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Die umgeleiteten Wassermengen des São Francisco – Nichts für Kleinbauern?

Gilberto Calcagnotto | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten
Brasilien - Nichts für Kleinbauern? (288 Downloads )

Die Regierung Lula ist – schon von der politischen Ausrichtung und der Biografie des Präsidenten als ehemaligem Gewerkschaftsführer – zu mehreren Spagaten gezwungen, z. B. zwischen Wachstumspolitik und Einkommensverteilung, zwischen Währungsstabilisierung und Entwicklungsförderung, zwischen Amazonienerschließung und Bewahrung der Umwelt. Nun kommt mit dem Projekt zur Teilumleitung des São Francisco ein weiterer zweifacher Spagat hinzu: Einmal zwischen Bewässerungslandwirtschaft für Exportkulturen und trockenheitsresistenter Familienlandwirtschaft für Nahrungsmittelanbau und zum anderen zwischen Revitalisierung des São Francisco und der weiteren Umweltzerstörung durch Wasserentnahme im Großmaßstab. Wird er auch diesen Spagat bewältigen, etwa mithilfe einer ausgeklügelten Sozialtechnologie zur „Integration des São Francisco in die Wassereinzugsgebiete temporär austrocknender Flüsse des Nordostens“, wie es heißt? Der offizielle Diskurs bejaht die Frage wie im Triumph. Die erwartete Praxis aber spricht dafür, dass Lula diese Spagate, im Unterschied zu manch anderen dieser Art, nicht schafft.

Ableitung des Sao Francisco (Bild: Agencia Brasil, Infográfico)Tatsächlich ist Lulas Intuition (und auch die des Kaisers im 19. Jahrhundert, der als erster über eine Flussumleitung sinnierte) frappierend einfach und bestechend sympathisch: Wasser von dort, wo es im Überfluss vorhanden ist, dahin zu bringen, wo Wassermangel herrscht. Und auch die angepeilte Lösung grenzt an ein „sozialtechnologisches Wunder“: Das Zauberwort heißt „Wassersynergie“ (s. Bericht zur Umweltauswirkung ‚RIMA’ 2004: 49, in: integração.gov.br). Im Diskurs folgt die Regierung Lula über weite Strecken der Argumentation vieler Gegner des Projekts, die vor allem darauf hinweisen, dass nicht die Verfügbarkeit von Wasser das Problem sei, sondern der Zugang zu Wasser. Zugespitzt gesagt: Nicht Dürre („seca“), sondern Zäune („cercas“) zum ausschließenden Wasser-Privateigentum seien das Problem. Ein Problem also der Verteilung und der Verteilungskonflikte. Denn der Nordosten verfügt inzwischen über mehr als 70.000 Wasserstauseen, die alle als Maßnahmen „gegen die Trockenheit“ errichtet wurden und bereits ein Mehrfaches der tatsächlichen Nachfrage an Wasser verfügbar halten. Doch sie sind konzipiert für die Versorgung von Großstädten in Zeiten der Trockenheit, d.h. akuter Wasserknappheit. Deshalb werden die Stauseen in Normalzeiten nicht angezapft – mit der Folge, dass die verstreut lebende Landbevölkerung immer wieder unter Wassernot leidet, weil die großen Stauseen nicht über ein dezentrales Wasserzuleitungssystem verfügen. Und weil außerdem 75% des in den „Rückhalteseen“ angestauten Wassers verdunsten oder versickern. Und hier das „sozialtechnologische Wunder“: Gelingt es, die größten Stauseen regelmäßig anzuzapfen, so ist es möglich, ihre riesige Wasseroberfläche zu reduzieren, die Verdunstung einzuschränken und die Wasserverfügbarkeit durch Verewigung temporär austrocknender Flüsse zu dezentralisieren.

Weil fließendes Wasser nicht so schnell verdunstet wie stehendes, so dienen auch die über 600 km langen Betonkanäle des Ableitungsprojekts einer Minimierung der Wasserverdunstung. Damit würde die angestrebte durchschnittliche Wasserentnahme von 63,5 m³ pro Sekunde aus dem São Francisco um zusätzliche 22,5 m³ pro Sekunde aus der vermiedenen Verdunstung „angereichert“(vgl. RIMA 2004: 49, ebd.), was für dieVersorgung eines Großteils des semi-ariden Gebiets ausreichen würde.

Kartoffel (Bild: Agencia Brasil, Elza Fiuza)Klingt genial. Doch hier gibt es einen Pferdefuß: Werden die dezentralisierten Kanäle ausreichen, um den Wasserzugang zu sichern? Wie sieht es mit der Kaufkraft der Menschen aus? Denn der Zugang wird nicht kostenlos sein. Wie hoch sind denn die Betriebskosten, die auf die Nutzer abgewälzt werden müssten? Nach einer Berechnung aus demJahr 2005 (s. Toggler 2005: 89) können diese Betriebskosten bis zu mehr als 100% der Hektareinnahmen bestimmter Kulturen ausmachen! Und dies ist ausgerechnet bei einer Nahrungskultur der Fall, die sich bei kleinbäuerlichen Betrieben, der sogenannten Familienlandwirtschaft, einer besonderen Beliebtheit erfreut: dem Maisanbau. Der zitierte Agrarökonom Toggler berechnete in einem Beitrag in der Zeitschrift „Democracia Viva“ vom angesehenen IBASE (Forschungs- und Beratungsinstitut für die Sozialbewegung), wie viel Prozent der Bruttoeinnahmen aus dem Mais-Hektarertrag für die Bezahlung der variablen und der Fixkosten, die die Ableitung des São Francisco verursachen wird, verwendet werden müssten.

Dabei berücksichtigte er mit einem Hektarertrag von 9.000 kg (150 Sack à 60 kg) nur eine hoch ertragreiche Sorte. Sein Ergebnis: Im günstigsten Fall müsste ein Betrag von mindestens 440 US-$ für die Fixkosten (Management, Abschreibung und Zinsen) und von 95 US-$ für die variablen Kosten (im Wesentlichen die Kosten für das Hochpumpen des São-Francisco-Wasser aus einer Höhe von 315 Metern auf über 695 Meter über dem Meeresspiegel) aufgewendet werden. Dabei sind jedoch die Wasserverluste während des Transports noch nicht berücksichtigt. Experten erwarten aufgrund von Verdunstung und Versickerung einen Verlust von mindestens 50% des abgeleiteten Wassers. Damit erhöhen sich die Betriebskosten auf insgesamt mindestens 1.070 US-$. Dem stehen bei einem hochertragreichen, mit São-Francisco-Wasser bewässerten Maisanbau Hektareinnahmen von US-$ 1.278,00 gegenüber (vorausgesetzt, der Preis pro 60 kg-Sack bleibt bei US-$ 8,52, wie im Jahr 2004). Es verbleiben lediglich 208 US-$für die Deckung der sonstigen Kosten mit Saatgut, Dünger, Bodenbearbeitung, Personalkosten usw.

Rio Sao Francisco (Bild: Agencia Brasil - Fabio Pozzebom)Fazit: Das São-Francisco-Wasser ist nichts für Kleinbauern. Es sei denn, der Staat subventioniert die kleinbäuerliche Produktion. Doch Agrarsubventionen sind Tabu für Brasilien, das ja den Regeln der Welthandelsorganisation unterworfen ist und es der Europäischen Union nicht gleichtun will. Zwar hat die Regierung Lula vom vorhergehenden Präsidenten Cardoso ein Programm zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft geerbt und erheblich ausgeweitet sowie effizienter gestaltet. Die Frage wird jedoch bleiben, wie nachhaltig das hier angesprochene PRONAF die Rentabilitätslöcher der Maisbauern vom São Francisco wird stopfen können. Selbst ein bestens gelungener Spagat ist aller Erfahrung nach nicht lange auszuhalten.

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Dieser Beitrag erschien bereits im April 2009 im Brasilicum Sonderheft zum São Francisco, herausgegeben von der Kooperation Brasilien (KoBra). Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von KoBra.

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Bildquellen:

01. Die Ableitung des Rio São Francisco. Agencia Brasil.
02. Kartoffel. Agencia Brasil, Elza Fiuza.
03. Rio São Francisco. Agencia Brasil, Fábio Pozzebom.

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