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Corcho Tabío, Bienvenido: Tela de araña (Spinnennetz)

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Bienvenido Corcho Tabio: Tela de arañaKubas Geschichte des 20. Jahrhunderts ist so komplex, dass man sie am einfachsten mit ein paar wenigen Worten beschreibt: Kanonenboot, Machado, Batista, Revolution, Kubakrise, Embargo, socialismo o muerte. Konstant bestehen blieben nur die Probleme – jeweils andere, aber immerhin. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung in den Bruderländern – ein weiteres großes Problem – schritt Kuba nunmehr allein voran. Für die Bevölkerung begann aber die schlimmste Phase der permanenten Revolution – die Spezielle Periode. Das Spezielle an dieser Zeit der Entbehrungen bestand in der Vielfältigkeit der Ideen, die die Bevölkerung entwickelte, um die Krise zu überstehen. Und obwohl sich Periode auf einen bestimmten, klar begrenzten  Zeitabschnitt bezieht, suchten die Kubanerinnen und Kubaner sicherheitshalber Überlebensstrategien gleich für länger. Socialismo o muerte – zwei schlechte Alternativen.

Der kubanische Schriftsteller Bienvenido Corcho Tabío hat sich in einem Erzählband dieser Epoche angenommen. In elf Kurzgeschichten zeichnet er ein mitunter zynisches Bild des Lebens auf der Insel. In „El Tronco“ (Der Baumstamm) beschreibt er etwa den Wandel der Zeit in einem Dorf, errichtet in den 70ern. Damals kam noch mehr als zehnmal täglich der Omnibus vorbei, brachte Touristen, und der Laden war gut sortiert. „Jetzt fuhr der Bus einmal den Berg hinauf, wenn es möglich war, der Laden bot nur noch das Nötigste, und die Bewohner mussten Brennholz suchen, um zu überleben“ (S. 20). Der Kampf des Protagonisten um einen Baumstamm, gegen Wespen, Stacheldraht und das schiere Gewicht, stand somit voll im Motto socialismo o muerte. Sein Triumph über die Natur, der für Tage die Versorgung des Herdes sicherte, war am Ende ein großer Sieg gegen den Tod.

In „Domingo“ (Sonntag) geht es um den ganz normalen Schwarzmarkt mit Lebensmitteln und Waren, die Schieberei mit Häusern, die Rolle der Polizei und des Komitees zur Verteidigung der Revolution (Comité de Defensa de la Revolución, CDR). Keiner betreibe Handel, um sich zu bereichern. Es wäre einfach die Notwendigkeit, für ein paar Tage die Probleme zu lösen. Und auch in „El tenedor del diablo“ (Die Gabel des Teufels) dreht sich alles darum, irgendwie satt zu werden, koste es, was es wolle, und sei es, dass dafür der welke Alte die Knospen der Jugend besabbert. Die 40 gesparten pesos helfen vielleicht an einem anderen Tag, den Magen zu füllen.

Eine der schönsten Geschichten im Buch ist „La trayectoria“ (Die Überfahrt). Bienvenido Corcho Tabío beschreibt darin einen Mann, der sich in der Kälte des Morgens aufmacht, um zu einer Genossenschaftsversammlung zu gelangen. Es ist 7:10 Uhr und das Meeting auf 8:00 Uhr angesetzt. Vor 8:30 Uhr geht es aber nie los. Wenn nur bald der Laster käme. Wo sind nur die ganzen Autos im Land geblieben? Wie ein Sonnenstrahl taucht der Lkw mit der offenen Ladefläche auf – 7:35 Uhr. Das Auto ist voll. Zwanzig Leute drängen sich im Nebel dicht zusammen. Der Mann muss unbedingt zu dem Treffen, auf dem der Chef wieder einmal von der Nichterfüllung des Planes sprechen wird. Das halten die Reifen nicht länger aus, schreit der Fahrer um 7:45 Uhr. Keiner will absteigen. Es geht weiter. Bei einer Vollbremsung reißt ihm die Dicke, die ihn an der Seitenwand fast zerquetscht, einen Knopf ab. Coño! 7:50 Uhr, der Laster schafft’s nicht mehr. Alle müssen schieben, Probleme mit dem Anlasser. Um 8:10 Uhr das nächste Malheur, las dos gracias, von diesem kleinen Schweinchen, voll auf die Hose. Endlich, um 8:25 Uhr, erreicht der Laster das Dorf. Beim Absteigen zerfetzt sich der Protagonist das Hosenbein. Echt ein schlechter Tag heute. Hoffentlich komme ich nicht zu spät, denkt er noch, als er endlich die Kooperative erreicht. Doch niemand ist da. Das stinkt, und es kommt nicht von der Hose. An der Tür findet er einen Zettel: Die Versammlung wurde auf nächsten Samstag verschoben. Der Chef. Das ist Kuba!, möchte man als Leser begeistert ausrufen.

Auch die Erzählung „Tela de araña“ (Spinnennetz) zeichnet überspitzt die Lage der Insel während der Speziellen Periode nach, als die Stromabschaltungen sogar die Züge erreichten. Die Protagonisten der Geschichte sitzen in orthopädisch korrekter Haltung auf den knochenharten Sitzen und behalten ihre kostbare Ladung im Dämmerlicht ständig im Auge. Sie schmuggeln diesmal Zigarren – und ein zerlegtes Schwein. Das bedeutet großen Gewinn, wenn sie es in Havanna verscherbeln. Aber es ist ein riskantes Unterfangen. Im Zug lauern nicht nur Diebe, sondern vor allem die Polizei und Inspektoren. Doch der größte Feind von allen ist die Zeit: Der Zug hat inzwischen viereinhalb Stunden Verspätung. Dann gehen da mal 40 Minuten verloren, dort mal 30, später ist die Lok kaputt, und währenddessen beginnt das Fleisch vor sich hinzugammeln, das sicher geglaubte Kapital zu zerrinnen. Endlich in Havanna angekommen, gehen sie Kriminellen auf den Leim. Sie verlieren alles. Aber nicht die Hoffnung. So etwas passiert halt im Leben. Bei der nächsten Fahrt werden sie jedenfalls alles richtig machen und den Gewinn vervielfachen.

Bienvenido Corcho Tabío (*1962) ist es mit dieser Sammlung von Erzählungen gelungen, ein facettenreiches Bild Kubas fernab der offiziellen Berichterstattung in den Medien zu zeichnen. Im Mittelpunkt stehen die kleinen Leute, ihr täglicher Kampf ums Überleben, ihre Suche nach neuen Wegen, ihre zum Teil verzweifelte Suche nach Einkommen. Obwohl der Autor die Entwicklung durchaus kritisch sieht, mitunter in zynischen Tönen die gesellschaftlichen Umstände schildert, ist er mit dem Herzen doch dem Land verbunden.

Das Buch “Tela de araña” bleibt allerdings ein Geheimtipp für Fans der kubanischen Literatur. Die Auflage ist gering. Es in Deutschland zu erstehen – ausgeschlossen. Der neugierige Leser wird wohl seine Fühler nach Kuba ausstrecken müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, es ins Spinnennetz zu holen.

Bienvenido Corcho Tabío
Tela de araña

Editorial Capiro,
Santa Clara/Kuba, 2009

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