Die Erfahrungen des Exils zwischen Eltern-und Kindergeneration trennen Welten, glaube ich. Die Kinder mussten sich schnell in den neuen Orten einleben, und im Grunde genommen machten die Kinder dasselbe wie die Kinder im Herkunftsland: zur Schule gehen und lernen. Die Eltern waren in einer anderen Situation, und viele von ihnen haben leider die Sprache des Gastlandes nicht gelernt. Meine Mutter bereut das bis heute, wie viele andere ihrer Exilgeneration. Sie lebten in einer Art Blase mit bereitgestellten Koffern, falls sie demnächst wieder nach Chile einreisen konnten, was natürlich nicht der Fall war. Den Koffer, diesen symbolischen Koffer haben sie, glaube ich, nie ausgepackt. (Alvaro Camú)
Zum Thema Exil, speziell zum unfreiwilligen Aufenthalt außerhalb des Herkunftslandes, gibt es in Deutschland eine breite Forschung; das ist der deutschen Geschichte geschuldet. Auch das chilenische Exil ist kein ungewöhnliches Thema in Publizistik, Wissenschaft und Literatur. Das Schicksal von Kindern im Exil fand und findet dabei kaum Beachtung. –
Die Idee, sich mit den Kindern des chilenischen Exils in Deutschland zu beschäftigen, stammt von dem Filmemacher Thomas Grimm. In zweijähriger Arbeit ist schließlich ein Interview-Film entstanden, in dem ChilenInnen die Geschichten ihres Exils in einem der beiden Deutschlands erzählen. Die unkommentierten Erinnerungen werden ergänzt durch Informationen über politische Ereignisse vor, während und nach dem Militärputsch in Chile. Für den Film, so schreibt Grimm, seien insgesamt 25 Personen interviewt worden, darunter auch deutsche HelferInnen.
Der 90-minütige Film „9/11 Santiago – Flucht vor Pinochet“ wird begleitet von einem von der Bundeszentrale herausgegebenen Buch gleichen Titels. Im Buch werden 12 Interviews dokumentiert: vier mit „westdeutschen“ und acht mit „ostdeutschen“ Kindern. Wodurch diese Diskrepanz zustande gekommen ist, wird leider nicht aufgeklärt. Neben den Interviews mit den ProtagonistInnen enthält auch das Buch Material zu den historischen Hintergründen des Putsches: Portraits von Salvador Allende und Augusto Pinochet, eine Auflistung der ersten 40 Maßnahmen der Allende-Regierung, eine Darstellung der Verstrickung der CIA in den Putsch, die Ereignisse in der Moneda am 11. September 1973, Allendes letzte Rede sowie die Geschichte ihrer Rettung. Darüber hinaus finden sich noch Interviews mit Deutschen, die in der Solidaritätsbewegung aktiv waren, ein Text von Pavel Eichin (ein Exil-Kind) und wissenschaftliche Texte über das chilenische Exil in den beiden deutschen Staaten sowie über die Auswirkungen des Exils auf die familiale Lebensführung der Chilenen. Ein Bericht über die Entstehung des Films rundet das Ganze ab.
Vor allem der Text der Soziologin Leonor Quinteros Ochoa, die übrigens zu den interviewten Exil-Kindern gehört, sehe ich als große Bereicherung für das Buch. Die Autorin beschäftigt sich mit der familialen Lebensführung der ExilantInnen und beleuchtet dabei explizit auch die Rolle der Kinder in den Familien.
Der Text von Quinteros Ochoa ist nicht für dieses Buch entstanden, doch liefert er eine sehr gute Synthese der Ausführungen der Exilkinder. Er ist gewissermaßen der Kommentar zu ihren Erinnerungen.
Das Exil zwang die Kinder, früh selbstständig zu sein und viele Bereiche ihres Lebens selbst zu organisieren. Zum einen, weil die Eltern aufgrund ihrer intensiven politischen Arbeit oft abwesend waren und damit als Ansprechpartner für die Kinder nicht zur Verfügung standen. Zum anderen wurden die Kinder auch aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse der Eltern zu Vermittlern zur deutschen Gesellschaft; sie übersetzten in der Schule, beim Arzt und bei Behörden. Darüber hinaus wuchsen die Heranwachsenden, direkt oder vermittelt, mit der Verantwortung auf, ihren Beitrag für eine schnelle Rückkehr nach Chile zu leisten, z.B. mit der aktiven Teilnahme an Solidaritätsaktionen. Gleichzeitig sollten sich die Kinder aber anständig verhalten, um kein negatives Bild von den Chilenen zu vermitteln und sich dankbar für die Solidarität zu zeigen. Diese Ermahnung galt im Osten wie im Westen.
Chilenische Familien im Exil lebten häufig sprichwörtlich auf gepackten Koffern, was auch das Bewusstsein einschloss, sich nicht zu sehr für das neue Land zu öffnen, sich nicht zu stark zu integrieren, da man sowieso nicht lange bleibe. In der festen Überzeugung, das Exil sei schnell zu Ende, vermieden oder verweigerten die Eltern nicht selten das Erlernen der deutschen Sprache.
Das Ziel einer möglichst geringen Integration funktionierte bei den Kindern nicht ganz so wie geplant, sie arrangierten sich trotz aller Schwierigkeiten schneller mit der neuen Umgebung, lernten schnell Deutsch und hatten neben chilenischen auch deutsche Freunde.
Meine Gefühlswelt, meine Schutzwelt war mehr die Schule, die Freunde, der Alltag außerhalb von zu Hause. (Camilo Pereda; S. 157)
Trotzdem verwandelten wir uns ganz schnell in DDR-Kinder. (Claudia Perelman; S. 144)
Gleichzeitig lebten sie quasi zwischen den Fronten, dem Herkunftsland auf der einen und dem Aufnahmeland auf der anderen Seite
In diesem Alter, von 13 bis 17 Jahren, war ich weg vom Chilenischen. In der Phase bin ich in die deutsche Welt reingerutscht. (Andrea Muñoz; S. 181)
Ich bin eine Mischung. Eine Hälfte von mir fühlt sich als Deutsche, die andere Hälfte als Chilenin. Aber ich fühle mich nicht wie eine typisch chilenische Frau, ich fühle mich viel mehr wie eine typisch deutsche Frau. Und ich bin schon seit vierzig Jahren wieder hier in Chile. (Claudia Perelman; S. 149)
Diese Zerrissenheit wirkt bis heute nach. Ein Großteil der befragten Exilkinder, so heißt es im Buch, war oder ist in therapeutischer Behandlung. Die Erfahrung des Exils beherrscht ihr Leben bis heute. Camilo Pereda, der als Vierjähriger in die DDR kam, brachte das auf den Punkt, als er sagte:
Das Exil ist fürs ganze Leben, das hört nicht auf.
So ähnlich die grundlegenden Erfahrungen der Exil-Kinder in Ost- und Westdeutschland auch gewesen sind, die Aufnahme der ChilenInnen erfolgte in den beiden Ländern nach völlig unterschiedlichen Regeln. Deshalb soll an dieser Stelle noch auf wichtige Aspekte des chilenischen Exils in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik eingegangen werden.
Die Solidaritätsbewegung mit Chile in Westdeutschland wurde vor allem von der Zivilgesellschaft getragen. Nach dem Putsch entstanden schnell Solidaritätsgruppen in den Kirchen, Gewerkschaften, studentischen Kreisen und linken politischen Parteien und Gruppierungen sowie Amnesty International. Es war nicht zuletzt ihnen zu verdanken, dass schlussendlich ca. 7.000 Chilenen Asyl gewährt wurde.
Die Bundesregierung zeigte unmittelbar nach dem Putsch kein großes Interesse daran, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie erkannte das diplomatische Asyl nicht an; die Botschaft der Bundesrepublik in Chile nahm daher zunächst auch keine Flüchtlinge auf. Politiker, vor allem der CDU/CSU, äußerten unverhohlen ihre Sympathien für die Militärjunta und westdeutsche Geheimdienste arbeiteten offensichtlich mit den chilenischen Militärs zusammen. Erst im Oktober 1973 entschloss man sich offiziell, gefährdete ChilenInnen aufzunehmen. Doch wurde dafür zunächst eine Kommission gegründet. Diese „reiste Anfang November nach Santiago und führte Befragungen über die potentielle Arbeitsfähigkeit und -willigkeit sowie die politische Gesinnung durch“. (Scharrer, S. 4) Und auch als Mitte der 1970er Jahre die offizielle Aufnahmeaktion verlängert wurde, gab es klare (Ausschluss)Kriterien. Aufgenommen wurden nur Inhaftierte mit einem rechtskräftigen (!) Urteil. Die Haftstrafe durfte allerdings weder zu kurz noch zu lang sein; eine Haftstrafe unter 2 Jahren verhieß sowieso eine baldige Freilassung und war daher den Aufwand eines Asylverfahrens nicht wert, während eine Strafe von mehr als zehn schon ihren Grund haben wird. Mitglieder der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) wurden prinzipiell nicht aufgenommen. Ein Asylverfahren dauerte, auch im Verhältnis zu anderen westlichen Ländern, sehr lange: zwischen neun und zwölf Monaten.
Im Gegensatz dazu wurde die Ankunft chilenischer EmigrantInnen in der DDR nachgerade generalstabsmäßig vorbereitet und durchgeführt – von der Regierung. Im Vorfeld erfolgte sogar die Anpassung von gesetzlichen Regelungen, um das Leben dieser doch recht großen Gruppe von Emigranten möglichst reibungslos organisieren zu können. Die DDR-Botschaft in Chile, die bereits wenige Tage nach dem Putsch ihren Dienst als Botschaft einstellte, nahm weiterhin Flüchtlinge auf. Später übernahm die finnische Botschaft die Funktion einer Schutzmacht über die verbliebenen Botschaftsmitarbeiter und damit auch über die Chilenen im Botschaftsasyl. Die Flüchtlinge, die schließlich in die DDR einreisten, bekamen Wohnungen, günstige Kredite, Deutschunterricht wurde organisiert. Für die Kinder standen schnell Schul- und Kindergartenplätze zur Verfügung. Chilenische Kinder erhielten zusätzlich Unterricht u.a. in ihrer Muttersprache und chilenischer Geschichte.
Aber auch in der DDR gab es klare Auswahlkriterien: Asylberechtigt waren im Prinzip fast ausschließlich bedrohte Mitglieder der Parteien der Unidad Popular. Die größte Gruppe der ca. 2.000 chilenischen Exilanten in der DDR stellten die Mitglieder der Kommunistischen und Sozialistischen Partei und deren Jugendorganisationen. Aber auch Miristas, Mitglieder des MIR, der nicht der UP angehörte, fanden Asyl in der DDR.
Das Ungewöhnlichste war zweifellos die Tatsache, dass man den chilenischen EmigrantInnen quasi eine (wenn auch kontrollierte) Selbstverwaltung erlaubte. Das Comité Chile Antifascista (CHAF) hatte, und da mag die SED eine noch so große Neigung zur Einmischung gezeigt haben, weitreichende Befugnisse bei der Organisation des Lebens der chilenischen ExilantInnen in der DDR. Im Buch werden die Maßnahmen der DDR und die Arbeit des CHAF ausführlich referiert und auch mit Dokumenten belegt. Peter Sobieski, der als einziger ostdeutscher Helfer befragt wurde, gibt darüber kompetent Auskunft.
Was m.E. fehlt, ist der systematische Blick auf die nichtstaatliche Solidarität mit den exilierten ChilenInnen in der DDR. In den Erinnerungen der Kinder klingt diese sehr stark an. Für sie ersetzten diese Kontakte mit „normalen“ DDR-BürgerInnen – Lehrer, Eltern von Mitschülern, Nachbarn – mitunter die fehlenden Kontakte zu den Eltern, die aufgrund ihrer politischen Arbeit häufig abwesend waren. Doch die AutorInnen sparen diesen Aspekt weitgehend aus. Die Ausführungen darüber, dass die Integration in der DDR schwierig gewesen sei, weil es kaum nicht organisierte Kontakte zur DDR-Bevölkerung gegeben habe und die ChilenInnen ähnlich den Vertragsarbeitern „von der DDR-Bevölkerung abgeschlossen“ (Gabriele Eissenberger; S. 241) gelebt hätten, kann man getrost im Fach Ideologie ablegen. Schon allein die Aussagen der interviewten Kinder widerlegen diese Darstellung.
Wir hatten eine deutsche Oma, die kam jeden Freitag um 17 Uhr mit einem Kuchen vorbei. (Claudia Perelman; S 144)
Aber wir haben als Chilenen im Prenzlauer Berg große Unterstützung bekommen von den Leuten in unserer Straße. (Paulo San Marin; S. 117)
Eissenbergers Ausführungen zum Exil in der DDR sind generell schlagwortartig, verkürzend und merkwürdig wertend. So schreibt sie, in den 1980er Jahren „verließen die Chilenen die DDR und gingen sogar zurück nach Chile, wo Pinochet noch an der Macht war“. Was möchte uns die Autorin damit sagen? Dass Pinochet gegenüber der DDR das kleinere Übel war? Oder dass die ExilantInnen einfach so schnell wie möglich nach Hause wollten, nachdem sie das berüchtigte „L“ nicht mehr in ihrem Pass hatten?
Ja, viele ChilenInnen, vor allem KünstlerInnen und Intellektuelle, wollten die Enge und Borniertheit der DDR schnell wieder verlassen, was von deren Führung nicht gern gesehen wurde. Aber was bedeutet das im Kontext dieses Buches? In diesem werden nur zwei Fälle einer entgegensetzten Migrationsbewegung geschildert; also der Einreise in die DDR nach dem Aufenthalt in der BRD bzw. in Schweden. In beiden Fällen sollte die Übersiedlung dem Wohl der Kinder dienen.
Thomas Grimm (Hrsg.)
9/11 Santiago – Flucht vor Pinochet. Kinder des chilenischen Exils in Deutschland
Bundeszentrale für politische Bildung 2023
9/11 Santiago – Flucht vor Pinochet
Drehbuch und Regie: Thomas Grimm
Zeitzeugen TV Film- und Fernsehproduktion GmbH 2023. 90 Min.
Weitere Quellen:
Scharrer, Nicole: Chilenisches Exil und Solidarität in der Bundesrepublik. www.menschenrechte.org (letzter Zugriff: 8.2.2024)
Bilder: [1] CoverScan [2, 3] Snapshots