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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Hugo Chávez – Sozialist des 21. Jahrhunderts? (Teil 1) Herkunft und Aufstieg des Hugo Chávez – Vom utopischen Bolivarianer zum Gründungsvater der V. Republik

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

„Wer für den Schwachen kämpft, hat den Starken zum Feind.“
(Gottlieb Duttweiler, Gründer der Handelskette Migros in der Schweiz)

Venezuela: Hugo Chávez - Foto: Presidencia de la República del EcuadorAm 5. März 2013 ist Hugo Rafael Chávez Frías im Alter von 58 Jahren seinem Krebsleiden erlegen. Die Reaktionen auf seinen Tod reichen von tiefer Trauer und Erschütterung bis zur kühlen Kondolenz. Einig sind sich alle darin, dass der Tod des venezolanischen Präsidenten eine Zäsur nicht nur für sein Heimatland, sondern auch für Lateinamerika darstellt. Allein 32 Staats- und Regierungschefs haben an den Trauerfeierlichkeiten teilgenommen. Etliche Länder, darunter auch Staaten außerhalb der Region, haben eine mehrtägige Staatstrauer angeordnet. Während seine Gegner an das Ableben von Hugo Chávez die Hoffnung auf ein „roll back“ der Linksentwicklung auf dem Kontinent knüpfen, fordern seine Anhänger die Fortsetzung und Vertiefung der von ihm initiierten „Bolivarischen Revolution“. Aber selbst die Opposition kommt nicht daran vorbei, ihn als eine große Persönlichkeit zu würdigen. Schon jetzt deutet vieles darauf hin, dass der comandante eterno wie sein historisches Vorbild Simón Bolívar zum Mythos wird. Niemand, der künftig in Venezuela Politik machen will, wird an Chávez und seinem Erbe vorbeikommen. Die politischen Auseinandersetzungen werden sich vor allem um die Interpretation seines Wirkens und die Fortsetzung seines Werkes drehen. Insofern wird die Polarisierung, die Stil und Politik des comandante geprägt haben, in veränderter Weise auch nach seinem Tod ihre Fortsetzung finden.

Drei Fragen

Angesichts der anstehenden Debatte um die historische Einordnung und das politische Vermächtnis des Chavismo soll hier eine erste Standortbestimmung versucht werden, die sich an drei Fragen orientiert:

  • Erstens: Was macht die Persönlichkeit von Hugo Chávez aus und wie kann sein rasanter politischer Aufstieg erklärt werden?
  • Zweitens: Worin bestehen seine Leistungen? Was ist daran neuartig und welche Kritiken haben sie provoziert?
  • Drittens: Warum polarisiert Hugo Chávez derart und worin besteht sein Vermächtnis?

Will man diese drei Fragen auch nur ansatzweise beantworten, müssen Leistung und Anspruch von Hugo Chávez in Hinblick auf ihre nationale, ihre lateinamerikanische und ihre internationale Dimension ausgeleuchtet werden. Hindernisse und Gegenkräfte müssen darin ebenso einbezogen werden wie Bündnispartner und unterstützende Faktoren. Nur so lassen sich die realen Spielräume und Handlungsmöglichkeiten bestimmen. Dies schließt ein, dass Wirken und Wirkung von Hugo Chávez wenigstens punktuell mit der Entwicklung in anderen Ländern und mit der im vorchavistischen Venezuela zu vergleichen sind. An dieser Stelle muss der Verweis auf ein solches Herangehen genügen. Im Weiteren dienen die drei oben formulierten Fragen vor allem als Richtschnur für eine erste Annäherung, der tiefer greifende Analysen folgen sollen. Als Messlatte und Fokus dient Chavez‘ Anspruch, mit seiner bolivarischen Revolution einem neuen Sozialismus den Weg bereiten zu wollen. Ist Hugo Chávez ein Sozialist des 21. Jahrhunderts?

Hugo Rafael Chávez Frías wurde am 28. Juli 1954 im Dorf Sabaneta im Bundestaat Barinas geboren. Sein Vater Hugo de los Reyes Chávez, der nur „El Maestro“ genannt wird, arbeitete dort als Dorflehrer. Hugo jr., das zweite von sechs Kindern, wuchs nach der Geburt des dritten bei seiner Großmutter Rosa Inés auf. Von 1971 bis 1975 besuchte er die Militärakademie, die er als Leutnant beendete. In seiner weiteren militärischen Karriere politisierte er sich immer mehr, wobei ihm Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora als wichtigste historisch-ideologische Bezugspunkte dienten. Zusammen mit gleichgesinnten jungen Offizieren gründete Hugo Chávez am 17. Dezember 1982 die geheime Widerstandszelle Ejército Bolivariano Revolucionario 200 (EBR 200), die als „Urzelle“ der bolivarischen Bewegung gilt. In den nächsten zehn Jahren suchte Chávez den Kontakt mit linken Politikern und Aktivisten. Mit Selbststudien und Lehrgängen (z.B. in Politikwissenschaft) erweiterte er sein Wissen. Kommunist war er nie. Was ihn umtrieb, war die Kluft zwischen Arm und Reich in einem Land, das auf Erdöl förmlich schwamm und sich mit dem Gestus einer Zivilreligion auf den Libertador (Befreier) Simón Bolívar berief, während die korrupte Elite sich schon längst von jenem verabschiedet hatte.

Die IV. Republik in der Krise

Venezuela: Caracas - Foto: Quetzal-Redaktion, ksDie Krise der alten (IV.) Republik wurde 1989, als die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Osteuropa und China gerichtet war, offenbar: Zwischen dem 27. und 29. Februar rebellierten die Bewohner der Armensiedlungen der Hauptstadt Caracas gegen den drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten. Die Regierung setzte bei der Niederschlagung der Revolte die Armee ein. Dabei kamen zwischen 1.000 (nach Regierungsangaben) und 3.000 Menschen (nach vorsichtigen Schätzungen) ums Leben. Dieser Caracazo markierte den Anfang vom Ende der IV. Republik. Für Hugo Chávez und seine Mitverschworenen war das blutige Massaker der letzte Anstoß, sich gegen die Regierung zu erheben. Zwar scheiterte die Militärerhebung vom 4. April 1992, war aber dennoch ein politischer Erfolg, der Hugo Chávez mit einem Schlag landesweit berühmt machte. Im Fernsehen übernahm er die Verantwortung für den Putsch und rief seine Kameraden angesichts der ausweglosen Situation zur Niederlegung der Waffen auf. Mit den Worten“Por ahora“ (dt.: Fürs erste) machte er deutlich, dass er und seine Mitstreiter an ihren politischen Zielen festhalten wollten. Mit einem Programm, das auf die Rückgewinnung der nationalen Souveränität, die Zurückdrängung der Armut und die Neugründung Venezuelas orientierte, gewann er die Wahlen vom 6. Dezember 1998 überlegen mit 56,5 Prozent. Die ersten Schritte nach der Übernahme des Präsidentenamtes waren Referenden über die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung und die Annahme der neuen Verfassung. Die IV. Republik gehörte damit der Vergangenheit an und die V. erblickte unter der Bezeichnung „Bolivarische Republik Venezuela“ das Licht der Welt.

Der Aufstieg von Hugo Chávez als sozio-kultureller Tabubruch

Die Errichtung der V. Republik war in mehrfacher Hinsicht ein Bruch mit der Vergangenheit und zugleich ein Tabubruch, der Hugo Chávez von seinen Gegnern persönlich angelastet wurde und zur Quelle der Polarisierung unter seiner Präsidentschaft wurde. Er war der erste venezolanische Präsident des 20. Jahrhunderts, der aus dem Llano kam. Zusammen mit seiner sozialen Herkunft und ethnischen Identität stellte dies in den Augen der „weißen“ Elite eine dreifache Zumutung dar. Der venezolanische Llano (Tiefland) zu beiden Seiten des Orinoco galt als tiefstes, zurückgebliebenes Hinterland und die Llaneros waren für ihre „Cowboy-Kultur“ bekannt. Ihre Lebensweise war durch die harten natürlichen Bedingungen ihrer Umwelt geprägt und sie hatten den Ruf, rebellisch, freiheitsliebend und rauhbeinig zu sein. Geprägt von dieser Volkskultur wirkte das Auftreten von Hugo Chávez auf diplomatischem Parkett und anderswo oftmals provokativ oder befremdend. Spanische Journalisten, die sich vom Llanero Chávez auf den Schlips getreten fühlten, erklärten ihn deshalb einfach für loco (dt.: verrückt). Dieses „Missverständnis“ verweist zugleich auf die tiefe kulturelle Kluft zwischen der venezolanischen Volkskultur und der europäisch orientierten Elite. Hinzu kam, dass man Chávez seine ethnischen Wurzeln ansah. Als pardo stand er in der rassistisch definierten Hierarchie, die ihre Wurzeln in der spanischen Kolonialzeit hat und die die ethnischen Vielfalt der Venezolaner in einen herrschaftskonformen Rahmen presst, weit unter der „weißen“ Elite von Caracas, aus deren Reihen die Präsidenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert stammten. Ein Llanero, der „verrückt“ genug war, den tot geglaubten Geist Bolívars zu neuem Leben erwecken zu wollen, und zudem nicht ins rassistisch geprägte Weltbild passte, war das letzte, was die Elite der IV. Republik in der Staatskrise gebrauchen konnte.

Die antidemokratischen Defizite einer „Musterdemokratie“

Venezuela: Hugo Chávez - Foto: Presidencia de la República del EcuadorDie Präsidentschaft von Hugo Chávez symbolisiert nicht nur einen sozio-kulturellen Tabubruch mit der Elite der IV. Republik, sondern stellte auch erstmals deren Machtanspruch ernsthaft infrage. Zugleich kann man den rasanten Aufstieg von Hugo Chávez und seine Rolle als Totengräber des ancien regime nur in Zusammenhang mit dessen Systemkrise erklären. Vor dem Caracazo galt Venezuela mit seiner stabilen Demokratie (seit 1958) als krasse Ausnahme im zumeist diktatorisch regierten Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre. Aber diese vermeintliche Musterdemokratie hatte auch eine antidemokratische Kehrseite: Der Elitepakt von Punto Fijo, auf den sich die wichtigsten Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbände am 31. Oktober 1958 geeinigt hatten, sicherte einerseits die künftige Zweiparteienherrschaft von AD und COPEI. Andererseits wurden die damals starken Kommunisten in die Illegalität verbannt und erst wieder für das politische Spiel zugelassen, als sie keine Gefahr mehr darstellten. Die Armee durfte sich der Guerillabekämpfung widmen. Für die Söhne der venezolanischen Elite war eine Militärkarriere wenig attraktiv, so dass viele Offiziere aus den Unter- und Mittelschichten kamen. Darunter waren nicht wenige, die wie Hugo Chávez an den Idealen Simón Bolívars festhielten. In dieser Hinsicht stellt die venezolanische Armee im lateinamerikanischen Vergleich tatsächlich eine gewisse Ausnahme dar.

Von der Systemkrise zur Neugründung

Der „demokratische Exzeptionalismus“ Venezuelas basierte auf den reichlich sprudelnden Erdöleinnahmen, die es ermöglichten, alle Sektoren der venezolanischen Gesellschaft zufriedenzustellen: die Oberschicht konnte sich bereichern, die Mittelschichten wuchsen und für die Unterschichten blieb immer noch genug, um sie ruhig zu halten. Mit den sinkenden Ölpreisen, der wachsenden Staatsverschuldung und dem zunehmenden Druck seitens der Internationalen Finanzorganisationen (IWF und Weltbank), die darauf drängten, dass Venezuela endlich mit der neoliberalen Strukturanpassung ernst machen sollte, war dieses Herrschaftsmodell am Ende. Die 1990er Jahre waren durch den Zerfall des Zweiparteiensystems, politische Skandale, Militärrevolten und zunehmende soziale Polarisierung geprägt. Die herrschende Elite hatte jegliche Glaubwürdigkeit verloren und die Gesellschaft driftete immer weiter auseinander, ohne dass seitens des Staates gegengesteuert wurde. Aus dem Eliteversagen wurde so ein Staatsversagen. Dieses Vakuum konnte Hugo Chávez deshalb füllen, weil er dreifach glaubwürdig war: Er hatte nichts mit der alten Elite zu tun, er hatte 1992 persönlichen Mut und Charisma bewiesen und er präsentierte außerdem eine ernsthafte Agenda zur Neugründung Venezuelas. Diese Aufgabe hatte allerdings „biblische Ausmaße“. Zwar ist sein Aufstieg nicht zuletzt ein Produkt der Krise der IV. Republik, zugleich aber lastete deren strukturelles Erbe schwer auf dem bolivarischen Transformationsprojekt, das durch Hugo Chávez verkörpert wurde. Hatte er die Wahlen 1998 noch als utopischer Bolivarianer gewinnen können, so erforderte die Überwindung der historischen Altlasten und die zukunftsfähige Neugründung Venezuelas die Statur eines Reform-Revolutionärs: Die Dimension der zu bewältigenden Aufgaben war revolutionär, ohne dass die Bedingungen schon eine Revolution zuließen. Als Ausweg blieb nur eine Transformationsstrategie, die den Reformprozess in der Hoffnung vorantrieb, dass aus dessen Dynamik heraus der revolutionäre „point of no return“ erreicht werden konnte.

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Bildquellen: [1], [3] Presidencia de la República del Ecuador, [2] Quetzal-Redaktion, ks

Teil 2 des Artikels finden Sie hier.

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