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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Padura, Leonardo: Wie Staub im Wind

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

rezensiert_Padura_Staub_CoverIn den 1980er Jahren trifft sich in Havanna ein Kreis befreundeter Studenten, genannt Der Clan. Sie diskutieren über Gott und die Welt, über Bücher, besonders die offiziell unerwünschten, und genießen die sinnlichen Freuden. Das akademische Milieu sowie die sexuelle Freizügigkeit erinnern an den Bestseller Die Clique (1963) der US-amerikanischen Autorin und Frauenrechtlerin Mary McCarthy.

Die Handlung von Paduras Roman bestimmen im Wesentlichen Trennungen im Privaten und die dadurch geschlagenen Wunden. Die Motivgruppe der zerrissenen Familien – Väter, die sich aus dem Staub machen, Kinder, die traumatisiert zurückbleiben – bildet vor allem in der englischsprachigen Literatur von Charles Dickens bis John Irving und Jonathan Franzen fast ein eigenes Genre.

1989/90 findet der Zusammenbruch von Kubas sozialistischen Bruderstaaten in Europa in einer Krise des Clans sein Pendant. Gerüchte, dass sich auch in ihren Reihen ein Spitzel befindet, führen zu allerhand Verdächtigungen. Dann kommt einer aus ihrer Mitte unter ungeklärten Umständen ums Leben. Währenddessen verlassen nach und nach gleich mehrere aus dem Freundeskreis ihre Heimat, weniger aus politischen Gründen, sondern zumeist, um die neuen Möglichkeiten für die eigenen Interessen zu nutzen, aber auch aus ganz anderen Motiven. So verschwindet die junge Elisa, die schwanger ist, sich über den Vater ihres Kindes aber ausschweigt, sang- und klanglos von der Insel. In den USA baut sie sich unter einer neuen Identität eine Existenz auf. Ihre kleine Tochter wächst in dem Glauben auf, dass Mamas Lebensgefährte ihr Vater sei. Auch der Clan, der für den einen oder anderen der teils elternlosen jungen Leute so etwas wie Familienersatz bedeutet hatte, wird auseinandergerissen und die Einzelnen werden in alle Himmelsrichtungen verstreut, wie Staub im Wind. Der vorsichtige Optimismus, der ihre Gruppe früher zusammengehalten hatte, geht zusehends verloren. Zu den wenigen der einst unzertrennlichen Freunde, die Kuba nicht verlassen, gehört Clara, die von Anfang an der Dreh- und Angelpunkt der Gemeinschaft gewesen war. Zu ihrem dreißigsten Geburtstag 1990 hatte sich alle ein letztes Mal eingefunden. Ein Foto, das aus diesem Anlass entstand, wird Jahrzehnte später zum Auslöser, Klarheit in die irritierenden Ereignisse der Vergangenheit zu bringen. Clara fällt die Aufnahme in einem Moment der Verlassenheit in die Hände, als der Aufbruch ihres Sohnes ins Exil alte Wunden wieder aufreißt. Der Schnappschuss lag in einem eingestaubten Exemplar von Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984). Von der Handlung des Erfolgsromans, die verwickelte Liebesgeschichte von Teresa und Tomas vor dem Hintergrund des Prager Frühlings 1968, lassen sich Querverweise zur Lebenssituation der Kubaner ziehen. Die bahnbrechende Bildkomposition Pléiades (1921) des Surrealisten Max Ernst auf dem Buchumschlag zeigt eine Nackte „ohne Kopf, die in einer unbestimmbaren gasförmigen oder flüssigen Substanz“ schwebt. Clara erkennt sich „in dieser verstümmelten, ganz auf sich selbst gestellten Frau“ spontan wieder. Sie ist – zumindest in diesem Moment – kopf- und haltlos. Der Staub hat sich nicht nur über das Buch gelegt, sondern auch über die in der Vergangenheit nicht aufgearbeiteten Ereignisse. Indem Clara ihn wegwischt, lässt sie die Probleme wieder zum Vorschein kommen. Im Zusammenhang mit dem Berliner Mauerfall ist ebenfalls von Staub die Rede. Hier wird er aufgewirbelt, steht für Umbrüche und Unruhe.

Die Rockballade Dust in the wind (1977) der US-amerikanischen Band Kansas enthält den Vanitasgedanken und dient der Freundesgruppe als musikalisches Leitmotiv, „das ihnen ins Gedächtnis rief, was sie alle waren, was das ganze Leben ist: Dust in the Wind.“

Als eins der Gruppenmitglieder nach langen Jahren des Exils von Europa nach Havanna zurückkehrt, ist er schockiert über die Umstände, in denen er seine Mutter und Schwester vorfindet. Die vollkommen verrottete Wohnung, die er als „durchaus reizvoll, […] ein Zuhause“ in Erinnerung hatte, hat sich in ein übelst riechendes „Totenhaus“ verwandelt, in dem der alles bedeckende Staub die Macht übernommen hat.

 

Leonardo Padura

Como Polvo en el Viento

Tusquets, Editores. Barcelona 2020

Deutsche Übersetzung:

Wie Staub im Wind

Unionsverlag. Zürich 2022

Bildquelle: Cover

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