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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Venezuela-Krise 1902/03 – Menetekel auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Zwischen der Venezuela-Krise, die im Dezember 1902 begann, und dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg am April 1917 liegen fast 15 Jahre. Auch beim Ausbruch und während des Weltkriegs hat Venezuela keine wahrnehmbare Rolle gespielt. Es stellt sich somit die Frage, warum man dann überhaupt einen Artikel schreiben sollte, der beide Ereignisse miteinander verknüpft. Alle, die sich die Zeit nehmen, weiter zu lesen, erhalten im Folgenden eine Antwort. Am Ende ihrer Lektüre könne sie dann selbst darüber entscheiden, inwieweit die durch die Überschrift geweckte Wissbegier damit befriedigt ist.

Das Ende der Pax Britannica

Die Pax Britannica umfasst den Zeitraum vom Wiener Kongress 1815 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Diese lange Phase britischer Welthegemonie ist zwischen zwei Hegemonialkriegen eingebettet, die zwar hauptsächlich in Europa ausgetragen wurden, aber wegen der europäischen Kolonialreiche zugleich eine globale Dimension besaßen. Die Pax Britannica ruhte auf drei Pfeilern: dem Empire (Kolonialpolitik), dem Kräftegleichgewicht in Europa (Kontinentalpolitik) und dem informellen Empire in Lateinamerika, China und Persien. Das Fundament britischer Weltherrschaft bildete die Stellung des Landes als führende Industrie- und Handelsnation – machtpolitisch abgesichert durch den Status als „Herrin der Meere“. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzten jedoch Entwicklungen ein, durch die die Pax Britannica zunehmend unter Druck geriet. Um 1870 traten jene drei Länder auf die Bühne der Weltpolitik, durch die sich die britische Hegemonialmacht in besonderer Weise herausfordert sah: Die USA forcierten nach dem Bürgerkrieg, der bis 1865 währte und in dessen Ergebnis die Sklaverei abgeschafft wurde, die Industrialisierung und schlossen bis 1890 ihre Westexpansion ab. In der Mitte Europas war nach dem Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Frankreich 1871 in Gestalt des Deutschen Reiches ein neues Machtzentrum entstanden, das mit Riesenschritten seine Wirtschaft auf Weltniveau brachte. Als dritter im Bund der schnell aufholenden Nachzügler ist Japan zu nennen, das mit der Meiji-Restauration von 1868 einen neuen Kurs der „Verwestlichung“ einschlug, der das ostasiatische Land radikal modernisierte. Der Aufstieg der neuen Weltmachtkonkurrenz vollzog sich in einer Zeit, die als Ära des klassischen Imperialismus gilt.

Tabelle 1: Anteil der Großmächte (mit Kolonien) an der Landfläche, an der Weltindustrieproduktion und am Welthandel in % (1878, 1890 bzw. 1900 sowie 1913)

Land

Terr. 1878

Terr.

1913

Ind.

1900

Ind.

1913

Handel 1890

Handel 1913

Großbritannien

18,8

22,3

18,5

13,6

21,4

15,9

USA

7,1

7,3

23,6

32

10,5

11,5

Deutschland

0,4

2,6

13,2

14,8

11,8

13,8

Russland

17,2

17,2

8,8

8,2

3,5

4,1

Frankreich

3,7

8,7

6,8

6,1

10,2

7,9

Japan

0,3

0,5

2,4

2,7

0,9

1,8

Quelle: Danilovic, S. 30, 32 und 34.

Abkürzungen in der Tabelle: Terr. = Anteil an der Landfläche; Ind. = Anteil an der Weltindustrieproduktion; Handel = Anteil am Welthandel

 

Bis 1913 hatte sich der Wettlauf um Kolonien, Absatzmärkte und Weltmachtstatus soweit zugespitzt, dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt auf der Tagesordnung stand. Entschieden wurde er im Ersten Weltkrieg, der mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914 begann. Ihren Bündnisverpflichtungen folgend stellten sich Deutschland, das Osmanische Reich und Bulgarien an die Seite der Donaumonarchie. Diesem Lager der sogenannten Achsenmächte stand die Entente gegenüber, der Frankreich, Russland und Großbritannien angehörten. Japan hatte sich auf die Seite der Entente geschlagen, um sein eigenes Kolonialreich in Asien auf Kosten Deutschlands zu erweitern. Die USA erklärten sich für neutral.

Der 1914 ausgebrochene Weltkrieg brachte nicht nur die britisch dominierte Weltordnung zum Einsturz. Seine Erschütterungen lösten die Revolution von 1917 in Russland aus und führten zum Zusammenbruch der Habsburger Doppelmonarchie und des Osmanischen Reiches. Er bereitete den Boden für den Zweiten Weltkrieg und gilt nicht zu Unrecht als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Als er im November 1918 endete, lagen weite Teile Europas in Trümmern. Großbritannien und Frankreich hatten zwar militärisch gesiegt, waren aber bei den USA, die erst im April 1917 an der Seite der Entente in den Krieg eingetreten waren, hoch verschuldet. Die tektonischen Machtverschiebungen des Ersten Weltkrieges bildeten die Grundlage dafür, dass das nordamerikanische Land knapp dreißig Jahre später das Erbe der Pax Britannica antreten und seine eigene Weltordnung errichten konnte. Der Hauptgegner, den die USA zuvor ausschalten mussten, war Deutschland, das unter Hitler 1939 bis 1945 zum zweiten Mal nach der Weltherrschaft griff. Großbritannien, die abtretende Hegemonialmacht, und die beiden imperialistischen Aufsteiger, die zwischen 1914 und 1945 um deren Nachfolge einen blutigen, globalen Kampf ausfochten, Deutschland und die USA, waren erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Region aneinander geraten, die weitab von Schlachtfeldern beider Weltkriege liegt – in Lateinamerika.

Lateinamerika vor dem Ersten Weltkrieg – Ein Konfliktfeld imperialistischer Rivalität zwischen den USA, Deutschland und Großbritannien

Im 19. Jahrhundert war Lateinamerika fester Bestandteil des „informal empire“ Großbritanniens und als solcher unverzichtbarer Teil der Pax Britannica. In allen wichtigen wirtschaftlichen Belangen der Region – im Handel, im Finanzsektor und bei den Investitionen – waren die Briten führend. Diese wirtschaftliche Vormachtstellung erlaubte ihnen eine weitgehende politische Kontrolle der formell unabhängigen Staaten. Ende des 19. Jahrhunderts geriet die britische Dominanz in Lateinamerika von zwei Seiten unter Druck. Im Norden hatten sich die USA mit ihrem Sieg im Krieg gegen Spanien 1898 zum imperialistischen Herausforderer gemausert und von Europa aus strebte Deutschland mit seiner 1896 proklamierten „Weltpolitik“ nach globaler Geltung. In beiden Fällen verbanden sich wirtschaftliche und machtpolitische Interessen so miteinander, dass sich die Gegensätze zwischen Deutschland und den USA zum Primärkonflikt innerhalb der Triade imperialistischer Rivalität entwickelten, der 1917 schließlich im Eintritt der USA in den Weltkrieg an der Seite Großbritanniens und Frankreichs gegen Deutschland gipfelte.

Wie konnte es zu einer solchen Konstellation kommen? Um die Antwort zu finden, muss man die Beziehungen aller drei Mächte zueinander grob skizzieren. Die Beziehungen zwischen Großbritannien und den USA in der westlichen Hemisphäre wurden durch eine Kombination von Konflikt und Kooperation bestimmt, die im konkreten Fall davon abhängig war, ob und wie die USA in der Lage waren, die Monroe-Doktrin von 1823 durchzusetzen. Gegenüber Großbritannien waren dabei zwei Aspekte von zentraler Bedeutung: Erstens hatten sich die Vereinigten Staaten nach dem Krieg von 1812 zu einem Ausgleich mit London entschlossen, mit dem sie die Pax Britannica einerseits akzeptierten, andererseits aber auch als free rider nutzten. In der Folge konnten sie sich auf ihre territoriale Westexpansion konzentrieren, ohne in direkte Konfrontation mit den europäischen Mächten geraten zu müssen. Sie verließen sich darauf, dass die Briten im Eigeninteresse jeder Einmischung von der anderen Seite des Atlantiks entgegentreten würden. Innerhalb dieses grundsätzlichen Agreements versuchten die USA zweitens dort, wo es ihnen möglich war, ihre Interessen auch gegen den Widerstand Londons durchzusetzen. Die beiden wichtigsten Konfliktpunkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren der Bau eines inter-ozeanischen Kanals auf dem zentralamerikanischen Isthmus und die endgültige Grenzziehung zwischen den USA und dem britischen Kanada. Durch den Sieg der Nord- über die Südstaaten im Bürgerkrieg hatte sich ein dritter Konfliktpunkt – die Parteinahme Londons für die Sklavenhalterstaaten – weitgehend erübrigt.

Deutschlands Konflikte mit Großbritannien resultierten hauptsächlich aus dem Streben des Aufsteigers nach Weltgeltung, wobei der Wettlauf der europäischen Großmächte im Flottenbau die Funktion eines Katalysators besaß. In diesem imperialistischen Kräftemessen sahen sich sowohl Deutschland als auch Großbritannien mit einem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert. Für das Kaiserreich bestand einerseits die Gefahr eines Zwei-Fronten-Krieges gegen Frankreich und Russland, die seit 1894 in einer Zweierallianz miteinander verbündet waren. Andererseits wollte Deutschland nicht auf eine Flotte verzichten, die es mit der britischen Navy aufnehmen konnte. Die Furcht vor einer Einkreisung verband sich hier auf fatale Weise mit dem Kampf um den „Platz an der Sonne“ und gesteigerter Aggressivität.

Großbritannien wiederum schwankte in der strategischen Ausrichtung seiner Außen- und Sicherheitspolitik zwischen Empire und Kontinent. Der Burenkrieg 1899 bis 1902 in Südafrika hatte die Grenzen der britischen Imperialpolitik aufgezeigt und in London die Auseinander­setzungen über die politische Zielbestimmung gegenüber den konkurrierenden imperialistischen Mächten verschärft. Dabei spielte die öffentliche Meinung, für die die „deutsche Gefahr“ die größte Bedrohung darstellte, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein ähnliches Misstrauen gegenüber dem Kaiserreich entwickelte sich auch in den USA. Im Unterschied zum Vereinigten US-Flagge_Bild-Quetzal-Redaktion_gcKönigreich, wo die europäische Kräftekonstellation im Mittelpunkt stand, sah sich Washington jedoch in erster Linie in Lateinamerika herausgefordert. Einerseits hatten sich die USA mit dem Sieg über Spanien 1898 den neuen Status einer Regionalmacht erkämpft, den sie andererseits gegenüber den Ansprüchen sowohl der alten (Großbritannien) als auch der neuen Konkurrenz (Deutschland) erst noch „klären“ mussten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte Washington vor allem in der Karibik (Kuba, Puerto Rico), in Zentralamerika und in Mexiko über starke Positionen, während die britischen Interessen in erster Linie in Südamerika lagen. Dort zählten Argentinien, Brasilien und Chile zu den wichtigsten „Partnern“ Londons. Beide Mächte sahen die westliche Hemisphäre als ihre natürliche (USA) bzw. traditionelle Einflusszone (Großbritannien) an und nahmen deshalb Deutschland vor allem als Störenfried und Eindringling wahr.

Dieses Misstrauen wurde durch die hohe Dynamik der deutschen Expansion in Lateinamerika noch verstärkt. Bei den deutschen Direktinvestitionen in Übersee nahm die Region bereits 1898 mit 33,6 bis 38,1 Prozent noch vor Nordamerika (25,8 bis 28,8 Prozent) die Spitzenposition ein. 1914 hatte sich der Anteil Lateinamerikas auf 39,5 Prozent erhöht, während sich der Nordamerikas bei 26,4 Prozent eingepegelt hatte, gefolgt von Afrika und der Türkei mit 18,5 Prozent. Von 1902 bis 1913 konnte Deutschland seine Exporte nach Lateinamerika von 215,5 Mill. auf 772,8 Mill. Mark steigern. Dies entsprach einem Plus von 258,6 Prozent, während Großbritannien mit einem Zuwachs von 152,3 Prozent und die USA mit 173,8 Prozent deutlich zurücklagen (Fiebig-von Hase, S. 108, Tabelle II und S. 172).

Gestützt auf seine gewachsene ökonomische Stärke strebte Deutschland in Lateinamerika nach politischer Kontrolle. Dabei erwiesen sich die steigenden Exporte von Rüstungsgütern und der damit verbundene Aufbau von Militärmissionen in Chile, Argentinien und Bolivien als geeignetes Einfallstor (Brunn 1969). Dem um die Jahrhundertwende forcierten Konzept zur Errichtung eines informellen deutschen Herrschaftsbereiches in Südbrasilien kam im Rahmen der deutschen „Weltpolitik“ eine Schlüsselrolle zu (Fiebig-von Hase, S. 193-247). „Bei keiner der deutschen Unternehmungen in Lateinamerika sind die ökonomischen Motive und Interessen so stark mit politischen Zielvorstellungen und ideologischen Zukunftsvisionen nationalistischer Art vermischt worden wie bei den deutschen Siedlungsprojekten in Südbrasilien“ (ebenda, S. 193). Mit dem Flottenbau rückte außerdem die Suche nach Marinestützpunkten in der Karibik in den Vordergrund. In den gegenseitigen Beziehungen und besonders in Bezug auf Lateinamerika nahmen sowohl die USA als auch Deutschland den jeweils anderen als „Gefahr“ wahr. Beide Mächte konzipierten ihre Kriegsplanungen vor dem Ersten Weltkrieg in der Annahme, im Ernstfall ihre Kriegsmarine gegeneinander kämpfen zu lassen. Aus der Sicht Deutschlands musste die militärische Entscheidung in der Karibik gesucht werden. Bei den deutschen Kriegszielen standen die Annexion von Puerto Rico und die Aufhebung der Monroe-Doktrin an vorderster Stelle (ebenda, S. 361-506).

Das Tauziehen um Venezuela als Machtprobe und Weichenstellung

Großbritannien und die USA waren bereits 1895/96 in Venezuela aneinander geraten. Im Streit um die Grenze zu Guyana hatte sich Washington selbst zum Schlichter ernannt und die Briten sahen sich daraufhin veranlasst, den Schiedsspruch der USA zu akzeptieren. 1902 entspannte sich um Venezuela ein zweiter internationaler Konflikt. Der seit 1899 regierende Präsident Cipriano Castro hatte am 1. März einseitig den Schuldendienst gekündigt. Zu diesem Zeitpunkt war der venezolanische Staat allein bei britischen und deutschen Gläubigern nach damaligem Kurs mit etwa 96,6 Millionen Mark bzw. 4,73 Millionen Pfund verschuldet. Das Kaiserreich und das Vereinigte Königreich wollten die Gelegenheit nutzen, um an Venezuela ein Exempel zu statuieren. Nachdem Castro das Ultimatum beider Mächte ignoriert hatte, begannen diese am 9. Dezember 1902 mit ihrer Seeblockade.

Für Castro, der sich seit 1901 mit einer Rebellion seines Rivalen Manuel Antonio Matos konfrontiert sah, spielten die Blockademächte eine eher untergeordnete Rolle. Insgeheim setzte er darauf, dass die USA aus Eigeninteresse versuchen würden, einen Erfolg Deutschlands und Großbritanniens zu verhindern. Deshalb hatte Castro mit Einwilligung Washingtons den US-Gesandten in Caracas, Herbert Bowen, bevollmächtigt, bei den Verhandlungen mit den Blockademächten, die Mitte Januar 1903 in der US-Hauptstadt begonnen hatten, die Interessen Venezuelas zu vertreten. Mit ihrer Strategie der Kriseneindämmung konnten die USA einerseits eine direkte Einmischung vermeiden, andererseits aber genügend Druck auf Berlin und London ausüben, um die Blockade schnellstmöglich zu beenden. Begünstigt durch das ungeschickte Verhalten der deutschen Seite konnte Washington die Briten zum Einlenken bewegen, so dass Deutschland am Ende nichts weiter übrig blieb, als dem in Washington ausgehandelten Kompromiss ebenfalls zuzustimmen. Am 13. Februar 1903 wurden die Washingtoner Protokolle, in denen Venezuela Teilzahlungen an die beiden Gläubigerstaaten zugestimmt hatte, unterzeichnet. Die Blockade wurde zwei Tage später aufgehoben.

Trotz des glimpflichen Ausgangs hatte „die Intervention tatsächlich die ernsteste Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg heraufbeschwor(en)“ (ebenda, S. 849). Während Deutschland danach trachtete, die günstige Gelegenheit zu nutzen, um die Kontrolle über Venezuela im Sinne einer eigenen Einflusssphäre auszubauen, wollten die USA genau dies verhindern. Die Kräftekonstellation ließ es damals jedoch noch nicht zu, dass Washington dem deutschen Vorstoß unter direkter Berufung auf die Monroe-Doktrin entgegentreten konnte. Zum einen scheute Washington vor der Übernahme größerer Verantwortung für das Verhalten der lateinamerikanischen Staaten zurück; zum anderen fiel der Vergleich der Flottenstärke zwischen Deutschland und den USA damals für letztere (noch) ungünstig aus. Dies zwang Theodore Roosevelt, seit dem 14. September 1901 im Amt des US-Präsidenten, zu größter Vorsicht gegenüber dem Kaiserreich.

Während sich die Spannungen gegenüber Deutschland dramatisch zuspitzten, hatten sich die Beziehungen der USA zu Großbritannien Ende 1901 deutlich entspannt. Im November war der Hay-Pauncefote-Vertrag unterzeichnet worden, in dem London in der Kanalfrage den Forderungen Washingtons weitgehend entsprochen hatte. Zugleich schuf die „deutsche Gefahr“, der sich sowohl Großbritannien als auch die USA ausgesetzt sahen, eine geeignete Basis für eine weitere Annäherung. Noch im selben Jahr, in dem die Venezuela-Krise beigelegt worden war, einigten sich die beiden Mächte über den Verlauf der Grenze zwischen Alaska und Kanada. Damit war nach der Kanalfrage ein zweiter zentraler Konfliktpunkt entschärft worden. Die neue Situation erlaubte es Roosevelt, die Monroe-Doktrin zwei Jahre nach Beginn der Venezuela-Krise in seinem Sinne zu verschärfen. In der Roosevelt Corollary vom 6. Dezember 1904 proklamierte er das einseitige „Recht“ der USA, gegenüber den Ländern der westlichen Hemisphäre als Polizeimacht zu agieren und bei Fehlverhalten in deren innere Angelegenheiten einzugreifen. Mit der Politik des „Big Stick“ ließ er seinen Worten unmittelbar entsprechende Taten folgen. Seine Nachfolger machten die Interventionspolitik gegenüber Lateinamerika zur gängigen Praxis der Außen- und Sicherheitspolitik der USA.

An der Monroe-Doktrin scheiden sich die Geister

Mit Blick auf die Venezuela-Krise und die Beziehungen zwischen den drei imperialistischen Rivalen – USA, Großbritannien und Deutschland – spielt die Monroe-Doktrin insofern eine entscheidende Rolle, als dass sich an der Frage ihrer Akzeptanz die späteren Konfliktlinien der beiden Mächteblöcke, die im Ersten Weltkrieg aufeinanderprallten, relativ früh aufzeigen lassen. Trotz der seit 1898 gewachsenen Macht der USA stellte die Monroe-Doktrin „um die Jahrhundertwende einen politischen Grundsatz dar, dem nicht nur die völkerrechtliche Anerkennung, sondern auch der materielle Unterbau fehlte. Erst diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit machten die Aufrechterhaltung der Doktrin zu einem Problem und, da diese inzwischen den Charakter eines unverzichtbaren politischen Grundsatzes angenommen hatte, ihre Verteidigung zu einem sicherheitspolitischen Risiko“ (ebenda, S. 843/843). Es war Washington bis 1914 nicht gelungen, die britische und deutsche wirtschaftliche Dominanz insbesondere in Südamerika zu brechen und das Ziel der eigenen ökonomischen Durchdringung ganz Lateinamerikas zu erreichen. Umso wichtiger war es für Washington, wie sich gerade seine beiden härtsten Rivalen innerhalb der westlichen Hemisphäre gegenüber der Monroe-Doktrin verhielten, die damit zugleich zum Lackmus-Test für die künftigen Bündnisbeziehungen der USA gegenüber den europäischen Mächten wurde.

Als global führende See- und Handelsmacht mit dem größten Kolonialreich und sicheren Positionen in Südamerika war Großbritannien weitgehend saturiert und damit weitaus eher als der machthungrige imperialistische Nachzügler Deutschland bereit, die Monroe-Doktrin zumindest rund um das Karibische Becken zu akzeptieren. Mit seinem Verhalten in der Venezuela-Krise 1902/03 hatte London dies gegenüber Washington deutlich signalisiert. Für das Kaiserreich hingegen war Lateinamerika zu wichtig, um den Briten bei der Anerkennung der Monroe-Doktrin zu folgen. Damit „wurde das amerikanische Feindbild eindeutig auf das deutsche Kaiserreich fixiert“ (ebenda, S. 843). Detlef Junker, ein profunder Kenner der US-Außenpolitik, kennzeichnet diese Fixierung sogar als „manichäische Falle“. Die Konflikte zwischen beiden Ländern, die auf die Venezuela-Krise folgten und im April 1917 schließlich zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg an der Seite der Entente führten, bestätigten aus der Sicht Washingtons lediglich die 1903 getroffene Grundsatzentscheidung gegen Deutschland. Mit dem Ende des Weltkriegs waren die USA 1918 zur Weltmacht aufgestiegen, zogen es aber trotz gegenteiliger Bemühungen ihres Präsidenten Woodrow Wilson (1913-1921) vor, bis 1941 im Wartestand zu bleiben. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und ihr Aufstieg zur Supermacht beendeten schließlich alle Versuche Deutschlands und anderer imperialistischer Rivalen, die Monroe-Doktrin infrage zu stellen. Für Donald Trump, der seit 2017 das Amt des US-Präsidenten ausübt, bildet sie nach wie vor die Grundlage seiner Politik gegenüber Lateinamerika.

 

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Literatur:

Brunn, Gerhard: Deutscher Einfluss und deutsche Interessen in der Professionalisierung einiger lateinamerikanischer Armeen vor dem Ersten Weltkrieg (1885-1914), in: Jahrbuch für die Geschichte Lateinamerikas 1969, S. 278-336

Danilovic, Vesna: When the Stakes Are High. Deterrence and Conflict among Major Powers. Ann Arbor 2002

Fiebig-von Hase, Ragnhild: Lateinamerika als Konfliktfeld der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1890-1903. Vom Beginn der Panamerikapolitik bis zur Venezuelakrise 1902/03. Göttingen 1986

Junker, Detlef: Die manichäische Falle. Das Deutsche Reich im Urteil der USA, in: Hildebrand, Klaus u.a. (Hrsg.): Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871-1945), München 1995, S. 141-158

Rose, Andreas: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. München 2011

Wiechmann, Gerhard: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866 – 1914: eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik. PhD, Universität Oldenburg 2000

 

Bildquelle: [1] Quetzal-Redaktion_gc

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