Der argentinische Autor, dessen Todestag sich dieses Jahr zum dreißigsten Mal jährt [Stand Juni 2016], ist einer der großen Vertreter der Weltliteratur. Sein Werk ist eine Einladung an den Leser, seine Komfortzone auch einmal zu verlassen.
Zwei Dinge haben sich nie von Jorge Luis Borges getrennt: seine fortschreitende Erblindung und sein außergewöhnlicher Beitrag zur lateinamerikanischen und zur Weltliteratur. Seine Bedeutung als Schriftsteller ist so groß, dass er auf einer Stufe steht mit denen, die ebenfalls im 20. Jahrhundert zum Vorschein kamen, so wie Franz Kafka, James Joyce und Marcel Proust.
Als Autor zahlreicher Aufsätze, Erzählungen und Gedichte war Borges nicht nur ein produktiver Schriftsteller, sondern leistete sich darüber hinaus den Luxus, zu sterben, ohne jemals einen Literaturnobelpreis gewonnen zu haben; ein Umstand, dem allem Anschein nach seine Nähe zum chilenischen Diktator Pinochet und seine starke literarische Kritik an der Schwedischen Akademie, welche jene Auszeichnung verleiht, zugrunde liegen. Trotz allem geht der Argentinier als ein Mythos in die Geschichte ein, den in der Welt der Literatur nur wenige in Frage zu stellen wagen.
Da sie jedoch als sehr komplex empfunden werden, hat das Begreifen seiner Texte vielen Lesern Schwierigkeiten bereitet. In einem Interview mit Radio Televisión Española im Jahr 1976 geht der Schriftsteller auf diese Schwierigkeiten ein: „Ich denke weder an ein ausgewähltes, noch an ein Massenpublikum. Ich schreibe so, dass all das, was ich sagen möchte, auf die einfachste Art und Weise ausgedrückt wird“.
Diverse Persönlichkeiten der literarischen Welt sind sich einig darüber, dass Borges zu lesen zwar keine unlösbare Aufgabe, gleichwohl jedoch eine schwierige Übung darstellt, für die es von grundlegender Bedeutung ist, dass der Leser gefordert wird und eine kritische Haltung gegenüber dem Text einnimmt. Eine der Schwierigkeiten, die sich für das Verstehen von Borges‘ Werk stellen, liegt in den vielen historischen und literarischen Verweisen, die der Leser nicht zu kennen vermeint, die am Ende jedoch lediglich der Fantasie des Autors entspringen. In „El libro de los seres imaginarios“ lässt er beispielsweise Jesus eine Hauptrolle in „Tausendundeine Nacht“ zukommen. Ein Verweis, der im Original mitnichten so zu finden ist.
„Im Prinzip lässt Borges‘ Gelehrtheit den Leser ignorant erscheinen und vor allem enttäuscht davon, nicht das zu verstehen, was der Autor sagen möchte“, räumt Schriftsteller Mario Jursich ein. Doch die Mühe ist keineswegs vergebens. Laut Jursich liegt der Schlüssel darin, die Ironie und den Humor, die Borges in all seinen Texten nutzt, verstehen zu lernen und sich von seiner Gelehrtheit nicht in die Irre führen zu lassen, denn viele der Verweise, die er nutzt, sind Produkte seiner eigenen Fantasie. So geht er in Büchern wie „El Aleph“ (1949) oder „Ficciones“ (1944) vor, zwei der herausragendsten Werke des Argentiniers, in denen er fantastische Orte, Personen und Objekte aufführt, wie z.B. die unendliche Bibliothek von Babel.
Mithilfe seiner Vorstellungskraft hat Borges es geschafft, ein literarisches Universum mitsamt neuer Wörter und Bedeutungen zu erschaffen. Daniel Balderston, Direktor des Centro Borges der Universität Pittsburgh, geht davon aus, dass dem Erfolg des Argentiniers die Tatsache zugrunde liegt, dass er sich nie mit dem zufrieden gab, was lateinamerikanische Autoren in ihren Werken darzustellen pflegten: soziale Ungleichheit, das Leben im Regenwald und kulturelle Traditionen.
„Borges ist insofern universell, als dass seine Texte sowohl in der chinesischen Kultur als auch im Römischen Reich, im England des 19. Jahrhunderts, im Mittelalter oder in einer Straße in San Telmo stattfinden können“, sagt Balderston, der darüber hinaus die Auffassung vertritt, dass es nicht schaden könne, wenn sich die Leser Borges‘ Texten unter Verwendung bestimmter Hilfsmittel näherten, die ihnen das Verständnis erleichtern.
Ein Beispiel: Die vom Centro Borges betriebene Webseite bietet ein Wörterbuch mit sämtlichen von Borges angegebenen literarischen Verweisen. Dieses Werkzeug erlaubt es allen Lesern, seine historischen Verweise, die Charakterzüge seiner Figuren und den Kontext seiner Worte nachzuvollziehen. So ist es u.a. möglich, zu verstehen, warum eine seiner Erzählungen den Titel „Tlös, Uqbar, Orbis Tertius“ trägt, welcher auf zwei fiktive Orte und eine imaginäre Gesellschaft von Intellektuellen anspielt. Die Sprache, die er in diesem Titel nutzt, ist als Panlengua bekannt, eine Sprache, die Mitte der 50er Jahre vom argentinischen Künstler Xul Solar erschaffen wurde.
Es gibt auch diejenigen, die behaupten, dass es sich bei Borges keineswegs um einen unverstandenen Autor handele und dass die Schwierigkeit seiner Werke lediglich aus den Vorurteilen einiger Leser resultiere. Autor Juan Gustavo Cobo ist der Ansicht, dass Borges gemieden werde: „Man glaubt, er sei ein komplizierter Autor, doch in seinen Texten sind alle willkommen, denn sie sind voller Fantasie, Humor und Tiefe. Liest man sie noch einmal, ist es unvermeidlich, sie noch mehr zu mögen“.
Genau dieses erneute Lesen seiner Werke, die Veröffentlichung neuer Ausgaben seiner Texte und die Neuinterpretationen seines literarischen Stils haben es ermöglicht, dass Borges nicht an Geltung verliert. „Er ist ein vielfältiger und unerschöpflicher Autor und es besteht die Möglichkeit, seine Schriften von verschiedenen Blickwinkeln aus zu diskutieren“, sagt der Autor Antonio García Ángel, der zudem versichert, dass es sich für die Leser lohnt, sich einen weiteren literarischen Kontext zu schaffen, sich also auch der Literatur anderer Autoren zuzuwenden.
Hierfür empfiehlt er, mit „El factor Borges“ von Alan Pauls zu beginnen, welches seiner Meinung nach, ein umfassendes Panorama des von Borges geschaffenen literarischen Universums bietet. García versichert, dass mit dem Begreifen der Tragweite Borges‘ Werkes auch das Verstehen eines Großteils der Weltliteratur einhergeht. Lediglich aufgrund dieser Tatsache lohnt es sich bereits, die Herausforderung Borges zu verstehen, anzunehmen.
Sich in die Bücher Borges‘ zu vertiefen, ist eine Erfahrung, die ein Fenster zum Universum der Worte öffnet und den Lesern eine neue Sichtweise auf Literatur bietet“, sagt Juan Camilo Rincón, Autor von „Ser colombiano es un acto de fe. Historias de Jorge Luis Borges y Colombia“. Rincón hat keinen Zweifel daran, dass Borges der Vater aller Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts wie auch der Gegenwart ist, denn alle wurden auf die eine oder andere Weise durch den argentinischen Autoren geprägt.
In der Tat erkennen alle Autoren des Lateinamerikanischen Booms in Borges einen obligatorischen Bezugspunkt. So behauptet beispielsweise Gabriel García Márquez über den Argentinier: „Er ist der Autor der eindeutigen Adjektive“, um sich auf seine außergewöhnliche Fähigkeit zu beziehen, genau die richtigen Worte zu finden, um die Dinge zu beschreiben. Julio Cortázar hat seinem Landsmann ebenfalls viel zu verdanken, denn als Herausgeber der Zeitschrift „Los Anales de Buenos Aires“ war Borges der erste, der die Erzählung „Casa tomada“ veröffentlichte.
Obwohl das Œuvre des argentinischen Autors – beginnend bei seinem ersten Text „Fervor de Buenos Aires“ (1923) bis hin zu seinem letzten „Los conjurados“ (1985) – von Komplexität geprägt ist, handelt es sich doch um ein imposantes Gesamtwerk, welches für viele all das zusammenfasst, was die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ausmacht und welches sich auch noch heute immer wieder neu erfindet. Dieses Werk zu verstehen, kann sich als eine sehr anspruchsvolle Aufgabe herausstellen, doch einmal in Borges‘ Welt eingetaucht, ist es unmöglich, nicht für immer dort zu verweilen.
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Original-Beitrag aus La Semana vom 04.06.2016 (Ausgabe 1779). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.
Übersetzung aus dem Spanischen: Anja Raschke
Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion_ceniza [2] Quetzal-Redaktion_sole biasatti