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Die Herausforderung der Lektüre von Borges Werk

La Semana | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Der vor 30 Jahren gestorbene argentinische Schriftsteller ist eine der wichtigsten Personen der Weltliteratur. Sein Werk lädt den Leser dazu ein, aus seiner Komfortzone herauszutreten.

Zwei Dinge haben Jorge Luis Borges nie verlassen: seine fortschreitende Blindheit und seine außerordentlichen Beiträge zur lateinamerikanischen und zur Weltliteratur. Der Schriftsteller hat eine solche Tragweite, dass er neben anderen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, wie Franz Kafka, James Joyce und Marcel Proust, herausragt.

Obwohl er ein erfolgreicher Schriftsteller war und Autor zahlreicher Essays, Erzählungen und Gedichte, starb er ohne den Nobelpreis für Literatur zu erhalten, angeblich wegen seiner Nähe zum chilenischen Diktator Augusto Pinochet und seiner heftigen literarischen Kritiken an der Schwedischen Akademie, die die Auszeichnung verlieh. Dennoch gelang es dem Argentinier als Mythos in die Geschichte einzugehen, den nur wenige in der Literatur in Frage zu stellen wagen.

Doch es gibt viele Leser, die Schwierigkeiten haben, seine Texte zu verstehen, da sie diese als sehr komplex empfinden. In einem Gespräch, das 1976 in der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Radio Televisión Española übertragen wurde, äußerte sich der argentinische Schriftsteller zu diesen Schwierigkeiten: „Ich denke weder an ein ausgewähltes Publikum noch an ein Massenpublikum. Ich denke ans Schreiben, um all das zum Ausdruck zu bringen, was ich sagen möchte, und dies auf eine möglichst einfache Art und Weise.“

Viele Persönlichkeiten der literarischen Welt stimmen darin überein, dass es keine unmögliche Aufgabe sei, Borges zu lesen, dass es jedoch eine schwierige Aufgabe sei, in der es fundamental sei, dass sich der Leser selbst fordert und eine kritische Stellung gegenüber dem Text einnimmt. Eine der Schwierigkeiten, das Werk Borges‘ zu verstehen, ist die große Anzahl an historischen und literarischen Referenzen, von denen der Leser meint, sie nicht zu kennen, obwohl sie letztendlich ein Produkt der Vorstellungskraft des Autors sind. In El libro de los seres imaginarios befindet sich zum Beispiel Jesús, einer der Protagonisten von Las mil y una noches. Doch in besagtem Original existiert die Referenz nicht.

Borges_Gedenkmünze2_Foto Redaktion_sole biasatti„Grundsätzlich lässt uns die Gelehrsamkeit von Borges uns selbst wie Unwissende fühlen, und vor allem lässt sie uns in Enttäuschung zurück, nicht verstanden zu haben, was er sagen möchte”, gibt der Schriftsteller Mario Jursich zu. Aber ihm zufolge handelt es sich nicht um unnütze Anstrengungen. Der Schlüssel sei es, die Ironie und den Humor in Borges Texten verstehen zu lernen. Außerdem solle man sich von seiner Gelehrsamkeit nicht verwirren lassen, da seine Verweise oftmals seiner Vorstellung entspringen. So geschieht es auch in Büchern wie El Aleph (1949) oder Ficciones (1944), zwei der überragendsten Werke des Argentiniers, wo er wundersame Orte, Personen und Objekte nennt, wie die unendliche Bibliothek von Babel.

Borges hat eine solche Vorstellungskraft, dass er ein literarisches Universum mit neuen Wörtern und Bedeutungen erschaffen konnte. Daniel Balderston, Direktor des Center Borges der Universität Pittsburg, glaubt, dass sich der Erfolg des Argentiniers daraus ergibt, dass er sich nicht damit begnügt, das zu schreiben, was die lateinamerikanischen Romanautoren gewohnt sind, in ihren Werken abzubilden: soziale Ungleichheit, das Leben in der Wildnis und die kulturellen Traditionen.

„Borges ist universal, weil seine Texte in der chinesischen Zivilisation, im römischen Imperium, in England, im 19. Jahrhundert, im Mittelalter oder in einer Straße von San Telmo spielen könnten“, sagt Balderston, der außerdem erwägt, dass es nicht schaden würde, wenn Leser sich den Texten von Borges mit Lesehilfen annähern, die zum besseren Verständnis beitragen.

Zum Beispiel finden wir auf der Internetseite des Center Borges, die Balderston verwaltet, ein Wörterbuch mit allen literarischen Verweisen von Borges. Dieses Hilfsmittel erlaubt es denjenigen, die den Argentinier lesen, die historischen Referenzen, die Charakteristika seiner Figuren und den Kontext seiner Wörter zu verstehen. So ist es unter anderem möglich zu verstehen, weshalb eine seiner Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius heißt, welches ein Verweis auf zwei fiktive Orte und eine imaginierte Gesellschaft von Intellektuellen ist. Die Sprache, die in diesem Titel benutzt wird, kennt man als panlengua, eine Sprache, die vom argentinischen Künstler Xul Solar Mitte der 50er Jahre erfunden wurde.

Auch gibt es die, die behaupten, dass der argentinische Autor kein unverstandener Autor sei und dass die Schwierigkeit seiner Werke nichts Anderes sei, als ein Produkt von Vorurteilen einiger Leser. Der Schriftsteller Juan Gustavo Cobo denkt, dass es eine Prävention gegenüber Borges gibt: „Man meint, er sei ein schwieriger Autor. Aber in seinen Texten sind alle willkommen, sie sind voll von Imagination, Humor und Tiefgründigkeit. Wenn man sie erneut liest, will man unweigerlich mehr.“

Und eben dieses erneute Lesen seiner Werke, die Veröffentlichung von neuen Bearbeitungen seiner Texte und neuer Interpretationen seines literarischen Stils führen dazu, dass Borges nicht an Geltung verliert. „Er ist ein wandelbarer und unerschöpflicher Autor und seine Werke können auf verschiedenste Weise angegangen werden“, äußert sich der Schriftsteller Antonio García Ángel, der zudem versichert, dass es den Lesern zu empfehlen sei, mit einem weiter gefassten literarischen Kontext zu rechnen, das heißt, dass man sich der Literatur zahlreicher Autoren nähert.

Er empfiehlt mit El factor Borges von Alan Pauls anzufangen, denn ihm zufolge bietet das Werk einen generellen Überblick über das vom Argentinier erschaffene literarische Universum. García versichert, dass, wenn man die Größe des Werkes zu verstehen weiß, man auch einen Großteil der Weltliteratur versteht. Allein deshalb sei es wert, Borges‘ Werk verstehen zu wollen.

„In die Bücher von Borges einzudringen ist eine Erfahrung, die ein Fenster zum Universum der Wörter und den Lesern eine neue Form eröffnet, Literatur zu betrachten“, erläutert Juan Camilo Rincón, Autor von Ser colombiano es un acto de fe. Historias de Jorge Luis Borges y Colombia. Rincón zögert nicht mit der Aussage, dass Borges der Vater der aktuellen Schriftsteller und der des 20. Jahrhunderts sei, denn alle seien auf die eine oder andere Art und Weise durch das Werk des Argentiniers beeinflusst.

Tatsächlich sehen alle Autoren des lateinamerikanischen Booms in Borges eine obligatorische Referenz. Gabriel García Márquez zum Beispiel sagt über den Argentinier: „Er ist der Schriftsteller der endgültigen Adjektive“, womit er sich auf Borges außergewöhnliche Fähigkeit bezieht, genau die Wörter zu finden, die die Dinge bestimmen. Auch Julio Cortázar hat seinem Landsmann viel zu verdanken. Borges veröffentlichte zum ersten Mal die Erzählung Casa tomada, als er die Zeitschrift Los Anales von Buenos Aires leitete.

Auch wenn das Werk des argentinischen Schriftstellers vom ersten Text Fervor de Buenos Aires (1923) bis zum letzten Los conjurados (1985) von Komplexität gezeichnet ist, ist es auch ein hoheitsvolles Werk, das für viele zusammenfasst, was die Literatur des 20. Jahrhunderts ausmacht. Ein Werk, dass sich auch heute noch immer wieder neu erfindet. Die Herausforderung, es zu verstehen, kann anspruchsvoll sein. Aber wenn man erst einmal in die Welt von Borges eingetaucht ist, ist es unmöglich, nicht für immer in ihr zu bleiben.

 

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Original-Beitrag aus La Semana vom 04.06.2016 (Ausgabe 1779). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Ina Verhülsdonk

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, Sole Biasatti

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