Jahrhundertwende zu akzeptieren bereit war, die Pax Britannica in den übrigen Teilen der Welt aber weiterhin zäh gegen seine europäischen Rivalen verteidigte. Im Gegenteil: Die Rivalität mit Deutschland, das neben den USA als zweiter Newcomer Großbritanniens Machtstellung herausforderte, spitzte sich soweit zu, dass sie – zusammen mit anderen Konflikten – zum 1. Weltkrieg führte. Um den Entscheidungsprozess Londons im Hegemonietransfer – gegen Deutschland, aber für die USA – nachvollziehen zu können, bedarf es einer vergleichenden Betrachtung aller Konflikte, die aus der Sicht Großbritanniens für die Aufrechterhaltung der Pax Britannica relevant waren. Wie sich die Auseinandersetzungen in der Westlichen Hemisphäre zu denen im Rest der Welt verhalten, soll dann im dritten Teil dieser Reihe untersucht werden.

 

(1) Im Original: „The day is not far distant when three star and stripes at three equidistant points will mark our territory: one at the North Pole, another at the Panama Canal, and the third at the South Pole. The whole hemisphere will be ours in fact as, by virtue of our superiority of race, it already is ours morally.“

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Literatur:

Buckner, Phillip (ed.): Canada and the British Empire. Oxford et al. 2008

Bulmer-Thomas, Victor: British Trade with Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries. London 1998

Darwin, John: Das unvollendete Weltreich. Aufstieg und Niedergang des Britischen Empire 1600-1997. Frankfurt/ New York 2013

Jackson, Ashley: Das Britische Empire. Stuttgart 2015

Kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt a. M. 1991

Menzel, Ulrich: Imperium oder Hegemonie? Folge 12: Großbritannien 1783-1919: Das Zweite Empire. Dezember 2009

Morazán, Pedro: Argentinien – Tangotanz auf dem Vulkan. Siegburg 2004

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009

Porter, Andrew (ed.): The Oxford History of the British Empire. Volume III: The Nineteenth Century. Oxford/ New York 1999 (reprint 2009)

Rosenwurcel, Guillermo/ Katz, Sebástian: Auf der Suche nach dem verlorenen Kurs. Eine stilisierte Darstellung der argentinischen Wirtschaftsgeschichte. In: Nueva Sociedad, Sonderheft, Okt. 2010, S. 53-73

Schularick, Moritz: Finanzielle Globalisierung in historischer Perspektive. Kapitalflüsse von reich nach Arm, Investitionsrisiken und globale öffentliche Güter. Dissertation, Berlin 2004

 

Bildquellen: [1] pixabay_CC; [2] Quetzal-Redaktion_soleb

Teil I unter: https://quetzal-leipzig.de/themen/politik-und-recht/von-der-pax-britannica-zur-pax-americana-i-welchen-platz-nimmt-lateinamerika-im-britisch-amerikanischen-hegemonietransfer-ein

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