Anlässlich des 50. Jahrestages der Film-Uraufführung
Genau vor 50 Jahren wurde der Film Blow-Up mit dem Hauptpreis beim renommierten Filmfestival in Cannes ausgezeichnet. Der 1966 uraufgeführte Film, der vom italienischen Regisseur Michelangelo Antonioni gedreht wurde, nimmt die kurze Erzählung Julio Cortázars Las babas del Diablo (dt. Teufelsgreifer) als Ausgangspunkt. Obwohl Antonioni zuerst mit der Beteiligung Cortázars bei der Arbeit am Drehbuch rechnete, führte das nicht stattgefundene Treffen mit dem Schriftsteller zu einer Version der Geschichte, die dem Regisseur schließlich mehr Raum ermöglichte. Nach Berichten des argentinischen Schriftstellers habe Antonioni ihm erzählt, er habe zufällig das Buch mit dieser Erzählung gefunden, und es sei ein Thema, dass ihn seit langer Zeit beunruhige [1].
Sowohl Blow-Up als auch Las babas del diablo stellen einen wichtigen Meilenstein eines Suchens dar, das die moderne Literatur seit ihrer Geburt prägt. So gesehen setzte Las babas del diablo eine Linie fort, die mit Don Quixote begann und sich in den revolutionären Romanen des 20. Jahrhunderts fortsetzte, wie unter anderem in Sei personaggi in cerca d’autore (dt. Sechs Personen suchen einen Autor) (1925) von Luigi Pirandello.
Erzählungen von Julio Cortázar waren auch vorher bereits verfilmt worden: 1959 erschien der Film Circe (nach der gleichnamigen Erzählung), 1962 wurden die Filme La cifra impar (Die ungerade Zahl) (nach dem Text Briefe von Mama) und El perseguidor (nach der gleichnamigen Erzählung Der Verfolger) uraufgeführt. 1964 kamen Intimidad de los parques (Intimität der Parks) nach den Erzählungen Continuidad de los parques (dt. Park ohne Ende) und El ídolo de las cícladas in die Kinos. Insgesamt wurden drei Erzählungen des Buches Die geheimen Waffen ausgewählt (Teufelsgreifer, Der Verfolger und Briefe von Mama), um sie zu verfilmen, was das visuelle Potential des 1959 erschienen Buches deutlich macht.
Blow-Up wurde mit britischen Schauspielern in London gedreht, wobei die Metropole in dem Film selbst zum Akteur wird. Erst mit diesem Film gelang es Cortázar dank der Meisterschaft und dem Ruhm Antonionis, eine seiner für den Film adaptierten Erzählungen einem neuen und – das muss gesagt werden – für die eurozentrische Filmindustrie entscheidenden Publikum vorzustellen.
In Blow-Up werden Themen angesprochen, die bereits in den ersten Büchern Julio Cortázars und besonders in Rayuela (1963) (dt. Rayuela. Himmel und Hölle) zu finden sind. In Rayuela – anders als von seinem Autor erwartet – wird auf sehr besondere Weise der Geist der Generation der 60er Jahre beschworen. Und hier fordert er den Leser sogar dazu auf, sich aktiv an der Geschichte zu beteiligen. In diesem Sinne ist die Möglichkeit, zwischen zwei Wegen wählen zu können, die Cortázar am Anfang des Buches den Lesenden vorschlägt, eine Einladung zu der nötigen kritischen Beteiligung an den philosophischen Themen, die im Buch schonungslos behandelt werden.
Seit der Uraufführung von Blow-Up häufen sich Essays und Artikel, in denen die Erzählung und das Drehbuch unter die Lupe genommen und in nicht wenigen Fällen sehr interessante Schlussfolgerungen gezogen werden. Ob es sich in dem Drehbuch um eine Adaption der Erzählung oder eher um eine mehr oder weniger auf dem Original basierende Geschichte handelt, hat allerdings eine eher untergeordnete Bedeutung. In diesem Sinne ist das Drehbuch sozusagen nur ein möglicher Weg, den die Erzählung dem Lesenden erlaubt.
Während in Teufelsgreifer die Handlung sich vom Erzähler Roberto unabhängig macht, stellt Blow-Up mit verschiedenen Mitteln die Tatsache dar, dass gesehen wird, mehr als man sieht, und es wird viel mehr (oder viel weniger) aufgenommen, als was man aufnehmen möchte. Diese problematische Frage nach der Wahrnehmung und Beschreibung der Wirklichkeit macht darauf aufmerksam, dass das Sehen von dem Wahrnehmen sorgsam zu unterscheiden ist. Während die Figur des Erzählers den Lesenden ausdrücklich erklärt, dass es keine ausschließliche Form gibt, irgendetwas zu beschreiben, zeigt uns der Schriftsteller Cortázar sogar, dass der Autor keine ausschließende Kontrolle über die geschriebene Erzählung haben muss. Sowohl bei der Cortázar-Literatur als auch bei der Antonioni-Filmographie hören die Wirkungen der Kunst nicht beim letzten Wort bzw. der letzten Szene auf.
Aus dieser Perspektive ist die Fotografie eine Intervention in der Realität, da das Platzieren der Kamera zu den fotografierenden Objekten eine Abtrennung des Zusammenhangs bedeutet. Sowohl Antonioni als auch Cortázar machen deutlich, dass man ständig vor Tatsachen steht, die oftmals ignoriert oder nicht bemerkt werden. Zwar wurde diese Problematik von der französischen Ethnographie, die tief von der Semiotik und strukturalen Linguistik beeinflusst war, in den 50er und 60er Jahren viel diskutiert und erforscht [2]. Beispielweise ignoriert der Fotograf Thomas in Blow-Up seine eigene (privilegierte) Situation, wenn er bedauert: wenn ich doch Geld wie Heu hätte… Dann wäre ich frei. Außerdem wird dargestellt, dass man keine Kontrolle über den Blick der Anderen (auf uns) hat. Bedrängt von der Frau, die er ohne Erlaubnis fotografiert hatte, behauptet der erfolgreiche Fotograf Thomas: Ist nicht meine Schuld, wenn es keinen Frieden gibt. Seinerseits rechtfertigte der Fotograf Roberto, er wisse nicht genau, warum er sich dafür entschieden habe, ihnen das Foto nicht abzugeben. Zu wem gehört, was in einem Interview gesagt wurde? Wer kann legitim als Entdecker bezeichnet werden? Jenseits einer Einmischung in die Privatsphäre versuchte Cortázar nachdrücklich, dem Begriff des Privatbesitzes im Kunstbereich entgegenzutreten sowie das kreativ intersubjektive Gestaltungsmittel der Kunst hervorzuheben.
Der Begriff Blow-Up bezieht sich auf die Vergrößerung eines Fotos, kann jedoch als auch die Notwendigkeit interpretiert werden, wachsam gegenüber der Realität zu sein, die uns umgibt. Genau das wurde dem Fotografen in Blow-Up klar: Er war sicher, Zeuge eines friedlichen Szenarios gewesen zu sein und befand sich doch in einer gewalttätigen, kaum sichtbaren, Realität. 1967 übernahm Cortázar die Szene, in der der Fotograf dem befreundeten Verleger Bilder seines neuen Buches zeigt, in dem kurzen Text Álbum con fotos (Bilderalbum): Die Rührung zuhause für knapp 30 Francs / Die wahren Gesichte der Engel / Die wahren Gesichte der Menschen…[3]. Damit wies er nachdrücklich auf die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber einer weltweit dramatischen Realität hin. Es waren Zeiten einer politisch engagierten Kunst…
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Literatur:
[1] Cortázar, J. (2009) Papeles inesperados. Buenos Aires: Alfaguara, S. 236.
[2] Vgl. Lévi-Strauss, C. [1958] (1967): Strukturale Anthropologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
[3] Cortázar, J. (1967) „Álbum con fotos”. http://www.semanariohispanico.com/2012/07/julio-cortazar-album-con-fotos-texto-en.html