Die Kritiker von Chávez hatten Recht. Leider. Denn für die Bevölkerung stehen nun ganz schwere Zeiten bevor. Venezuela ist in der Krise – einer abgrundtiefen. Es wird offenbar, dass das geplante Wirtschaftssystem für das 21. Jahrhundert nicht taugt. Dafür zahlt jetzt die Bevölkerung die Rechnung. Die Inflation liegt bei über 700 Prozent. Im letzten Monat verdoppelte die Notenbank die Geldmenge, indem sie immer neue Scheine druckte. Und die Sympathisanten von Chávez, die die linksorientierten Kritiker einst so hart für die Analysen zur Wirtschaftspolitik angeprangert haben, sind kleinlaut geworden. Ja, das Experiment von Hugo Chávez ist gescheitert. Das wird nun mehr als deutlich. Selbst für Basisprodukte stehen die Menschen Schlange; die Regale in den Supermärkten sind leergefegt. Es besteht ein Versorgungsnotstand. Die Wut des leeren Korbes treibt die Menschen auf die Straße. Überall nehmen die Proteste zu. Noch dazu hat sich die Arbeitslosenquote verdoppelt. Inzwischen dürfte sie bei über 17 Prozent liegen. Wie ein Damoklesschwert hängt der Zusammenbruch über dem Land. Und seit dem 13. Mai 2016 gilt in ganz Venezuela der Ausnahmezustand.
Wie konnte es nur so weit kommen? Lag es, so wie die offiziellen Regierungsstatements noch heute suggerieren, an der Wirtschaftsblockade der USA? Ist es der zweite Erzfeind der Regierung, der Erdölpreis (Mister Oil), der so tief sank, dass Venezuela seine Sozialprogramme und seine Sozialpolitik nicht mehr finanzieren kann? Oder trägt das Klimaphänomen „El Niño“ die Schuld, wie die Regierung behauptet, in dessen Folge der Wasserpegel des Guri-Stausees so weit absank, dass das angeschlossene Wasserkraftwerk weder Strom für die Wirtschaft noch für 70 Prozent der Venezolaner produzieren kann?
Sicherlich mögen all diese von der Regierung angeführten Gründe zum Scheitern der Bolivarischen Revolution beigetragen haben. Sicherlich haben sie Anteil daran, dass das Versprechen auf ein besseres Leben für alle in einer Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes endete. Armut und Not, die Hugo Chávez vor 17 Jahren beenden wollte, sind wieder da – sichtbar, fühlbar, greifbar.
Doch die Regierungserklärungen greifen zu kurz, zumal einige angeführte Gründe wie die Energiekrise schon lange bestehen. Warum, also, kam es zu dieser Krise? Weshalb müssen Polizei und Nationalgarde fast täglich ausrücken, um mit Tränengas und Gummiknüppeln Protestkundgebungen zu zerstreuen? Weshalb scheiterte Sozialismus des 21. Jahrhunderts?
Auf die folgenden Gründe wurde bereits an anderer Stelle eingegangen:
- Die problematische Vermischung von Plan- und Marktwirtschaft,
- der duale Wechselkurs,
- der Ressourcenfluch,
- die unzureichende Diversifizierung der Wirtschaft,
- die Spekulation,
- die ausufernde Gewalt und
- der geopolitische Sonderstatus.
Ein wichtiger Aspekt wurde jedoch in den Analysen häufig übersehen: die Landwirtschaft.
Keine umfassende Agrarreform
Ein Blick auf die landwirtschaftlichen Statistiken bringt einen Fakt zu Tage, der bei der jetzigen Krise eine mindestens ebenso große Bedeutung hat wie der Ölpreisverfall: die Nutzung des Bodens für die Landwirtschaft. Mit einem Anteil von lediglich 3,1 Prozent Ackerfläche an der Gesamtfläche und 0,8 Prozent dauerhaft genutzter Ackerfläche gehört Venezuela zu den Schlusslichtern weltweit. Neben Wald bestimmen nach wie vor natürliches Dauergrünland und Weiden das Bild der landwirtschaftlichen Nutzfläche – ein Spitzenwert im internationalen Vergleich, aber schlecht für die Eigenversorgung. Es ist also kein Wunder, dass das Land seinen Unterhalt mit Nahrungsmitteln nicht selbst sicherstellen kann und die Regale in den Supermärkten leer sind.
Importe von Nahrungsmitteln stellen stolze 18,4 Prozent der Gesamtimporte dar. Circa 70 Prozent aller Nahrungsmittel werden nach wie vor importiert. Insgesamt wendet Venezuela damit jährlich knapp 11 Milliarden US-Dollar allein dafür auf, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Im Übrigen betrug der Wert bei der Machtübernahme von Hugo Chávez im Jahr 1998 nur 12,2 Prozent der Importe.
Es liegt auf der Hand, dass der geringe Selbstversorgungsgrad und die geringe Nutzung von Ackerland zusammenhängen. Auch ist bezeichnend, dass die Wertschöpfung der Landwirtschaft inzwischen (letztes verfügbares Jahr 2013) rückläufig ist. Denn trotz mehrfacher Ankündigungen für eine umfassende Agrarreform, trotz der Bekenntnisse von Chávez, das Land gehöre denen, die es bearbeiten, ist relativ wenig bei der Umverteilung der Landwirtschaftsflächen geschehen. Zugegeben, der Widerstand des Viehzüchterverbandes Fedenaga und des Agroindustrieverbandes Fedeagro war von Anfang an sehr stark. Doch fällt auf, dass es ausgerechnet auf diesem zentralen Gebiet beim Übergang zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts kaum Fortschritte gegeben hat. Es blieb bei der Rhetorik. Immer und immer wieder drohte Chávez, unproduktive Ländereien zu enteignen. Geschehen ist kaum etwas. Denn die Enteignungen sollten gegen Entschädigungen erfolgen, mithin also eine „kapitalistische“ Enteignung im Gegensatz zur „radikalen“ Agrarreform ohne Entschädigung etwa in Kuba 1959. Und hier liegt die Krux, weil die finanziellen Mittel für solch eine Umgestaltung der Landwirtschaft Venezuelas fehlten oder anderweitig verwendet wurden. Beispielsweise flossen in den Jahren der Bonanza mit hohen Ölpreisen und Öleinnahmen die Mittel in die Entschädigung enteigneter Industriefirmen, wie z. B. die Zementfirma Holcim, und nicht in die Landwirtschaft.
Während mit dem radikalen Agrarreformgesetz in Kuba praktisch über Nacht 10.000 Großgrundbesitzer enteignet wurden – im Übrigen ohne komplizierte Regelungen und bürokratische Schlupflöcher – und 2,9 Millionen Hektar Land an Pächter und Genossenschaften gingen, sucht man vergleichbare Zahlen für Venezuela vergebens. Der Agrarreformprozess blieb Stückwerk. 2009 beispielsweise verstaatlichte die Regierung eine Eukalyptusplantage des irischen Papierkonzerns Smurfit Kappa mit 1.500 Hektar und das Landgut von Orlando Alvarado mit 2.200 Hektar. Auch 2008 waren medienwirksam 32 Farmen mit insgesamt 6.075 Hektar im Bundesstaat Lara enteignet worden. Angesichts dieses schleppenden Prozesses klingen die offiziellen Angaben zur Enteignung von rund fünf Millionen Hektar Agrarfläche über den gesamten Zeitraum seit 1998 reichlich übertrieben. Dies wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass bis 2012 der venezolanische Staat infolge von Enteignungen lediglich 141 Produktionseinheiten mit 800.000 Hektar Land geschaffen hatte. Das entspricht nur 3,7 Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche. Die Großgrundbesitzer dominieren also weiterhin die Landwirtschaft und fahren mit ihrer extensiven Viehhaltung fort. Inwiefern sich die Agrarstruktur unter Chávez und seinem Nachfolger Maduro geändert hat, ist infolge mangelhafter Daten schwer nachzuvollziehen. 1998 besaßen 0,4 Prozent der Landeigentümer ungefähr ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Land. Wie die Situation heute aussieht, lässt sich schwer einschätzen.
Fest steht, Venezuela scheute den Weg der radikalen Agrarreform wie in Kuba. Mit Blick auf die zu erwartenden internationalen Konsequenzen – z.B. die komplette Wirtschaftsblockade, die Sperrung des Zugangs zu internationalen Krediten, Ölexportembargo – ist diese Entscheidung sogar nachvollziehbar. Doch die jetzige Krise zeigt auch, dass hier ein zentraler Schlüssel für die Umgestaltung der Wirtschaft liegt. Die Priorisierung der Regierung hätte zunächst auf der schnellen Umgestaltung der Landwirtschaft liegen sollen. Die Enteignung der alten Eliten und die Sicherstellung der Lebensmittelselbstversorgung wurden versäumt.
Neben der schleppenden Enteignung kommt hinzu, dass die in Genossenschaften oder Misiones zusammengeschlossenen Kleinbauern und die Betriebe Sozialer Produktion (Empresa de Producción Social, EPS) – allen Zielen der Produktionssteigerung zum Trotz – es bisher nicht schafften, die Produktivität und Produktion zu erhöhen. Die Betriebe hängen immer noch von staatlicher Förderung ab. Außerdem fehlen Abnahmegarantien staatlicher Märkte für die Produkte der Kleinbauern – oft in Verbindung mit fehlenden Transportkapazitäten. Erschwert wird diese Situation noch durch Bürokratie und Korruption.
Vielleicht schafft es Venezuela ausgerechnet in der jetzigen Wirtschaftskrise, mit dem Agrarplan „Zamora Bicentenario 2013-2019“ die Nahrungsproduktion zu steigern. Immerhin sollen 5.000 Bauern eng mit speziellen Einheiten der Streitkräfte (AgroFanb) zusammenarbeiten und die Produktion von Nahrungsmitteln um über eine Million Tonnen steigern. Außerdem wird dem urban gardening, also der städtischen Nahrungsmittelproduktion, große Beachtung geschenkt. Auf über 1.000 Hektar sollen in urbanen Gebieten Lebensmittel produziert werden, so dass künftig 20 Prozent der Bevölkerung in den acht größten Städten ihren Bedarf an Gemüse aus lokaler Produktion decken könnten. Erhofft wird eine Produktion von 30.000 Tonnen – ein sehr vorsichtig angesetzter Wert.
All diese Maßnahmen kommen reichlich spät. Das Land ist am Boden. Fragt sich nur, wie lange die Regierung so weiter machen kann.
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Bildquellen: [1] Redaktion-Quetzal, ks, [2] Quetzal-Redaktion, js