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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Lateinamerika im Kalten Krieg: Die Doktrin der Nationalen Sicherheit

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 14 Minuten

Die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ (DNS) diente den Militärdiktaturen, die zwischen 1964 und 1990 die politische Landkarte Lateinamerikas prägten, zunächst als Legitimation, wurde aber schon bald zum Synonym für Staatsterrorismus und Unterordnung unter die geopolitischen Interessen der USA. In diesem Spannungsfeld von nationaler und regionaler „Sicherheit“ bewegt sich auch die breite und teilweise kontroverse Debatte über Ursprung, Inhalt und Funktion der DNS, die besonders in den 1970er und 1980er Jahren in Lateinamerika geführt wurde. In diesem Beitrag soll es darum gehen, die Theorie und Praxis der DNS im Kontext des Kalten Krieges zu erörtern.

 

Der Kalte Krieg und seine Besonderheiten in der „westlichen Hemisphäre“

Für die USA ist die westliche Hemisphäre gleichbedeutend mit eigener Hemisphäre. Dieser Anspruch wurde mit der Monroe-Doktrin (1823) zum Eckpfeiler der US-Außenpolitik und dann mit dem Sieg Washingtons im Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) geopolitische Realität. Wenn US-amerikanische Politiker, Militärs oder Unternehmer von „nationaler Sicherheit“ sprechen, dann hat dies auch immer eine geographische Dimension, die von Alaska bis Feuerland reicht. Im Ergebnis des 2. Weltkrieges stiegen die USA zur Hegemonialmacht der „freien Welt“ auf, die ihre neue Mission im globalen Abwehrkampf gegen die „kommunistische Gefahr“ sah. In diesem „Kalten Krieg“ hatte Lateinamerika zunächst die Funktion eines gesicherten Hinterhofs. Die heißen Kriege, Krisen und Konflikte fanden an den Rändern Eurasiens und später, mit dem Fortgang der Entkolonialisierung, auch in Afrika statt.

In Lateinamerika etablierte Washington ein System der regionalen Sicherheit, das neben dem Interamerikanischen Vertrag über Gegenseitigen Beistand (span. Abk.: TIAR, auch Rio-Pakt, unterzeichnet am 2. September 1947) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS, gegründet am 30. April 1948) zweiseitige Militärabkommen mit fast allen Staaten der Region (außer Argentinien und Mexiko), ein gemeinsames Trainingscamp (School of the Americas – SOA) und die Einrichtung eines lateinamerikanischen Regionalkommandos der US-Streitkräfte (USSOUTHCOM, gegründet 1963) umfasste. Ende der 1950er Jahre arbeiteten in 18 Ländern der Region US-Militärmissionen mit insgesamt 550 Beratern sowie weitere 800 US-Offiziere. Innerhalb Lateinamerikas bewährten sich US-amerikanische Organisationen und Botschaften im „Kampf gegen den Kommunismus“. Beliebte Methoden waren die Unterwanderung und Spaltung von Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen.

Als größte Herausforderung während der 1950er Jahre erwies sich für Washington der „demokratische Frühling“ in Guatemala 1944-1954. Dort hatte es eine national gesinnte Regierung unter Führung von Jacobo Arbenz gewagt, im Rahmen einer Agrarreform (1952-1954) Ländereien des US-Bananenmultis UFCO zugunsten der armen Landbevölkerung zu enteignen. Eine CIA-geführte Söldnerinvasion und ein dadurch ausgelöster Putsch führten am 27. Juni 1954 zum Sturz von Arbenz, der selbst Armeeoffizier war. Begründet wurde die verdeckte Operation mit dem Allzweckargument der Abwehr der „kommunistischen Gefahr“, obgleich der PGT (Partido Guatemalteco de Trabajo), in dem sich die wenigen Kommunisten des Landes organisiert hatten, selbst in der Rolle eines Unterstützers des Präsidenten sah und keineswegs vorhatte, nach der Macht zu greifen. In den meisten Ländern Lateinamerikas waren die Kommunisten schwach bzw. verboten und stellten keine reale Gefahr für die „hemisphärische Sicherheit“ dar. Das „Gespenst des Kommunismus“ diente den USA vielmehr als Propagandainstrument zur Unterdrückung anti-imperialistischer Bewegungen.

Das kubanische Fanal, die „Allianz für den Fortschritt“ und die „nationale Sicherheit“

Mit dem Sieg der kubanischen Revolution am 1. Januar 1959 änderte sich die Situation grundlegend. Die Lage im eigenen Hinterhof rückte in Washingtons geopolitischer Agenda des „Kalten Krieges“ nunmehr weit nach oben. In Washington schrillten bereits die Alarmglocken, als Fidel Castro noch im selben Jahr mit der Agrarreform erst machte. Das Bündnis mit der Sowjetunion (Februar 1960) und die Nationalisierung aller ausländischen Ölraffinerien auf der Insel (Juni 1960) beantwortete US-Präsident Dwight Eisenhower (1953-1961) am 13. Oktober 1960 mit der Verhängung eines Embargos, das in der Folgezeit weiter verschärft wurde und bis heute in Kraft ist. Wie bereits 1954 in Guatemala sollte eine am 17. April 1961 gestartete CIA-Operation Kuba in den Machtbereich Washingtons zurückzwingen, was jedoch kläglich scheiterte. Einen Tag vor der Landung der ca. 1.500 Söldner hatte Fidel Castro den sozialistischen Charakter der Revolution verkündet.

In diesen Ereignissen spiegelt sich die Ironie der Geschichte gleich zweifach wider. Erstens waren es gerade die Lehren aus dem Sturz von Arbenz in Guatemala, den Ernesto Che Guevara selbst miterlebt hatte, die die kubanischen Revolutionäre zum Sieg geführt haben. Zweitens rächte sich die Gleichsetzung einer demokratisch-nationalistischen Reformbewegung mit dem „Gespenst des Kommunismus“, die Washington in Guatemala und auch im Iran 1953 als Begründung seines Interventionskurses gedient hatte, im Falle Kubas auf besonders nachhaltige Weise: Innerhalb kürzester Zeit radikalisierte sich die anti-imperialistische Revolution von 1959 unter dem anti-kommunistisch motivierten Druck Washingtons zu einer sozialistischen Revolution, die sich bis heute unter widrigsten Bedingungen behauptet hat. Die Dynamik von Revolution und Konterrevolution steigerte sich schließlich im Oktober 1962 zur „Raketenkrise“, die die Welt fast in den Abgrund eines Nuklearkrieges zwischen USA und Sowjetunion gestürzt hätte. Nachdem die vielfältigen Versuche, der kubanischen Revolution den Garaus zu machen, gescheitert waren, setzte Washington alles daran, in Lateinamerika ein „zweites Kuba“ zu verhindern.  

Präsident John F. Kennedy (1961-1963) baute bei der Bekämpfung des kubanischen Fanals auf eine dreifache Strategie: Gegenüber Kuba selbst betrieb Washington eine Politik der verschärften Isolierung und trieb den Druck unterhalb der Schwelle einer direkten militärischen Invasion, die nach dem Deal mit Chruschtschow zur Beilegung der „Raketenkrise“ vorerst obsolet geworden war, immer weiter nach oben. Gegenüber den übrigen Ländern Lateinamerikas entwickelte Kennedy eine Doppelstrategie. Neben der Perfektionierung der Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) gegen die anschwellende Guerilla-Welle versuchte er mit einem Programm ökonomischer und sozialer Reformen weiteren Revolutionsversuchen den Nährboden zu entziehen.

Zu diesem Zweck wurde im August 1961 auf der Konferenz des Inter-Amerikanischen Wirtschafts- und Sozialrates in Punta del Este (Uruguay) die „Allianz für den Fortschritt“ (eng.: Alliance for Progress – AfP) aus der Taufe gehoben. Für einen Zeitraum von zehn Jahren wollten die USA (zusammen mit anderen westlichen Industrieländern) im Rahmen der AfP einen Mindestbetrag von 20 Mrd. US-Dollar zur Verfügung stellen. Vom l. Juli 1961 bis zum 28. Februar 1963, also innerhalb von 20 Monaten, sind 1,8 Mrd. US-Dollar nach Lateinamerika geflossen. Davon erhielten Chile rund 300 Mill., Brasilien 289 Mill., Argentinien 165 Mill. und Kolumbien 164 Mill. US-Dollar. Circa 50 Prozent des Gesamtbetrages entfielen also auf nur vier große und bereits relativ entwickelte Länder. Nach der Ermordung Kennedys am 22. November 1963 wurde das Projekt stillschweigend beerdigt.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt trat die gewaltsame Bekämpfung linker bzw. fortschrittlicher Kräfte in den Vordergrund, die mit der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ ein „zeitgemäßes“ Konzept erhielt. Ihre Ursprünge gehen auf den „National Security Act“ von 1947 zurück, mit dem die Neubestimmung der nationalen Sicherheitspolitik der USA nach dem Ende des 2. Weltkriegs vollzogen wurde. Die DNS ruhte auf vier konzeptionellen Säulen: Auf der internationalen Ebene bildete erstens die Bipolarität zwischen Ost („Kommunismus“) und West („freie Welt“) den Rahmen für die Neubestimmung der nationalen Sicherheit. Auf nationaler Ebene kam zweitens dem Staat die Aufgabe zu, die „Einheit der Nation“ auf der Grundlage des Antikommunismus her- und sicherzustellen. Dazu wurde drittens das Konstrukt des „inneren Feindes“ (span.: enemigo interno) kreiert, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Unter dieser Bezeichnung wurden alle, die als Feind der bestehenden Ordnung galten, zusammengefasst – von den Kommunisten über verschiedene Reformkräfte bis hin zu den Bauern, die Land forderten. Im Kampf gegen den „inneren Feind“ war es viertens erforderlich, einen „totalen“, „integralen“ oder „strategischen Krieg“ in der oder gegen die Gesellschaft zu führen.

Vermittlung und Ausdifferenzierung der „Doktrin der nationalen Sicherheit“

Diese vier Grundelemente der DNS wurden je nach Situation und von Land zu Land unterschiedlich gewichtet und kombiniert. Dies beginnt bereits bei der Vermittlung der Doktrin. Die grundsätzliche Rahmensetzung erfolgte in den USA, die als regionale Hegemonial- und globale Supermacht die Richtung vorgaben und die Umsetzung kontrollierten. Da sich die Voraussetzungen (Einfluss der USA, Rolle der Armee, politische Traditionen) und Erfordernisse (Stabilität, geopolitische und ökonomische Bedeutung des jeweiligen Landes) der Anwendung der DNS in den einzelnen Ländern unterschieden, gab es in dieser Hinsicht eine breite Vielfalt der nationalen Varianten. Die Vermittlung der DNS erfolgte über alte (Militärhilfe, Waffenkäufe, Ministertreffen) wie neue Kanäle (School of the Americas, Militärberater, spezielle Trainings- und Schulungsprogramme vor Ort, Zusammenarbeit der Geheim- und Sicherheitsdienste).

Hauptinstitution bzw. -akteur der DNS ist das Militär, das sich selbst als Gralshüters der Nation verstand. Damit konnte die Durchsetzung der Doktrin an die historische Rolle und das politische Selbstverständnis der Armee anknüpfen, wobei einzelne Ausnahmen wie Costa Rica, wo die Armee 1948 verboten worden war, die Regel bestätigen. Spezielle Fälle sind auch jene Länder, die auf eine lange Tradition ziviler Stabilität verweisen konnten, wie dies in Chile und Uruguay bis 1973 der Fall war. In Ländern, in die von personalistischen Diktaturen beherrscht wurden (Stroessner Diktatur in Paraguay 1954-1989, Somoza-Diktatur in Nicaragua 1934 bis 1979) hatte die Armee die Funktion einer Prätorianergarde und besaß damit nicht die nötige Autonomie, um als eigenständiger Akteur an der Einführung und Umsetzung der DNS mitwirken zu können. Dass diese dort dennoch zur Anwendung kam, verweist einerseits auf die Flexibilität der Doktrin, andererseits auf das gemeinsame Interesse, das sowohl die US-amerikanische Hegemonialmacht als auch ihre regionalen Juniorpartner an der Durchsetzung der „nationalen Sicherheit“ hatten.

Das Gegenbeispiel zu Paraguay und Nicaragua in punkto institutioneller Autonomie der Armee stellt Brasilien dar. Wie der Putsch von 1964 und die nachfolgende Entwicklung zeigen, war das größte Land Lateinamerikas der erste Fall, wo die Errichtung und der Ausbau der Militärdiktatur (bis 1985) nach den Regeln der DNS erfolgten. Damit wurde Brasilien in gewisser Weise zum Maßstab für die nachfolgenden Diktaturen. In dieser Hinsicht sind vor allem zwei Aspekte hervorzuheben: Erstens waren sowohl Washington als auch die brasilianischen Eliten vor allem an der Herstellung und Wahrung von Stabilität im Sinne der von ihnen definierten „nationalen Sicherheit“ interessiert. Damit war zweitens eine belastbare Grundlage gegeben, um ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm voranzutreiben, das Brasilien ein „Wirtschaftswunder“ bescherte. Das Militär sah seine Mission nicht zuletzt darin, den Aufstieg zum Schwellenland zu forcieren. Dabei konnte es sowohl an das Reformversprechen der AfP als auch die Entwicklungsstrategie der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), die von den Vorgängerregierungen seit den 1930er Jahren verfolgt worden war, anknüpfen. Die entscheidenden Bruchstellen zum Kurs der Regierung von João Goulart (1961-1964) waren die Agrarreform und die damit einhergehende Mobilisierung der Marginalisierten. Der Putsch von 1964 zielte vor allem auf die Verhinderung des von Goulart initiierten Prozesses. Im Unterschied dazu beruhte die neue Entwicklungsstrategie der brasilianischen Militärs auf einer Kombination von Repression und technokratischer Reform von oben.

Peru versus Chile – zwei gegensätzliche Antworten auf Probleme der „nationalen Sicherheit“

Vier Jahre nach dem Staatsstreich in Brasilien putschten die Generäle in Peru.[i] Im Vergleich zu Brasilien fallen zwei gravierende Unterschiede in Auge: Erstens verhinderte die peruanische Militärregierung die anstehende Agrarreform nicht, sondern initiiert sie vielmehr selbst; zweitens setzte sie nicht auf Repression, sondern auf Inklusion der marginalisierten Massen. Hinzu kommt, dass die Erdölindustrie nationalisiert wurde. Wie sind diese Unterschiede zu erklären und inwiefern lässt sich der Reformkurs unter General Juan Velasco Alvardo (1968-1975) in das Konzept der „nationalen Sicherheit“ einordnen?

Als die peruanischen Militärs am 2. Oktober 1968 die Regierung übernahmen, herrschte im Land Ruhe. Die Massenmobilisierungen und die Forderung nach einer Agrarreform im Interesse der Landbevölkerung, die in Brasilien das Motiv für den Putsch gewesen waren, reichten in Peru bis in die 1950er Jahre zurück und hatten ihren Höhepunkt 1963/1964 erreicht, als mehr als 300.000 Bauern im andinen Hochland haciendas der Großgrundbesitzer besetzt hatten. In dieser Zeit waren auch kleinere Guerillagruppen aktiv, die die Gunst der Stunde nutzen wollten. 1965 machte die Armee all dem ein Ende.

Nicht intendierte Folge dieses Counterinsurgency-Einsatzes, der ganz im Sinne der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ erfolgte, war die Radikalisierung der beteiligten Offiziere. Sie hatten aus eigener, unmittelbarer Erfahrung begriffen, dass die sozialen und politischen Unruhen soziale Wurzeln wie Armut, ungerechte Eigentums- und Verteilungsverhältnisse, Diskriminierung und Unterentwicklung hatten. Sie nutzen die Zeit bis Oktober 1968, um ein detailliertes Reformprogramm auszuarbeiten, das sie dann auch zügig umsetzten.

Kernstück war die Agrarreform vom 24. Juni 1969, die die Obergrenzen für die Landenteignungen auf 150 Hektar Ackerfläche und 1.500 Hektar Weideland festlegte. Insgesamt wurden 11 Millionen Hektar Land, insbesondere in den Anden und an der Küste, enteignet. Damit war die peruanische Agrarreform, die das jahrhundertealte System der Schuldknechtschaft (peonaje) zerstörte, zu Anfang der 1970er Jahre die radikalste nach der kubanischen Agrarreform (Hobsbawm, S. 317). Velasco nannte in einer Rede am Nationalfeiertag 1969 die von seiner Regierung durchgeführte Agrarreform und die Verstaatlichung der Erdölindustrie einen Schritt in „die zweite Unabhängigkeit“ Perus.

Die Pinochet-Diktatur (1973-1990) im Nachbarland Chile stellt in fast jeder Hinsicht das Gegenteil von Alvarados anti-imperialistischem und anti-oligarchischem Militärreformismus dar. Während dieser Transformationsprozess in Hinblick auf die Tiefe der strukturellen Veränderungen durchaus revolutionären Charakter hatte (ebenda, S. 320, 334ff), verstanden sich die chilenischen Putschisten als Speerspitze der Konterrevolution. Ihnen ging es keineswegs um die Entschärfung sozialer Widersprüche oder die Überwindung der Abhängigkeit von den USA. Ihr Programm war blutiger Staatsterror und ihr Ziel war die „Ausrottung des Marxismus“. In wirtschaftspolitischer Hinsicht agierten sie als Türöffner des Neoliberalismus, dem sie Chile als ideales Experimentierfeld anboten. Aus der Sicht Washingtons war die Diktatur Pinochets zweifellos die „reinste“ Verkörperung des „Doktrin der nationalen Sicherheit“.

Faktoren, die bei der Umsetzung der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ zu beachten sind

Wie aber ist die enorme Spannbreite der politischen Intervention der etablierten Militärs in Lateinamerika während des Kalten Krieges zu erklären? Der Schlüssel findet sich in vier Gruppen von Faktoren. Den Ausgangspunkt bildet erstens das Ausmaß der Autonomie der Militärs gegenüber der einheimischen Oligarchie und den USA. Zweitens sind strukturelle Faktoren wie die historischen Traditionen der Armee und die soziale Zusammensetzung ihres Offizierscorps zu nennen. Es macht eben einen Unterschied, ob die Armee die Souveränität des eigenen Landes auch gegen die USA zu verteidigen bereit ist oder als deren lokaler Sachwalter agiert. Engstens damit verbunden ist die soziale Herkunft der Offiziere: Entstammen sie der aristokratischen Oberschicht oder handelt es sich um Aufsteiger aus den unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung? Während Brasilien für ersteres steht, repräsentieren Venezuela, Peru und Panama die andere Variante. Drittens ist das Kräfteverhältnis innerhalb der Armee entscheidend. Nur selten gelingt es progressiven oder linken Militärs, die in der Regel eine Minderheit repräsentieren, sich in gesellschaftlichen oder politischen Entscheidungssituationen durchzusetzen. Der peruanische Militärreformismus gehört zweifellos dazu. Sein Ende zeigt zugleich, dass die konservative Mehrheit der Militärs unter Berufung auf die „Einheit der Institution Armee“ früher oder später Revanche übt. In Chile wiederum war die Ausschaltung der verfassungstreuen Offiziere mit General Prats an der Spitze die Voraussetzung für den Putsch gegen die Regierung Allende.

Der chilenische Fall zeigt am negativen Beispiel Augusto Pinochets, welch entscheidende Rolle viertens der menschliche Faktor spielt. Pinochet war es gelungen, sowohl seinen Chef und Vorgänger Carlos Prats, vom 27. Oktober 1970 bis 23. August 1973 Oberkommandierender der chilenischen Streitkräfte, als auch Präsident Salvador Allende zu täuschen. Beide – Prats und Allende – vertrauten bei der Ernennung von Pinochet zum Nachfolger Prats zu Unrecht auf dessen Loyalität. In positiver Hinsicht lassen sich neben General Prats, der am 30. September 1974 zusammen mit seiner Frau vom chilenischen Geheimdienst in Buenos Aires ermordet wurde, noch weitere progressive oder linke Militärs nennen, die in der Geschichte ihres Landes eine positive Rolle gespielt haben: General Juan José Torres, vom 7. Oktober 1970 bis 31. August 1971 Präsident Boliviens; Oberst Francisco Alberto Caamaño, während der US-Invasion 1965 in der Dominikanischen Republik kurzzeitig Präsident des Karibikstaates; General Omar Torrijos, von 1969 bis 1981Staatschef Panamas.

In einer anderen historischen Konstellation gehört auch Hugo Chávez, von 1999-2013 Präsident Venezuelas, in diese Reihe. Dessen Biographie zeigt, dass das peruanische Beispiel in der Erinnerungskultur Lateinamerikas tiefe Spuren hinterlassen und nachfolgende Generationen junger Offiziere geprägt hat. Umgedreht verweisen die Ermordung von Prats und Torres (ermordet am 2. Juni 1976) sowie die nach wie vor ungeklärten Umstände des Flugzeugabsturzes von Torrijos (31. Juli 1981) darauf, zu welchen Mitteln die Protagonisten der „Doktrin der nationalen Sicherheit“ zu greifen bereits sind, um ihre Interessen durchzusetzen.

 


 

[i] Zu Peru vgl. Leslie Bethell (Hrsg.): Viva la Revolución. Eric Hobsbawm on Latin America. London 2016, S. 317-361

 

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