Das Gesicht der Kinderarbeit in Lateinamerika verändert sich. Auch, wenn es den allermeisten Erwachsenen noch nicht aufgefallen ist, die Betroffenen bemerken es tagtäglich: „Wenn du heute auf den Straßen und Plätzen von Santiago unterwegs bist“, sagt Shantal (17), die sich in der chilenischen Initiative „Colectivo sin Fronteras“ engagiert, „siehst du, dass mindestens acht von zehn Kindern, die darauf angewiesen sind, irgendetwas zu verkaufen oder Dienstleistungen anzubieten, aus einem anderen Land kommen!“ Angesichts von 23 Millionen Menschen auf dem Subkontinent, die sich 2024, so die Zahlen der UN-Organisation für Migration (IOM), gezwungen sahen, vor politischer Repression, dem Terror krimineller Banden und sich zuspitzenden Armutskrisen aus ihrer Heimat zu fliehen, nimmt augenfällig die Arbeit von Kindern auch in den lateinamerikanischen Ländern, in denen sie lange eher unsichtbar war, wieder massiv zu – mit einschneidenden Folgen.
Bei ihrem fünftägigen Treffen in El Quisco, einem kleinen Ort an der chilenischen Pazifikküste südlich von Valparaíso, ging es den 27 Teilnehmenden aus der Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher aus Lateinamerika und der Karibik, abgekürzt MOLACNNATS, die aus Peru, Argentinien, Paraguay und Chile angereist waren, deshalb auch darum, über die sich massiv verändernden Rahmenbedingungen um sie herum zu diskutieren – und darüber, was das für sie als Betroffene bedeutet. Für die MOLACNNATS-Organisationen aus dem Cono Sur, dem Süden des Subkontinents, war es bereits das zweite regionale Zusammenkommen nach dem großen internationalen Treffen in Lima vom Juni 2023 am Sitz dieser vor 27 Jahren gegründeten Bewegung für die Rechte arbeitender Kinder. Auch diesmal hatten Spenderinnen und Spender von Kindernothilfe Österreich mitgeholfen, diesen Austausch zu ermöglichen.
Shantal aus dem Stadtteil Independencia im Norden von Santiago de Chile berichtete von der Protestaktion von Kindern aus Migranten-Familien zusammen mit ihren einheimischen Klassenkameradinnen und -kameraden, um auf die unerträglichen hygienischen Bedingungen in ihrer Schule aufmerksam zu machen: „Alles ist voller Dreck, die Schulmöbel in einen katastrophalen Zustand, die Toiletten unbenutzbar, es gibt weder Klopapier noch Seife! Da haben wir eine Demo organisiert. Die Polizei kam, um uns zu beschimpfen und zu verprügeln. Aber die Eltern und die Erwachsenen in der Nachbarschaft verstanden, dass es so nicht weitergehen kann – und es gab öffentliche Aufmerksamkeit dafür, wie es in dieser Schule aussieht!“ Auch, wenn sich seither noch nicht wirklich etwas verbessert hat, ist Shantal überzeugt, dass dieser Protest wichtig war, „weil ganz Viele verstanden haben, es kommt darauf an, Missstände nicht einfach hinzunehmen!“
Und noch mit einem weiteren akuten Problem beschäftigten sich die Kinder und Jugendlichen aus den vier lateinamerikanischen Ländern bei ihrem Treffen in El Quisco engagiert und intensiv: Cyberbullying – Mobbing im Internet, in sozialen Medien. Joaquín aus Coronel erklärt, warum das Thema für arbeitende Kinder und Jugendliche so relevant ist: „Ganz oft sind gerade auch wir betroffen, es wird über uns hergezogen, weil wir nicht über die gleichen Mittel wie andere Kinder verfügen. Cyberbullying ist supergefährlich! Anonym andere Kinder lächerlich zu machen und über sie herzuziehen, kann bis zu Selbstmorden führen.“ Ayelen (12) macht noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam: „Auch Kinder in meinem Alter mussten schon viel zu oft Erfahrungen mit Cyber-Acoso machen, sexuellen Angriffen im Internet durch Erwachsene, die sich als Gleichaltrige ausgeben und die Betroffenen manipulieren und dazu bringen, sich auszuziehen – oder zu noch Schlimmerem! Das führt am Ende dazu, dass Kinder sich schuldig fühlen, ihr Selbstbewusstsein am Boden ist und – wie Joaquín sagte – sie sich bis in den Selbstmord treiben lassen!“
Wie können sich Kinder gegen diese Form von Missbrauch wehren? Shantal vom Colectivo sin Fronteras hat von dem Treffen in El Quisco folgende Erkenntnis mitgebracht: „Wir müssen so viel wie möglich über diese Gefahren sprechen. Dieses Thema gehört dringend in die Schulen. Es geht darum, den Betroffenen
zu helfen, sich auf keinen Fall schuldig zu fühlen!“ Und dann redet sich die 17jährige regelrecht in Rage: „All diese Verbrechen im Internet, Betrug über das Handy – immer öfter auch mit Hilfe von KI – das ist eine neue Form von brutaler Ausbeutung, die Kindern und Jugendlichen das Leben kosten kann. Die Polizei und der Staat unternehmen hier so gut wie nichts, um uns zu schützen. Aber solange sich mit diesen Verbrechen so viel Geld verdienen lässt – und alle, die mit Handys und den Sozialen Medien Geschäfte machen und ein großes Stück vom Kuchen abbekommen, wird sich hier nichts verbessern! Umso wichtiger ist, dass wir selbst über Cyberbullying und Cyber-Acoso reden, aufmerksam miteinander sind und uns gegenseitig schützen!“
Dafür wollen die 27 nach ihrem Treffen in El Quisco länderübergreifend im Kontakt bleiben: Durchaus auch über das Internet, in regelmäßigen Videokonferenzen, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten und weiter zu diskutieren – und sich dann, wenn es irgendwie möglich ist, 2027 bei dem geplanten nächsten großen lateinamerikanischen Treffen arbeitender Kinder und Jugendlicher leibhaftig wieder zu sehen.
Interesse an mehr Informationen und O-Tönen? Vier Sprecherinnen der im Colectivo sin Fronteras engagierten Kinder und Jugendlichen haben einen Podcast über das El Quisco-Treffen erstellt und präsentieren eloquent und selbstbewusst die Eindrücke und Ergebnisse ihrer Beratungen: https://www.instagram.com/reel/DL24qnIO5h1
Und in ein kurzes Video gibt Einblicke in die Diskussionen der Kinder und Jugendlichen während ihres Treffens und stellt die von ihnen verabschiedete Resolution vor: https://drive.google.com/file/d/1P8hOXl2DZRhW5MHr2VkW-Yos2XdpiAD_/view
Bildquelle: [1, 2, 3]_protagoniza chile