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La memoria de los huesos: Dokumentarfilm von Facundo Beraudi

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

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Im Rahmen der diesjährigen 9. Lateinamerikanischen Tage Leipzig/Halle wurde am vergangenen 18.10. einmalig der Dokumentarfilm La memoria de los huesos (dt.: Das Gedächtnis der Knochen) gezeigt. Der Dokumentarfilm, der von dem argentinischen Regisseur Facundo Beraudi gedreht und bereits 2016 in Argentinien vorgestellt wurde, begleitet das Equipo Argentino de Antropología Forense (EAAF) (dt.: Argentinisches Team für forensische Anthropologie) bei Forschungen in El Salvador und Argentinien. Das EAAF ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich dem Wiederfinden und der Identifizierung vermisster Personen, sogenannter desaparecidos, sowie der Dokumentierung von Spuren, die zur Aufklärung von Verbrechen beitragen und als Beweis vor Gericht dienen werden, widmet. Seit seiner Etablierung als Team in den Jahren unmittelbar nach der Rückkehr zur Demokratie in Argentinien, hat das EAAF Forschungen nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen, afrikanischen- und osteuropäischen Ländern durchgeführt.

Im Film werden einerseits die verschiedenen Arbeitsphasen einer forensisch-anthropologischen Forschung gezeigt: die Kombination von Informationen, Grabungs- und Laborarbeit, Rückführung der Überreste, Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen und der Justiz. Andererseits wird die dringende Notwendigkeit der Personen, etwas über das Schicksal ermordeter und seit Jahrzehnten vermissten Angehörigen zu erfahren, geschildert. Anhand Interviews gelingt es dem Regisseur darzustellen, wie das Wiederfinden und die würdevolle Bestattung von ermordeten Angehörigen dem Suchen ein Ende setzt. Dadurch wird der Beitrag, den die forensisch-anthropologischen Forschung zum individuellen Trauerprozess leistet, deutlich dargestellt.

Doch auch wenn die Spieldauer eines Dokumentarfilms – Claude Lanzmanns Shoa ausgeschlossen – begrenzt sein muss, und daher können nur bestimmte Aspekte eines Themas berücksichtigt werden, trägt die ausschließliche Beschränkung Beraudis auf den individuellen- und Familienbereich nur zu einem allzu partiellen Verständnis des Hintergrunds bei. Am Beispiel Argentiniens ruft derartige Beschränkung die sogenannte „Theorie der zwei Dämonen“ in Erinnerung, wobei die unbeteiligte Bevölkerung plötzlich von einem Krieg zwischen zwei gegnerischen Gruppen – den Militärs und den AktivistInnen – überrascht wurde. Anhand offizieller Angaben ließ die argentinische Junta von 1976 bis 1983 ca. 30.000 Personen aus politischen Gründen entführen und ermorden, welche zum größten Teil immer noch nicht aufgefunden und identifiziert werden konnten. Im Film beschränken sich diese Ereignisse jedoch auf die von einer paramilitarischen Gruppe durchgeführte Entführung eines Elternteils und das erzwungene Leben der Angehörigen mit der unerträglichen Frage nach seinem Schicksal.

In El Salvador, dem zweiten dargestellten Fall, wird bloß gezeigt, dass Bombenflugzeuge eines Tages am Himmel auftauchten und ihre Ladung fallen ließen. Anhand dieser kontextlosen Darstellung kann man zu dem Schluss kommen, dass die Bombardierung der Zivilbevölkerung keine politische Maßnahme des Militärregimes darstellt, sondern eher eine unvermeidliche Naturkatastrophe, welche zwischen 1980 und 1991 knapp 70.000 Tote hinterließ. Sowohl die Trauer der Hinterbliebenen als auch die Wirkungen der archäologischer Ausgrabungen und nicht zuletzt menschlicher Überreste liefern Bilder, welche zweifelsohne attraktiv für das Publikum sind. Die allzu unzureichende Darstellung der Zusammenhänge, in denen politisch motivierte Ereignisse stattfanden, führt letztendlich zur unwissentlichen Banalisierung der Ereignisse.

Auch wenn das individuelle Umgehen der Familienangehörigen mit der Trauer unumgänglich ist, handelt es sich bei dem Staatsverbrechen um Maßnahmen, welche durchgeführt wurden, um die breitere Bevölkerung einzuschüchtern. Das Wiederfinden der sterblichen Überreste von Vermissten schließt zwar die Geschichte der Familienangehörigen – insbesondere der Kinder, die kaum Erinnerungen an ihre entführten Eltern behalten konnten – an. In diesem Sinne wecken „die Knochen“ ein persönliches, individuelles Gedächtnis. Doch rufen diese, als menschliche Überreste von Personen, die durch einen Einsatz der Luftwaffe zum Opfer fielen bzw. im Auftrag offizieller Behörden entführt, gefoltert, umgebracht und in einem Massengrab versteckt wurden, ein breiteres Gedächtnis in Erinnerung, welches die ganze Bevölkerung betrifft.

Gewiss resultiert die Wahrnehmung sozialer Probleme als eher individuelle aus einer biopolitischen Maßnahme, die letztlich dazu dient, kritische Vergesellschaftungsprozesse wirksam abzuschrecken. Die fehlende Thematisierung des politischen Rahmens eines Staatsverbrechens bzw. einer ethnisch-politischen Säuberung behindert die Möglichkeit einer Aufarbeitung der Geschichte. Gerade diesem Zweck hätte der Dokumentarfilm mit seiner Teilnahme an einem internationalen, gut besuchten Filmfestivals dienen können.

 

La memoria de los huesos

Regie: Facundo Beraudi

Argentinien 2016, 78′.

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