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„Operación Cóndor“ – Die Internationalisierung des Staatsterrorismus

Sven Sieber | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Am 22. Dezember 1992 entdeckten Ermittler einer paraguayischen Sonderstaatsanwaltschaft, die Verbrechen der 1989 gestürzten Diktatur Alfredo Stroessners untersuchte, in einem Polizeiobjekt in Lambaré, unweit der Hauptstadt Asunción, eine riesige Menge Akten und andere Unterlagen, die
offenbar vernichtet werden sollten. Vorausgegangen war am Vortag ein anonymer Hinweis dazu, der an den zuständigen Richter weitergeleitet wurde. Unter enormem medialem Interesse wurden die vier Tonnen Aktenmaterial auf Anweisung von Richter Luis María Benítez in den Justizpalast nach Asunción verbracht, wo es jedem Interessierten zugänglich gemacht werden sollten. Neben Unterlagen über zahllose Opfer des Stroessner-Regimes fanden sich in dem von der Presse bald Archivo del Horror – Archiv des Schreckens – genannten Material stichhaltige Beweise für eine Geheimoperation, die bis dahin nur vermutet werden konnte: Geheimdienste der Diktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Paraguay und Bolivien hatten zur Verfolgung, Verschleppung und Ermordung tatsächlicher oder vermeintlicher Regimegegner Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre ein Netzwerk gegründet, das unter den Namen „Operación Cóndor“ bzw. „Plan Cóndor“ bekannt wurde.

Die „Operación Cóndor“ wird aus der Taufe gehoben

Wie die Ermordung des vormaligen Oberbefehlshabers des chilenischen Heeres Carlos Prats González und seiner Frau Carmen Sofía in Buenos Aires im September 1974 belegt, hatten die (militärischen) Geheimdienste der genannten Länder auch zuvor schon miteinander kooperiert, doch der eigentliche Grundstein für eine planmäßige Zusammenarbeit wurde erst ein reichliches Jahr später gelegt.
Die Initiative dazu ging von Chile aus, das auch als Gastgeber fungierte. Vom 25. November bis 1. Dezember 1975 kamen auf Einladung des chilenischen Juntachefs Augusto Pinochet und des Direktors des Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) Luis Gutiérrez Vertreter von entsprechenden Diensten aus den sechs südamerikanischen Ländern zu einem sogenannten „Arbeitstreffen der nationalen Aufklärung“ (primera reunión de trabajo de inteligencia nacional) in Santiago zusammen. Während in Chile, Uruguay, Paraguay, Brasilien und Bolivien bereits Militärdiktaturen herrschten, handelte es sich bei Argentinien damals noch um ein demokratisch regiertes Land.

Zunächst wurde festgestellt, dass sich die Länder der Hemisphäre dem grenzüberschreitenden Angriff „subversiver Kräfte“ ausgesetzt sähen. Diese verträten eine Ideologie, die konträr zu den Werten der westlichen christlichen Zivilisation, die die Länder des Kontinents präge, stehe – den Marxismus-Leninismus. Da sich dessen koordinierte Attacke gegen alle betreffenden Länder zeitgleich richte, müsse diese Gefahr, die sich in Kuba als einzigem Staat der Hemisphäre bereits durchgesetzt habe und hinter der federführend die UdSSR stünde, gemeinsam bekämpft werden.
In diesem Zusammenhang war auf der Konferenz von einem „psycho-politischen Krieg“ (una guerra psicopolítica) die Rede. Es wurde beschlossen, eine gemeinsame Zentrale für den Austausch entsprechender geheimdienstlicher Informationen zu schaffen. Zur Verschleierung sollte ein eigenes Verschlüsselungssystem entwickelt und moderne Kommunikationstechnik beschafft werden.
Um das Ausmaß der Kooperation zu verschleiern, sollten in Zukunft nur noch bilaterale Zusammenkünfte der beteiligten Staaten stattfinden, was auch so umgesetzt wurde. Entsprechende Treffen fanden in den Folgejahren zwischen Brasilien, Uruguay, Paraguay, Argentinien und Chile statt.
Ein wichtiger Aspekt war die enge Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Regimegegnern des einen Landes auf dem Territorium des jeweils anderen. Auch wenn die beteiligten Länder jeweils ihre Handlungsautonomie wahrten, war es möglich, dass Militärs und Geheimdienste eines „Cóndor-Partners“ im jeweils anderen Land mit dessen Billigung und Unterstützung aktiv wurden. So agierten in Argentinien neben chilenischen auch paraguayische und uruguayische Kräfte, die dorthin geflohene Landsleute entführten, folterten und ermordeten. Besonders berüchtigt wurde in diesem Zusammenhang das „geheime Haftzentrum“ (CCD – Centro clandestino de detención) Automotores Orletti des argentinischen Regimes in Buenos Aires, wo der uruguayische Militärgeheimdienst SID (Servicio de Intelegencia de Defensa) eine „Filiale“ unterhielt, die sich um in Argentinien lebende Staatsbürger Uruguays „kümmerte“, die dem Regime in Montevideo ablehnend gegenüberstanden.

Die ideologische Grundlage und die Rolle der USA

Ideologisches Fundament der „Operación Cóndor“ bildete die sogenannte Doktrin der nationalen Sicherheit (sp.: Doctrina de Seguridad Nacional/ port.: Doctrina da Segurança Nacional – kurz: DSN). Einige ihrer Grundsätze tauchen in oben dargelegten Inhalten der „Gründungskonferenz“ von „Cóndor“ auf.
Laut Simón Lázara, einem argentinischen Politiker und Menschenrechtsaktivisten, wurde diese Doktrin ursprünglich an der brasilianischen Heeresoffiziersschule Escola de Guerra formuliert. In dem entsprechenden Elaborat definierten die dortigen Militärs „nationale Sicherheit“ als Grad der Garantie, die der Staat(sapparat) der Nation durch politische, ökonomische, psychosoziale und militärische Maßnahmen in einem bestimmten Zeitabschnitt zur Durchsetzung und zum Schutz nationaler Zielsetzungen gewährleistet, trotz interner und externer Gegenkräfte. Ergänzend dazu muss festgehalten werden, dass diese Doktrin die Nation dem Staat unterordnet und die erwähnte „westliche und christliche Zivilisation und ihre Werte“ zur Richtschnur erklärt. Die Doktrin selbst nährte sich selbst aus zwei wesentlichen ideologischen Wurzeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition und dem Beginn des Kalten Krieges war zunächst die von den USA begründete „Doktrin der hemisphärischen Sicherheit“ maßgeblich, die wiederum eine Weiterentwicklung der berühmten Monroe-Doktrin darstellt. Erstere beinhaltete den Schutz der westlichen Hemisphäre als Teil des westlichen Lagers vor dem Eindringen der nun feindlichen Sowjetunion und ihrer marxistischen Ideologie. Die lateinamerikanischen Staaten und Militärs sollten sich als ein Garant dieser Abschirmung verstehen und sich der US-Hegemonie unterordnen. Daneben spielte die französische „Doktrin der Aufstandsbekämpfung“ (frz.: Doctrine de la contre-insurrection) eine wichtige Rolle. Sie wurde von der Kolonialarmee Frankreichs in den 1950er und 1960er Jahren zunächst in Indochina und dann sehr intensiv in Algerien angewandt. Sie beinhaltete auch „praktische“ Vorgehensweisen gegen „Subversive“, die im Rahmen der „Operación Cóndor“ breite Anwendung fanden.
Ab den 1950er Jahren wurden entsprechende Inhalte an der vom US-Militär erst in der Panamakanalzone und danach in Georgia geführten sogenannten School of the Americas (heute offiziell: Western Hemisphere Institute for Security Cooperation) gelehrt. In dieser Einrichtung, die in Lateinamerika passenderweise auch „Schule der Diktatoren“ genannt wird, wurden Teile des lateinamerikanischen Offiziersnachwuchses geschult, darunter mehrere Militärdiktatoren und spätere maßgeblich Beteiligte der „Operación Cóndor“. Neben US-Ausbildern kamen dort auch französische Militärs mit Algerienerfahrung zum Einsatz, die vor allem Foltermethoden vermittelten. Auch in den Militärakademien einiger „Cóndor“-Länder, wie Argentinien und Chile, waren Offiziere aus Frankreich mit entsprechenden Inhalten schon in den 1960er Jahren nachweislich im Einsatz.
Nach den Putschen der 1970er Jahre nahmen die US-Regierungen der Präsidenten Richard Nixon (1969-1974) und Gerald Ford (1974-1977) gegenüber den an die Macht gekommenen Regimen meist eine wohlwollende und unterstützende Haltung ein. Henry Kissinger, der damals als US-Sicherheitsberater und Außenminister tätig war, verkörpert dies par excellence. Wie der US-Journalist John Dinges in seiner hervorragenden Untersuchung zu „Cóndor“ herausstellt, wurde Kissinger von Pinochet und dem späteren DINA-Chef Manuel Contreras als „graue Eminenz“ des Netzwerks und eine Art Schutzpate gesehen. Erst mit der Präsidentschaft Jimmy Carters (1977-1981) änderte sich die Haltung der USA, die nun stärker auf Einhaltung der Menschenrechte drang. Allerdings war das nur vorübergehend, da mit der ersten Amtszeit Ronald Reagans (1981-1985) ein erneuter Kurswechsel gegenüber Lateinamerika eintrat.

Opfer und Aktionsmethoden

Zu den augenscheinlichsten Folgen der „Operación Cóndor“ gehörte die koordinierte und systematische Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung bzw. Verschwindenlassen von tatsächlichen und vermeintlichen Regimegegnern. Die Zahl der Opfer wird auf mehrere Zehntausend geschätzt, wobei bei Ermordeten und Verschwundenen Argentinien den Hauptanteil stellt. Doch auch in den anderen beteiligten Ländern gab es in diesem Rahmen massive Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Isolationshaft unter unmenschlichen Bedingungen. Neben dem internen Vorgehen sorgten einige Fälle politischer Morde und Attentate außerhalb Südamerikas für großes Aufsehen. In dieser Form agierte vor allem der chilenische Geheimdienst DINA. So versuchte er mit Hilfe angeworbener italienischer Rechtsextremisten am 6. Oktober 1975 in Rom den früheren Vorsitzenden der christdemokratischen Partei Chiles Bernardo Leighton zu ermorden. Noch aufsehenerregender war allerdings das tödliche Attentat gegen Orlando Letelier, den früheren Außenminister der Allende-Regierung, am 21. September 1976 mitten in Washington.
Trotz der im Rahmen der „Operación Cóndor“ erfolgten massiven Repression und Verfolgung, die teilweise zur Zerstörung politischer Parteien, Gewerkschaften und sozialer Bewegungen führte, gerieten die Militärregime Anfang der 1980er Jahre zunehmend in die Krise.
Während Bolivien zunächst noch eine Phase der Instabilität und des Wechselns zwischen zivilen und militärischen Regimen erlebte, sahen sich die Diktaturen in den anderen Ländern eines nach dem anderen gezwungen, den Übergang zur Demokratie einzuleiten. Unter den Ländern des Cono Sur, machte Argentinien Ende 1983 den Anfang. Obwohl hier die „Operación Cóndor“ seit dem Putsch am 24. März 1976 besonders blutig wütete, führten die schlechte Wirtschaftslage und die Niederlage im Falkland/Malvinas-Krieg 1982 zu einem unerwartet schnellen und wenig gewaltsamen Ende der Diktatur. Der neue, demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín machte die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur zu einem wichtigen Ziel seiner Regierung. Unter ihm erfolgte zunächst eine umfassende Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen durch eine staatliche Kommission, an die sich ab 1985 die ersten Prozesse anschlossen. Allerdings wurde dieser Umgang mit den Folgen der Militärherrschaft in den kommenden Jahren immer wieder ausgebremst. Auf Argentinien folgten 1985 Uruguay und Brasilien, wo die Verbrechen der Diktaturen kaum oder gar nicht juristisch aufgearbeitet wurden. 1989/90 vollzogen schließlich auch Chile und Paraguay den Übergang zu einem demokratischen Regime zurück.

Bestandsaufnahme

Ein wichtiges und beunruhigendes Thema, dass unter anderen der uruguayische Journalist Samuel Blixen in seiner Studie zur „Operación Cóndor“ aufgriff, ist die Frage, ob Strukturen dieses Netzwerks immer noch existent und aktiv sind, um die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen zu behindern oder unmöglich zu machen sowie die heutigen politischen Entwicklungen in den betreffenden Ländern im Sinne des Militärs zu beeinflussen. Blixen machte das zum Zeitpunkt seiner Recherchen, Anfang/Mitte der 1990er Jahre, an dem Fall Eugenio Berríos fest. Der chilenische Biologe Berríos hatte jahrelang für den Geheimdienst DINA gearbeitet, wo er an der Entwicklung chemischer Kampfstoffe für die Ermordung prominenter Regimegegner beteiligt war. Außerdem hatte er offenbar konkretes Wissen zum Attentat auf Orlando Letelier. Als er bezüglich dieser Kenntnisse eine gerichtliche Aussage machen wollte, sah er sich gezwungen, nach Uruguay zu fliehen. Dort wurde er jedoch Ende 1992 von chilenischen Militärs offenbar mit Hilfe uruguayischer Stellen entführt und später ermordet aufgefunden.
Weitere Vorfälle nähren entsprechende Vermutungen. Am bekanntesten ist in Argentinien der Fall des Gewerkschafters Jorge Julio López. Dieser 2006 verschwand spurlos nach seiner Zeugenaussage im Verfahren gegen den vormaligen Chef der Kriminalpolizei der Provinz Buenos Aires, Miguel Etchecolatz, der wegen seiner Verbrechen während der Diktatur angeklagt war. Auch der jüngste Überfall auf ein Mitglied der Organisation HIJOS (Hijos e hijas por la identidad y la justicia contra el olvido y el silencio – Söhne und Töchter für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen), die die von ihren Verwandten wiedergefundenen Kinder Verschwundener der Diktatur ins Leben gerufen haben, gehört zu derartigen Vorfällen. Eine weitere gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktaturen im Allgemeinen und der „Operación Cóndor“ im Besonderen ist angesichts dessen dringend geboten. Die Festigung demokratischer Staatswesen und die Schaffung von Gerechtigkeit für die Diktaturopfer und die gesamten Gesellschaft Südamerikas bleibt eine unverzichtbare Aufgabe.


 

Literatur:

Ageitos, Stella Maris: Historia de la impunidad. De las actas de Videla a los indultos de Menem. Buenos Aires 2002

Bartsch, Hans-Werner et al. (Hrsg.): Chile – Ein Schwarzbuch. Köln 1974

Blixen, Samuel: Operación Cóndor. Del archivo del Terror y el asesinato de Letelier al caso Berríos. Barcelona 1998

Calloni, Stella: Operación Cóndor. Lateinamerika im Griff der Todesschwadronen. Frankfurt a. M. 2010

Chanfreau, Ana et al. (Hrsg.): Memoria y dictadura. Un espacio para la reflexión desde los Derechos
Humanos. Buenos Aires 2004

Constable, Pamela / Valenzuela, Arturo: A Nation of Enemies. Chile under Pinochet. New York 1993.

Dinges, John: Les années Condor. Comment Pinochet et ses alliés ont propagé le terrorisme sur trois
continents. Paris 2008 (2. Aufl.)

Finchelstein, Federico: Orígenes ideológicos de la “guerra sucia”. Fascismo, populismo y dictadura en
la Argentina del siglo XX.
Buenos Aires 2016

Krämer, Raimund / Kuhn, Armin: Militär und Politik in Süd- und Mittelamerika. Herausforderungen für demokratische Politik. Berlin 2006

Mariano, Nilson Cezar: Operación Cóndor. Terrorismo de Estado en el Cono Sur. Buenos Aires 1998.

Seoane, María / Ruiz Núñez, Héctor: La noche de los lápices. Buenos Aires 2011

Verbitsky, Horacio: El vuelo. Barcelona 1995

 

BIldquellen: [1] Quetzal-Redaktion_pg [2-3] Quetzal-Redaktion_soleb

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