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Guzmán, Patricio: Das Land meiner Träume

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Eine Erhöhung der Tarife für den öffentlichen Nahverkehr in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Tausende von Studenten gehen auf die Straße, um zu protestieren, und werden von den Sicherheitskräften brutal unterdrückt. Die Proteste eskalieren, und was mit der Besetzung einer U-Bahn-Station beginnt, entwickelt sich zur größten sozialen Demonstration in der Geschichte des südamerikanischen Landes – schätzungsweise 1,2 Millionen beteiligte Demonstranten. Der damalige Präsident Sebastián Piñera, dessen persönliches Vermögen von Forbes auf 2,9 Milliarden US-Dollar geschätzt wird1, kündigte an, dass er sich einem „Krieg“ gegenübersieht. Nachdem der Notstand ausgerufen wurde, wird zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1990 die Armee zur Repression geschickt. Die Grausamkeit und der Missbrauch durch die Sicherheitskräfte, die dabei eingesetzt wurden, wurde mittlerweile von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International untersucht und angeprangert.2

Das Land meiner Träume, der neue Film des chilenischen Regisseurs Patricio Guzmán (Santiago de Chile, 1941), der am vergangenen 13. April in Deutschland Premiere hatte, dokumentiert den sozialen Aufstand, der am 18. Oktober 2019 begann und im März 2022 zur Machtübernahme des derzeitigen Präsidenten Gabriel Boric führte. Wie der uruguayische Liedermacher Daniel Viglietti sang, zeigt Guzmán, wie «aus dem Funken eine Lohe wird». Was mit einer punktuellen Mobilisierung in der Hauptstadt begann, verwandelte sich innerhalb weniger Tage in Massendemonstrationen im ganzen Land, bei denen u. a. eine gute Bildung, ein öffentliches Gesundheitswesen, soziale Sicherheit, Wohnraum, menschenwürdige Arbeit, angemessene Renten, Chancengleichheit und Gleichstellung der Geschlechter gefordert wurden. Das gesellschaftliche Unbehagen, das sich seit dem Staatsstreich gegen den demokratischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973 angesammelt hatte und das sich kommenden 11. September zum 50. Mal jährt, manifestierte nicht nur die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Regierung Piñeras, sondern stellten auch die gesamte politische Klasse und die bisherigen Formen der politischen (Un)Beteiligung in Frage.

Wie der Filmtitel verrät, schildert Guzmán auf persönliche Weise die gesellschaftspolitische Tragweite des sozialen Aufstands: das Erwachen der chilenischen Gesellschaft zu der Notwendigkeit, ein gerechteres Land aufzubauen, und zwar auf einer neuen partizipativen Grundlage. Für den Filmemacher, der nach dem Coup d’etat Augusto Pinochets sein Land verlassen musste und seitdem in Frankreich lebt, ist es unvermeidlich, Parallelen zu jenem anderen Aufschwung zu ziehen, den die sozialistische Regierung Allendes repräsentiert, die damals durch die Bombardierung des Regierungsgebäudes La Moneda beendet wurde. In diesem Sinne plädiert er dafür, dass dies eine zweite Revolution darstellt, mit dem Unterschied, dass im Zentrum des 2019 eingeleiteten Prozesses keine politischen Parteien mehr stehen, sondern ein neues kollektives Subjekt, das bis dahin von der politischen Arena ausgeschlossen war. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass die Übersetzung des Titels ins Deutsche den Standpunkt des Regisseurs unterstreicht, während gleichzeitig die Botschaft des Originaltitels, der sich vielmehr auf die schöpferische Fähigkeit des chilenischen Volkes bezieht, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, in den Hintergrund tritt.

Die vom Regisseur eingefangenen Bilder wecken in hohem Maße Erinnerungen an die sozialen Unruhen, die sich Ende 2001 auf der anderen Seite der Anden ereigneten, als partielle Proteste der argentinischen Mittelschicht zur Wiedererlangung ihrer Bankguthaben (der sogenannte Corralito) unter dem Slogan „Lasst sie alle gehen“ die Notwendigkeit eines Wechsels der gesamten politischen Klasse deutlich machten und sogar zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa führten. Während in Argentinien das Misstrauen gegenüber der politischen Schicht nach Jahren neoliberaler politischer Maßnahmen und infolge der wirtschaftlichen Krise zur Entwicklung von Bürgerbeteiligung und zur Bildung horizontaler politischer Initiativen (wie u. a. Nachbarschafts- und Studentenversammlungen, Betriebe ohne Chefs, Piquetero-Bewegungen und Tauschmärkte) führte, zeigt dieser Film, wie in Chile die Proteste die Frage nach der Notwendigkeit einer Neugründung des chilenischen Staates in den Vordergrund stellten.

In diesem Zusammenhang wird gezeigt, wie die Selbstorganisation der Demonstranten und die Bildung von Versammlungen es unter anderem ermöglichten, die Kluft zwischen dem gewünschten Land und dem, das sich in der Verfassung widerspiegelt, zu erkennen. So wurde die grundlegende Neufassung der Magna Carta zu einem Vorschlag für eine tiefgreifende Reform des Landesmodells. Obwohl die chilenische Verfassung bereits 2005 während der Regierung Ricardo Lagos (2000-2006) teilweise überarbeitet wurde, basiert sie im Wesentlichen auf dem Text, der 1980 unter der Pinochet-Diktatur verabschiedet wurde – bezeichnenderweise am Jahrestag der Auflösung der Abgeordnetenkammer.

Knapp ein Jahr nach Beginn der Proteste wurde ein Plebiszit zur Reform der Verfassung mit beinahe 80% der Stimmen angenommen. Anhand von Interviews mit Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung und kurze Aufnahmen einiger Sitzungen, in denen ein Verfassungsvorschlag ausgearbeitet wurde, dokumentiert der Film diesen historischen Moment der chilenischen Demokratiegeschichte. Ungeachtet der Tatsache, das Das Land meiner Träume zwei Wochen vor dem neuen Plebiszit über die Annahme dieses Verfassungsvorschlags Premiere hatte, dessen Ergebnis ein klares Nein (62%) war und dass das Kinopublikum diese Information heute wahrscheinlich schon kennt, gelingt es dem Film, Hoffnung auf die Konstruktion einer anderen möglichen Zukunft zu vermitteln. Nicht nur die Möglichkeit, von einem anderen System zu träumen, sondern auch die Sichtbarkeit der Hauptursache, auf der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und soziale Ausgrenzung beruhen: die Konzentration der Macht in den Händen einer elitären politischen Klasse, die seit langem die Volksmehrheiten unterdrückt und instrumentalisiert, sowie ein eindeutig patriarchalisches Staatsmodell, dass das Entstehen von Alternativen stets unterdrückt und im Keim erstickt. Dies wird vom Regisseur zum Ausdruck gebracht, nicht nur durch Interviews und Aufnahmen bei Demonstrationen, sondern auch durch die Wahl derjenigen, die vor der Kamera sprechen: Frauen.

Guzmán bedient sich auch hier der Techniken, die im Laufe der Jahre zu seinem Markenzeichnen geworden sind und die insbesondere die Filme der so genannten chilenischen Trilogie (Nostalgie des Lichts, Der Perlmuttknopf und Die Kordillere der Träume) charakterisieren. So machen die Einbeziehung von Gesprächen und Archivmaterial, von auf der Straße aufgezeichneten Sequenzen oder die Beschreibung von Fotografien, vor allem aber der Einsatz seiner eigenen warmen Voice-Over-Stimme und die poetische Verwendung von Metaphern diesen Film zu einem großen Werk – sowohl in ästhetischer Hinsicht als auch als Instrument der politischen Bildung und Sensibilisierung.

Kurzum, wie gesagt: ungeachtet der Irrwege, die die 2019 begonnenen sozialen Mobilisierungen bisher genommen haben und der Ungewissheit, ob strukturelle Veränderungen in Chile tatsächlich erreicht werden können, stellt der Das Land meiner Träume ein gelungenes Dokument über die immer wieder auftauchende Möglichkeit dar, ein gerechteres und inklusiveres Land zu imaginieren – und sich an dessen Aufbau zu beteiligen.

 

Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume

Regie: Patricio Guzmán

Chile/Frankreich 2022, 83 Min.

 


 

2 https://www.amnesty.org/en/documents/act30/6384/2023/en/ (Abruf 13.04.23)

Bildquellen: [1, 2] ScreenSchots

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