Die Argentinischen Filmtage feierten in diesem Jahr ein kleines Jubiläum: 5 Jahre gibt es sie nun schon, und von einem kleinen Nischenevent sind sie zu einer festen Größe im Leipziger Kulturkalender geworden. Nach Angaben des Festivalleiters Diego Serra nutzten vom 23. September bis 2. Oktober mehr als 3000 Personen die Gelegenheit, lateinamerikanische Filme im Original mit Untertiteln zu sehen. Die Mitwirkenden des Veranstalters Sudaca e.V. haben sich auch in diesem Jahr wieder einiges einfallen lassen. Das bunte Filmprogramm bestehend aus unzähligen argentinischen Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilmen sowie der Sektion Ventana latina, in der aktuelle Spielfilme aus anderen lateinamerikanischen Ländern gezeigt wurden, wurde durch Konzerte, Diskussionsrunden, Vorträge, eine Eröffnungsfeier und eine Abschlussparty abgerundet. Interessant für das Publikum war, dass es auch in diesem Jahr die Gelegenheit hatte, einigen Regisseuren im Anschluss an den jeweiligen Film Fragen zu stellen. So waren unter anderem Edgardo González Amer (Familia para amar), Fernando Spiner (Aballay, el hombre sin miedo), Kristina Hille (Awka Liwen) und Andrea Roggon (Soy libre) anwesend. Die Argentinischen Filmtage sind auf Expansionskurs, denn in diesem Jahr wagten sie zum ersten Mal den Sprung über die Stadtgrenzen hinaus. So kamen auch die Hallenser in den Genuss, im Lux Kino am Zoo argentinische und lateinamerikanische Filme im Original zu sehen. Ein Angebot, das gerne in Anspruch genommen wurde. Auch in diesem Jahr gab es wieder eine Fachjury, bestehend aus den Filmschaffenden Andrea Roggon, Eileen Reukauf, Lars Meyer, Christof Amrhein und Mike Brandin, die El Campo zum Gewinnerfilm kürte. Das Publikum wählte Te extraño zu seinem Favoriten. Erstmals gab es in diesem Jahr auch eine Jugendjury, die über den Gewinner in der Sektion Dokumentarfilme zu urteilen hatte und sich für Un tren a Pampa Blanca entschied. Auffallend viele Filme beschäftigten sich mit dem Thema der Suche nach dem eigenen Ich und zeigten Menschen in persönlichen Krisen- und Umbruchsituationen.
Ein paar Eindrücke meines persönlichen Filmmarathons: Carancho: Der diesjährige Eröffnungsfilm von Pablo Trapero (u. a. Leonera) beschäftigt sich mit dem Geschäft, das dubiose Anwaltskanzleien mit den Opfern von Verkehrsunfällen machen. Es scheint einen sehr lukrativen Markt für Schadenersatzklagen und Versicherungsbetrug zu geben, bei dem alle außer die Opfer fleißig mitkassieren. Im Vordergrund steht die Begegnung des abgebrühten Versicherungsbetrügers Sosa mit der jungen, überfordert wirkenden Notärztin Luján. Sie kämpfen von verschiedenen Perspektiven aus um die Oper der Verkehrsunfälle. Trotz der widrigen Umstände entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen. Sie geben einander Halt und scheinen sich doch wechselseitig in den Strudel des Abgrundes zu ziehen. Als Zuschauer denkt man mehrmals, dass doch nun alles nicht noch schlimmer werden könne, aber es geht immer noch ein kleines Stück weiter bergab – bis zum spektakulären, genialen Finale. Dieser Film ist harte Kost.
Road July: Die Geschichte ist recht schnell erzählt. Nach dem Tod ihrer Mutter soll die 10-jährige July zunächst einige Zeit im Haus ihrer Großmutter verbringen. Ihr Vater Santiago, ein ausgeflippter, chaotischer Typ, der scheinbar nicht erwachsen werden will und der seiner Tochter bis dahin noch nie begegnet ist, wird sie hinbringen. Eine Reise quer durchs Land, bei der viel geschehen und die den beiden den bis dahin nicht vorhandenen Raum bieten wird, sich kennenzulernen. Ein wundervoller Film vom bedingungslosen Sich-Aufeinander-Einlassen, von der Erkenntnis, dass es nie zu spät ist, seinem Leben eine Wendung zu geben, der niemals ins Kitschige abgleitet. Die Hauptdarsteller sind sehr glaubhaft. Der Film bietet viele sehr komische Szenen, bei denen der komplette Kinosaal in schallendes Gelächter ausbrach. Nicht nur für mich, war dieser Film, der in der Kategorie Wettbewerb Spielfilm lief, die ganz große Überraschung dieser Argentinischen Filmtage.
También la lluvia: Der diesjährige Gewinner des Panorama-Publikumspreises auf der Berlinale. Der mit erstklassigen Schauspielern besetzte Film (u. a. Gael García Bernal, Luis Tosar) erzählt eigentlich drei Geschichten. Die von der Ankunft Kolumbus´ in Amerika. Hervorgehoben werden interessanterweise die Figuren der Dominikanermönche Bartolomé de las Casas und Antonio de Montesinos, die sich später für die Rechte der Indigenen einsetzen sollten. Die Hauptgeschichte ist die des Filmteams um den Regisseur Sebastián und den Produzenten Costas, das eben diese Ankunft Kolumbus´ drehen will. Kurioserweise verlegen sie den historischen Schauplatz von der karibischen Insel Hispaniola (heute Dominikanische Republik und Haiti) in die bolivianischen Anden. Dort bekommt man Statisten bereits für einen Dollar am Tag und dem Publikum würde der Unterschied der Indigenen und der Sprachen doch sowieso nicht auffallen. Bei so viel Ignoranz ist man als Zuschauer doch sprachlos. Während der Dreharbeiten kommt es in Cochabamba zum Wasserkrieg. Die Wasserversorgung soll privatisiert werden, wodurch die Kosten für die ohnehin schon in Armut lebende Bevölkerung um bis zu 300 Prozent steigen würden. Das ist weder zu bezahlen noch zu akzeptieren, denn „Wasser ist Leben“, wie Daniel, einer der indigenen Hauptdarsteller des Films im Film trefflich äußert. Die Indigenen gehen auf die Barrikaden und die Situation eskaliert. Eine wahre Begebenheit, die die Ereignisse in Cochabamba im Jahre 2000 nachzeichnet. Der Handlungsstrang um das Filmteam verbindet die einzelnen Geschichten miteinander. Er zeigt die Veränderungen, die vor allem im Denken und Handeln von Sebastián und Costa vor sich gehen. Wie bei dem einen der Ehrgeiz, sein Traumprojekt zu verwirklichen, so groß wird, dass ihm alles andere egal ist und der andere, der zu Beginn kalt und berechnend wirkte, sich von persönlichen Begegnungen und Schicksalen berühren lässt und schließlich sogar sein Leben aufs Spiel setzt. Es ist ein großartiger Film mit wunderbaren Bildern, der bewegt, zum Nachdenken anregt und noch lange nachwirkt. Ihm wäre jedoch ein weniger „hollywoodmäßiges“ Ende zu wünschen gewesen.
Fase 7: Argentinien im Ausnahmezustand. Eine mysteriöse Atemwegserkrankung bedroht das Land. Die Menschen stürmen die Supermärkte, um sich für den Ernstfall einzudecken. Das Haus, in dem Coco und seine schwangere Frau Pipi wohnen, wird abgeriegelt, da es hier bereits einen Fall der Epidemie gegeben hat. Die bis dahin normale Hausgemeinschaft spaltet sich in zwei Gruppen. Verdächtige Nachbarn werden aus dem Weg geräumt, ihre Essensvorräte werden geplündert. Der eher träge Coco gerät zwischen die Fronten und muss aktiv werden, um sich und seine Frau zu verteidigen. Ein schreiend komischer Film, der beim Publikum sehr gut ankam. Regisseur Nicolás Goldbart hat viel Sinn für schwarzen Humor bewiesen.
Contracorrientes: In einem traditionellen und tief religiösen Dorf an der peruanischen Pazifikküste leben der Fischer Miguel und seine Frau Mariela. Die beiden erwarten ein Kind und sind geachtete Mitglieder der Dorfgemeinschaft. Alles scheint perfekt. Wenn da nicht der Maler Santiago wäre, der im Dorf geächtet wird, weil er sich offen dazu bekennt, homosexuell und agnostisch zu sein, und mit dem Miguel heimlich eine Affäre hat. Er liebt sowohl Mariela als auch Santiago und kann sich doch für keinen von beiden ganz entscheiden. Als Santiago bei einem Unfall ertrinkt, scheint die Situation für eine Weile perfekt. Miguel geht in seiner Rolle als zukünftiger Familienvater auf und verbringt parallel dazu Zeit mit Santiago, der als nur für ihn sichtbarer Geist erscheint. So können die beiden erstmals gemeinsam durch den Ort spazieren, ohne Gefahr zu laufen, zusammen gesehen zu werden. Sie verbringen ein paar unbeschwerte Tage, deren Ende Miguel egoistischerweise hinauszögert, indem er den Leichnam Santiagos tief im Meer an einen Felsen bindet. Doch Santiagos Geist kann erst zur Ruhe kommen, wenn sein Körper von einem geliebten Menschen öffentlich gesegnet und dem Meer übergeben wird. Für Miguel eine Entscheidung von großer Tragweite: Santiago endlich die letzte Ruhe gewähren oder Mariela die Scham und Schande ersparen, die das öffentliche Bekenntnis zu seiner homosexuellen Beziehung bedeuten würde. Auch hier droht eine Person auf der Suche nach sich Selbst zerrissen zu werden. Contracorrientes behandelt sehr poetisch und in wundervollen Bildern den Umgang mit der Homosexualität in Lateinamerika. Unbedingt empfehlenswert.
Te extraño: Der diesjährige Gewinner des Publikumspreises erzählt eine Familiengeschichte zu Zeiten der Militärdiktatur. Der 15-jährige Javier bewundert seinen älteren Bruder Adrián, der sich politisch engagiert. Er, der er in der Schule kleine Aktionen gegen die Militärs veranstaltet, würde gerne bei den „Großen“ mitmachen. Doch Adrián schließt ihn davon aus und lässt ihn nur kleine Dinge organisieren. So darf er gern den Schlüssel für das Wochenendhaus der Familie organisieren und Handgranaten für den größeren Bruder aufbewahren, aber er soll sich heraushalten und keine Fragen stellen. Dann jedoch verschwindet Adrián – für immer. Der Familie gelingt es nicht, etwas über seinen Verbleib in Erfahrung zu bringen, sie weiß weder, ob er tot oder lebendig ist. Um Javier in Sicherheit zu bringen, wird er zu seinem Onkel und seiner Tante nach Mexiko geschickt. Zu Beginn wirkt er wie ein Zombie. Er ist vollkommen abwesend, scheint überall Gefahr zu wittern und denkt pausenlos an seinen älteren Bruder. Als er Alejandra kennenlernt, die sich um ihn kümmert, ihn in seinem Kummer zu verstehen scheint, und mit ihr eine Art Liebesbeziehung beginnt, scheint er erstmals ein wenig in Mexiko anzukommen. Doch seine Ruhelosigkeit treibt ihn auch hier irgendwann wieder weg. Eine endlose Suche geht weiter.
Das Thema der Desaparecidos ist nicht neu, dennoch zeigt dieser Film auf berührende Weise, was mit denen geschieht, die zurückbleiben und mit dieser Leerstelle leben müssen – und daran zu zerbrechen drohen, dass sie niemals erfahren werden, was wirklich geschah. Leider bleiben einem die Charaktere irgendwie fremd.
Karen llora en un bus: Der kolumbianische Spielfilm erzählt von der Suche nach sich selbst. Karen verlässt nach zehn Jahren Ehe ihren Mann. Sie begreift, dass es ihr nicht ausreicht, versorgt zu sein, ansonsten aber nur neben jemandem herzuleben, der sich nicht wirklich mit ihr auseinandersetzt. Sie mietet sich in einer schäbigen Pension ein. Der Anfang ist sehr hart ohne Job, ohne Geld, ohne Freunde. Doch nach und nach beginnt sie ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie entwickelt Strategien, um an Geld fürs Essen zu kommen. Zunächst widerwillig lässt sie sich von Patricia, die ebenfalls in der Pension lebt, dazu bringen, das Leben etwas lockerer zu sehen und es zu genießen. Das ganz große Glück scheint für sie gekommen, als sie dem Schriftsteller Eduardo begegnet, der sie als Mensch ernst zu nehmen scheint, sie unterstützt und mit dem sie ihre Leidenschaft für Literatur teilen kann. Doch dann steht sie wieder vor einer Entscheidung…
Die Hauptdarstellerin Angela Carrizosa verkörpert diese zunächst unsichere Frau, die im Laufe des Filmes immer mehr aufzublühen und zu sich selbst zu finden scheint, sehr glaubhaft. Der Film ist sehr einfühlsam erzählt und mit dem großen Konflikt zwischen Sicherheit und Unabhängigkeit, der im Mittelpunkt steht, können sich sicher viele Menschen – und keinesfalls nur Frauen – identifizieren.
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Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion.js; [2],[3],[4],[5],[6],[7],[8] Argentinische Filmtage / Nutzung im Rahmen der Rezension.
Sehr schöner Artikel über das argentinische Kino. Danke für die Filmtipps!
Hallo, danke für diesen Artikel (ist auch noch 5 Jahre später interessant). So finde ich immer wieder Filme aus Argentinien, die ich mir noch anschauen muss. Ein toller Film aus 2015 ist übrigens „El Clan“ von Regisseur Pablo Trapero, der 2016 in die deutschen Kinos gekommen ist.
Grüße, Hayo