Am 20. August wird der Welttag der Pommes Frites gefeiert. Die USA konnten allerdings nicht so lange warten, dort zelebriert man den National Day of French Fries bereits am zweiten Freitag im Juli; in diesem Jahr also am 11.7. Der Name French Fries stellt gleich (mindestens) zwei Dinge unmissverständlich klar: zum einen, dass die albernen Freedom Fries passé sind und zum anderen, woher die Pommes ganz offensichtlich kommen. Aus Frankreich, natürlich. Aber wir wollen hier nicht ganz so oberflächlich sein und fühlen uns deshalb verpflichtet darauf hinzuweisen, dass der seit langem geführte Streit über die Herkunft der Pommes Frites nach wie vor nicht entschieden ist: Sind sie nun französisch, belgisch oder gar amerikanisch? Letzteres meint natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika, was jetzt wirklich wenig überzeugend erscheint. Andererseits – amerikanisch? Sollte man darüber nicht doch noch einmal nachdenken? Wo kommt die Grundlage der Fritten, die Kartoffel, denn her? Und wie glaubwürdig ist es, dass den Südamerikanern in ca. 8.000 Jahren gemeinsamen Lebens mit mehr als 3.000 Sorten der schmackhaften Knolle niemals die Idee gekommen sein soll, diese in mundgerechten Stücken in Fett zu garen?
Die chilenische Gemeinde Nacimiento wollte diese Frage klären und gab eine Untersuchung über die Herkunft der frittierten Kartoffelstückchen in Auftrag. Ende vergangenen Jahres stellten die an verschiedenen Universitäten tätigen WissenschaftlerInnen ihre Forschungsergebnisse vor. Eine endgültige Klärung der Herkunft konnten auch sie nicht liefern. Doch es war ihnen möglich, einen neuen Kandidaten ins Gespräch zu bringen – Amerika. Um genau zu sein – Südamerika. Und um ganz genau zu sein – Nacimiento in Chile.
In chilenischen Medien war und ist dieses Studienergebnis durchaus einige Meldungen wert. Aber das war’s dann auch schon. International spielte die Untersuchung keine Rolle. Die FrittenliebhaberInnen (es gibt sogar eine Webseite kartoffelliebe.de!) beschränken sich hinsichtlich des Ursprungs weiterhin auf Belgien und Frankreich und übersetzen häufig sogar pomme als Kartoffel; das hat der gute alte Apfel wirklich nicht verdient.
El Clarin de Chile veröffentlichte ein knappes halbes Jahr nach der Vorstellung der Studienergebnisse in Nacimiento einen Artikel des Studienleiters Javier Arredondo zu diesem Thema. Der Artikel war bei seiner Veröffentlichung in El Clarin nicht brandneu, sein Inhalt ist es aber hierzulande auf jeden Fall. Das ist für Quetzal Grund genug, diesen Beitrag hier vorzustellen. Vielleicht werden die Pommes Frites am 20. August 2025 zum ersten Mal auf neue Weise zelebriert, als ein Symbol des kulturellen Austauschs und der gastronomischen Globalisierung, wie man sie in Nacimiento ganz ohne nationalistische Vereinnahmung sehr treffend bezeichnete.
Die Redaktion
Die Herkunft der Pommes frites neu schreiben: Nacimiento, Chile? 1629?
Javier Arredondo[i]
Dieser Artikel untersucht den historischen Ursprung der Pommes frites, der traditionell zwischen Belgien und Frankreich umstritten ist, und stellt eine innovative Hypothese auf: ihre mögliche Geburt in Nacimiento, Chile, im 17. Jahrhundert. Auf der Grundlage des Berichts des spanischen Soldaten Francisco Núñez de Pineda y Bascuñán[ii] in seinem Buch „Cautiverio Feliz“[iii] (1663) wird die Zubereitung von Bratkartoffeln im Jahr 1629 während eines kulturellen Austauschs mit dem Volk der Mapuche beschrieben. Das würde die älteste bekannte schriftliche Aufzeichnung dieses Gerichts darstellen.
Der Text setzt sich kritisch mit den europäischen Versionen auseinander: der belgischen, die auf einem Bericht aus dem Jahr 1781 beruht und keine stichhaltigen Beweise liefert, und der französischen, die auf dokumentierte Hinweise aus dem Ende des 18. Jahrhunderts zurückgeht, sowie mit anderen spekulativen Berichten, wie der angeblichen Erfindung durch die Heilige Teresa von Avila oder der Erfindung der Kartoffelchips durch George Crum in den USA.
Selten hat ein scheinbar so einfaches Essen wie Pommes frites so viele Debatten über seine Herkunft, Identität und kulturelle Bedeutung ausgelöst. Traditionell konzentriert sich der Streit auf Frankreich und Belgien, beides europäische Länder, die dieses Gericht in ihr jeweiliges nationales Erbe aufgenommen haben.
Eine neue Hypothese aus dem Süden Chiles bringt jedoch eine unerwartete Wendung: die Möglichkeit, dass die Pommes Frites erstmals im 17. Jahrhundert in der Stadt Nacimiento in der Region BioBío zubereitet wurden. Diese These, die sich auf eine Passage aus dem „Cautiverio Feliz“ (1663) von Francisco Núñez de Pineda y Bascuñán stützt, stellt europäische Gründungsnarrative in Frage und eröffnet einen Raum, um die Geschichte der südamerikanischen Lebensmittel neu zu überdenken.
Der Text von Núñez de Pineda, der 1629 als spanischer Militärgefangener in den Mapuche-Gemeinden lebte, enthält eine ausdrückliche Erwähnung von „Bratkartoffeln“, die bei einem Willkommensbankett nach seiner Entlassung angeboten wurden. Diese schriftliche Aufzeichnung – mehr als ein Jahrhundert vor den ersten europäischen Erwähnungen des Gerichts – ist eine außergewöhnliche Quelle, um den Platz Amerikas in den historischen Prozessen zu überdenken, die zu den heute als global geltenden Lebensmitteln geführt haben.
Die Kartoffel, eine aus den Anden stammende Kulturpflanze, gehört seit mehr als siebentausend Jahren zum landwirtschaftlichen und kulturellen Erbe der indigenen Völker Südamerikas. Ihre Domestizierung und Verbreitung waren von wesentlicher Bedeutung für die vorspanischen Gesellschaften, einschließlich der Mapuche-Gemeinschaften im Süden Chiles. Die Hypothese einer gebratenen Zubereitung im 17. Jahrhundert, im Kontext eines erzwungenen Kontakts, aber auch eines kulturellen Austauschs zwischen Mapuche und Spaniern, ist nicht sehr weit hergeholt. Im Gegenteil, sie ist eine plausible historische Möglichkeit, vor allem wenn man die indigenen Kochtechniken, den Zugang zu von den Kolonisatoren mitgebrachten tierischen Fetten oder die Verwendung pflanzlicher Öle wie das aus Madi (Madia sativa) gewonnene Öl in Betracht zieht. Madia sativa ist eine in der Region BioBío verbreitete ölhaltige Pflanze,.
Der Begriff „braten“, wie er im Diccionario de Covarrubias (1611) definiert ist, implizierte im 17. Jahrhundert die Verwendung von Fett oder Öl in einer Bratpfanne. Dies unterstreicht die wörtliche Auslegung der von Núñez de Pineda verfassten Passage. Es handelt sich also nicht um eine Metapher oder eine lexikalische Verwechslung, sondern um eine konkrete kulinarische Beschreibung, die den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprach. Die Zubereitung von Pommes frites ist in diesem Zusammenhang nicht nur plausibel, sondern auch historisch belegt.
Europa im Streit: der Kulturkampf um den Ursprung der Pommes frites
Im Gegensatz zu diesem Zeugnis sind die belgische und die französische Version weniger solide. Die belgische Version stützt sich auf ein Dokument aus dem Jahr 1781, welches 1984 von Jo Gérard vorgelegt wurde und dessen Echtheit nie überprüft wurde. Demnach wurden in Namur um 1680 zum ersten Mal Kartoffeln gebraten, als Ersatz für Fisch während eines besonders strengen Winters.
Die französische Geschichte hingegen verortet den Ursprung auf der Pont Neuf in Paris in den 1780er Jahren, als Straßenhändler dem städtischen Publikum Pommes frites anboten. Diese Version ist zwar beständiger als die belgische, aber immer noch mindestens 150 Jahre jünger als das chilenische Zeugnis.
Diese Diskussion ist nicht unbedeutend. Es geht nicht nur um die Urheberschaft eines beliebten Gerichts, sondern um die Art und Weise, wie kulinarisches Erbe, kollektive Erinnerungen und nationale Identitäten konstruiert werden. Hegemoniale Erzählungen neigen dazu, den Ursprung globaler Produkte im Herzen Europas zu verorten und die Beiträge indigener amerikanischer Kulturen auszublenden oder zu minimieren. Die chilenische Hypothese ist in diesem Sinne nicht nur eine historiografische Provokation, sondern auch ein Instrument zur Entkolonialisierung der Geschichte der Lebensmittel.
Der Fall Nacimiento hat einen Prozess der Wiederherstellung des kulturellen Erbes in Gang gesetzt, der interdisziplinäre Forschung, paläographische Analysen und gastronomische Rekonstruktionen umfasst. Diese Maßnahmen zielen nicht nur darauf ab, die Hypothese zu bestätigen, sondern auch darauf, die Gemeinde als einen symbolischen Ort zu positionieren, an dem ein Gericht von globaler Bedeutung entwickelt wurde. Dies ist ein Versuch, die Rolle des Mapuche-Volkes in der Weltgeschichte aus einer kulturellen und nicht ausschließlich konfliktorientierten Perspektive neu zu definieren.
Über nationale Grenzen hinweg veranschaulicht die Geschichte der Pommes frites die kulturellen Hybridisierungsprozesse, die die Lebensmittel in der modernen Welt kennzeichnen. Ihr Wandel von einer Knolle aus den Anden zu einem Symbol des globalen Fast Food spiegelt ein komplexes Geflecht historischer Beziehungen wider: Kolonisierung, Handel, Migration, Synkretismus und Anpassung. Heute werden die Frites in den Vereinigten Staaten mit Ketchup, in Belgien mit Mayonnaise und in Chile mit Merkén[iv] gegessen, und mit jeder lokalen Variante wird auch ihre symbolische Identität neu definiert.
Es sei darauf hingewiesen, dass andere Versionen über den Ursprung des Gerichts, wie die angebliche Urheberschaft der heiligen Teresa von Ávila oder die zufällige Erfindung der Kartoffelchips durch George Crum in den Vereinigten Staaten, zwar interessant sind, aber die chilenische Hypothese nicht widerlegen. Sie tragen vielmehr dazu bei, zu zeigen, wie dieses Lebensmittel im Laufe der Zeit mehrfach angeeignet und umgestaltet wurde. Jede dieser Versionen fügt dem Gesamtbild der knusprigen Geschichte eine weitere Ebene hinzu, aber keine bietet bisher eine so frühe und spezifische Quelle wie die in „Cautiverio Felíz“.
Das Fehlen archäologischer Beweise sollte nicht als endgültiges Hindernis interpretiert werden. Die Ernährungsgeschichte stützt sich häufig auf textliche, mündliche und ethnografische Quellen. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Gründungsberichte keine absoluten Wahrheiten sind, sondern historische Konstruktionen, die revidiert werden können. In diesem Rahmen zielt die Hypothese des chilenischen Ursprungs nicht darauf ab, die Debatte zu beenden, sondern sie vielmehr zu bereichern, indem sie zu einer strengeren und pluralistischeren Untersuchung der kulinarischen Genealogien einlädt.
Der Gedanke, dass die Pommes frites in den Küchen von BioBío entstanden sein könnten, in der Hitze des kulturellen Synkretismus zwischen den Mapuche und den Spaniern, ist auch eine Möglichkeit, die historische Handlungsfähigkeit der indigenen Völker zu bestätigen und Lateinamerika als Hauptakteur in der Geschichte der Lebensmittelmoderne zu verorten. Denn manchmal verbergen sich hinter einem goldenen Knistern Jahrhunderte der Erinnerung, des Konflikts, der Rassenmischung und des Widerstands.
Die Beweise
Die vorliegende Analyse der möglichen Ursprünge der Pommes frites ermöglicht es uns, die tiefgreifende historische, kulturelle und epistemologische Komplexität eines scheinbar einfachen Lebensmittels aufzuzeigen. Ausgehend von der in „Cautiverio Feliz“ (1663) von Francisco Núñez de Pineda y Bascuñán dokumentierten Entdeckung wird eine Hypothese aufgestellt, die die hegemonialen eurozentrischen Narrative in Frage stellt: die mögliche Existenz einer Zubereitung von Pommes frites in der Festung von Nacimiento, im heutigen Chile, im Jahr 1629, in einem Kontext der Interaktion zwischen dem Volk der Mapuche und den spanischen Kolonisatoren. Dieses Zeugnis, das den ersten europäischen Erwähnungen chronologisch um mehr als ein Jahrhundert vorausgeht, ist ein wertvoller Beweis, um den Platz Südamerikas in der globalen Geschichte des Essens neu zu überdenken. Die belgische und die französische Version, die weit verbreitet sind und durch nationale Traditionen verstärkt werden, haben jahrzehntelang den erzählerischen Vorrang über den Ursprung der Pommes frites inne. Kritische Forschungen – wie die des Kulinarik-Historikers Pierre Leclercq – haben jedoch den Wahrheitsgehalt der europäischen Gründungsgeschichten in Frage gestellt, insbesondere derjenigen, die auf späten und anekdotischen Quellen beruhen oder nicht streng dokumentiert sind. Diese Situation lädt dazu ein, die Mechanismen zu überprüfen, mit denen das kulinarische Erbe konstruiert wird, und über das symbolische Gewicht nachzudenken, das bestimmte Lebensmittel in den nationalen Identitäten erhalten.
In diesem Rahmen bietet die chilenische Hypothese nicht nur einen neuen historiografischen Ansatz, sondern eröffnet auch einen Weg zur kulturellen Anerkennung des Mapuche-Volkes und seiner angestammten Beziehung zur Kartoffel als Kulturpflanze und Nahrungsgrundlage. Die mögliche Integration von Frittiertechniken in den Grenzgebieten des 17. Jahrhunderts deutet auf eine Dynamik der gastronomischen Transkultivierung hin, die es verdient, sowohl aus sozialgeschichtlicher als auch aus lebensmittelanthropologischer Sicht eingehender untersucht zu werden.
Die Beispiele von Santa Teresa de Ávila in Spanien und George Crum in den Vereinigten Staaten veranschaulichen die Vielfalt paralleler Erzählungen, die die Genealogie dieses Lebensmittels bereichern – und gleichzeitig komplexer machen, und seinen Weg vom Lokalen zum Globalen nachzeichnen. Tatsächlich sind Pommes frites zu einem Symbol der zeitgenössischen Globalisierung der Ernährung geworden, mit kulturellen und kommerziellen Varianten, die sich in verschiedenen Regionen der Welt verbreiten.
Kurz gesagt, Pommes frites sind nicht nur ein kulinarisches Produkt: Sie sind ein historisches Konstrukt, ein Träger kultureller Überlieferung und ein Objekt der Auseinandersetzung um das Erbe. Ihre noch unvollendete Geschichte erinnert uns daran, dass die Prozesse des Austauschs und der Aneignung zwischen den Völkern für die Gestaltung der modernen Ernährungsgewohnheiten von grundlegender Bedeutung waren.
Angesichts des Fehlens schlüssiger archäologischer Beweise, bleibt die Hypothese eines südamerikanischen Ursprungs ein Vorschlag, der für weitere wissenschaftliche Untersuchungen offen ist. Aber sie enthält eine umfassendere Wahrheit: Selbst die alltäglichsten Lebensmittel haben die Fähigkeit, die tiefsten Fäden der Geschichte und Identität von Gesellschaften zu enthüllen.
Original-Beitrag aus El Clarín de Chile vom 31.05.25. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabi Töpferwein
Bildquelle: [1] Quetzal-Redaktion, gt [2] memoriachilena.gob.cl, cc
[i] Javier Arredondo ist Ingenieur für Tourismusmanagement an der Universidad Tecnológica Metropolitana und Master in Management und öffentlicher Politik an der Universität von Santiago de Chile. Er erhielt den Preis „Mejor Coordinador de Turismo BíoBío 2019“ und war Leiter der Untersuchung „Nacimiento: Cuna de la Papa Frita Mapuche“.
[ii] Francisco Núñez de Pineda y Bascuñán y Jofré (Chillán, 1607- Concepción, 1682) war ein chilenischer Adliger, Schriftsteller und Soldat kreolischer Herkunft. Im Jahr 1629 nahm er an einer Expedition zur Unterwerfung der Mapuche teil. Nach der Niederlage am 15. Mai in der Schlacht von Las Cangrejeras wurde er jedoch vom Mapuche-Häuptling Maulicán gefangen genommen, der ihn mehr als sechs Monate lang gefangen hielt. (Anm. der Redaktion)
[iii] In der Schrift „Cautiverio felíz y razón individual de las guerras dilatadas de Reino de Chile“, 1673 verfasst und 1863 erstmals veröffentlicht, schildert Núñez de Pineda seine Erfahrungen in der Gefangenschaft. Diese Chronik gilt als eine der wichtigsten und realistischsten Beschreibungen der Bräuche der Mapuche. (Anm. der Redaktion)
[iv] Merkén ist eine traditionelle Gewürzmischung der Mapuche, die aus geräuchertem rotem Chili (Cacho de Cabra), Salz und Koriandersamen besteht. (Anm. der Redaktion)