Wie der Titel schon verrät, setzt sich das Buch mit der Geschichte einer kubanischen Musikerfamilie auseinander, deren akribische Rekonstruktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Karibikinsel beginnt und ca. am Ende des Zweiten Weltkrieges in New York endet. Der Band wurde von Olavo Alén Rodríguez und Gudrun Weber in neun Kapiteln unterteilt, von denen das erste der Beschreibung der Wurzeln der kubanischen Musik im kolonialen Kontext zwischen dem 16. und 19. Jh., wo die Einführung europäischer und afrikanischer Musikinstrumente und Rhythmen zusammenfällt, gewidmet ist. Das zweite Kapitel ergänzt diesen Überblick, indem es weitere kontextuelle Informationen liefert. Die AutorInnen plädieren dafür, dass einer der wichtigsten Faktoren, die die Entstehung eines kulturellen ggf. musikalischen Umfelds in einigen Regionen der Insel ermöglichten, der wirtschaftliche Wohlstand sei. Während also der Bau von Konzertsälen und Musikschulen europäischer MusikdozentInnen zunächst anzog, führten sie anschließend zur Ausbildung einheimischer KünstlerInnen und KomponistInnen.
Ausgehend von den ersten beiden Abschnitten befasst sich nun das dritte Kapitel mit dem Leben der afrokubanischen Jiménez – zunächst mit dem des Geigers José Julián Jiménez (Trinidad, 1828). Hier beginnt man eine Reise durch die Stationen, die der erste (berücksichtigte) Musiker der Saga durchläuft. Dieser bekam die Gelegenheit, zwischen 1853–1854 eine Studienreise nach Deutschland, und zwar nach Leipzig. In diesem Abschnitt, wie auch in den darauffolgenden Kapiteln, stützen sich Alén Rodríguez und Weber auf so genannte Primärquellen, in diesem Fall Archivalien und andere Dokumente, die einerseits die Grundlage für eine fundierte Recherche bilden und andererseits dabei helfen, sich dem Zeitgeist zu nähern. Kann man sich das Leben eines schwarzhäutigen kubanischen Studenten in Leipzig der Mitte des 19. Jahrhunderts vorstellen? Im vierten Kapitel treten zwei Musiker der nächsten Generation auf den Plan, der Cellist Nicasio Jiménez (Trinidad, 1847) und der Pianist José Manuel Jiménez (Trinidad, 1852), die ebenso wie ihr Vater die Möglichkeit haben, ihre musikalische Ausbildung zwischen 1867 und 1875 in Deutschland fortzusetzen. Nach einer einleitenden Beschreibung der akademischen und beruflichen Tätigkeit der (drei) Musiker, wird deutlich, wie es dem Vater und den Söhnen gelingt, erfolgreich in die Musikwelt deutschland- und europaweit einzutreten.
Das fünfte Kapitel setzt sich mit der Frage des „Exotismus“ auseinander – insofern als eine Erklärung für die relativ schnelle, große Aufmerksamkeit, die die Musiker erhielten. Wurden die Musiker aufgefordert, öffentlich aufzutreten, (nur) weil sie „anders“ aussahen? Die AutorInnen zeigen anhand von Originaldokumenten (u.a. Lehrerprotokollen, Aufführungsbesprechungen), wie die Jiménez die Chance nutzen konnten, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Dies zeigt sich beispielsweise im Fall des Pianisten, der Anfang der 1870er Jahre ausgewählt wurde, um zu Ehren von keinem geringeren als (im Saal anwesenden) Franz Liszt – dem wohl größten Pianisten aller Zeiten – aufzutreten. Das Trio trat seinerseits zum 60. Geburtstag Richard Wagners auf, der schon damals nicht gerade für seine Toleranz bekannt war.
Dies wird auch im sechsten Kapitel deutlich, als die Spuren der Jiménez verfolgt werden, die sich nun in Frankreich niedergelassenen haben. Auch hier demonstrieren die AutorInnen das Gleichgewicht zwischen Exotik und Talent der Kubaner, etwa wenn von der Tätigkeit der Musiker bei exzentrischen Veranstaltungen im Wasserschloss Chenonceau berichtet wird, und andererseits, als man erfährt, dass beispielsweise José Manuel Jiménez bereits im ersten Jahr am Pariser Konservatorium die besten Leistungen seines Jahrgangs erreichte – und dabei sogar seinen Kommilitonen Claude Debussy hinter sich ließ.
Nach dem Tod des Cellisten Ende der 1870er Jahre, kehrten Vater und Sohn nach Kuba zurück. Diese Phase, die im Mittelpunkt des siebten Kapitels steht, wird von den Alén Rodríguez und Weber zum Anlass genommen, um zu thematisieren, wie der Minderheitencharakter der Bevölkerung afrikanischer Herkunft damals in Europa (eher) zu Exotismus führen konnte, während sich der proportional größere Zahl von Sklaven afrikanischer Herkunft im Karibikraum ausschließlich auf äußerst negative Weise manifestierte – und zwar in Form einer Art Apartheid. Diese soziopolitische Lage gibt den Weg frei für das achte Kapitel, in dem sich der Pianist José Manuel entschied, nach Deutschland zurückzukehren. Neben weiteren biographischen Elementen – der Pianist gründet eine Familie – liefert der Abschnitt eine Beschreibung seiner kompositorischen Tätigkeit, die eine sehr interessante musikwissenschaftliche Analyse seiner Kompositionen darstellt und eine Aufstellung der Gesamtwerke sowie Kommentare von zeitgenössischen Kritikern enthält.
Das neunte und letzte Kapitel befasst sich mit der dritten Generation der Jiménez, Adolfo Manuel Wilhelm, Manuela Andrea Mathilde und Andrea Minna Emma, von denen die ersten zwei sich für Musik interessieren – so wird Adolfo (Hamburg, 1899) zum Amateur-Cellisten, während Manuela (Hamburg, 1900) als professionelle Pianistin ausbildet wurde und nach dem Tod ihres Vaters sogar dessen MeisterschülerInnen übernahm. Wie in den vergangenen Kapiteln zeigt sich auch hier, dass die Jiménez sich dem politisch-kulturellen Kontext ihrer Zeit nicht entzogen. So durchläuft ihr Leben weitere Wechselfälle wie u.a. die Abschaffung der Sklaverei, die kubanische Unabhängigkeit, die Franco-Diktatur in Spanien, die Machtergreifung der Nationalsozialisten und den Holocaust. Auch wenn die Biographie des jüngsten der drei Kinder von José Manuel, Andrea (Minna Emma) Manga Bell (geb. Jiménez in Hamburg, 1902), außerhalb der Musikwelt angesiedelt ist, erweist sich diese als nicht weniger „filmisch“: Ihre Ehe mit einem kamerunischen Prinzen, ihre Tätigkeit als Schauspielerin in Berlin, der erlebte Rassismus seitens ihrer Schwiegereltern, weil sie „nicht schwarz genug“ ist, ihr Leben zusammen mit ihrem zweiten Ehemann, dem jüdischen Schriftsteller Joseph Roth im Pariser Untergrund während der Nazi-Okkupation, und die Inspiration für die Figur der Juliette Martens in Klaus Manns berühmten Roman Mephisto.
Olavo Alén Rodríguez und Gudrun Weber rekonstruieren gründlich und zugleich in einem unterhaltsamen Stil das Leben und Wirken dieser Musikerfamilie: Sie spüren den Jiménez in zahlreichen Archiven und Bibliotheken sowie in anderen Publikationen (z.B. Biographien anderer zeitgenössischen KünstlerInnen) nach, besuchen Orte in Deutschland, Frankreich und Kuba, an denen sie lebten oder auftraten, und überprüfen außerdem Informationen die von anderen AutorInnen veröffentlicht wurden. Zusätzlich zu den zahlreichen Abbildungen (u.a. historische und aktuelle Bilder, Gemälde, Stadtpläne, Zeitungsausschnitte), die die Kapitel enthalten und man bei der evokativen Aufgabe helfen, die jedes Werk historischen Charakters verlangt, findet sich im Buch eine Anhang mit weiteren Dokumenten (u.a. Zeugnisse, Konzertankündigungen, Programme), Transkriptionen von weiteren Zeugnissen, Ankündigungen und Kritiken zu öffentlichen Auftritten im Zeitraum 1869–1933 und Wohnadressen der Jiménez in verschiedenen Ländern sowie Kurzbiographien von im Buch erwähnten Personen. Zwischen Kuba und Deutschland stellt, kurz gesagt, ein mit wissenschaftlicher Strenge und Engagement konzipiertes Buch dar, das dem Andenken an diese außergewöhnliche Familie gerecht wird und sowohl das Fachpublikum als auch die breite Öffentlichkeit einlädt, ihr Leben und Werk (wieder) zu entdecken.
Olavo Alén Rodríguez / Gudrun Weber
Zwischen Kuba und Deutschland – Leben und Wirken der kubanischen Musikerfamilie Jiménez
WeltTrends. Potsdam 2021, 249 Seiten