Die Demokratie in Argentinien wird wiederhergestellt, neun Anführer der Militärjunta werden aufgrund der von ihnen verübten Verbrechen während der Militärdiktatur (1976-1983) vor Gericht gebracht. Mit dieser Herausforderung betraut, die nicht nur im Rahmen der Justiz des Landes, sondern auch in globaler Hinsicht historisch ist – es handelt sich um den ersten Prozess gegen Verbrechen dieser Tragweite nach den Nürnberger Prozessen von 1946 – wird der Staatsanwalt Julio Strassera, meisterhaft verkörpert von niemand Geringerem als Ricardo Darín.
Bei diesem Spielfilm wohnen wir als Publikum dem Gerichtsprozess Strasseras bei, der außer Staatsanwalt außerdem Familienvater ist und bewusst und aufmerksam die Gefahr im Auge behält, die dieser Prozess mit sich bringt. Dabei verliert er trotz allem nicht den ihm innewohnenden Sinn für Humor. Seine Frau, die über den ganzen Film hinweg präsent ist, hält sich im Hintergrund, oder besser gesagt, ist es ihr Ehemann, der sie im Hintergrund hält.
In der Figur des Staatsanwalts vereinen sich zwei Seiten einer Medaille; auf der einen Seite Idealismus und Glaube an die Demokratie, auf der anderen Pessimismus und die Haltung, vom Schlimmsten auszugehen, zumindest anfangs, als er sich in diese Mission hineinbegibt. Es ist auch keine leichte Aufgabe und zahlreich sind die Anwälte und Akteure des Justizsystems, die hinter den Putschisten stehen. Diese Umstände lassen Strassera keinen anderen Ausweg, als einen jungen, unerfahrenen Anwalt als Assistenten einzustellen und das Team mit Jurastudent*innen aufzustocken. In einem Wettlauf gegen die Zeit müssen sie alle Hürden überwinden, die sich während der Sammlung von Beweisen und Aussagen ergeben.
Strassera macht es seinem Assistenten, dem jungen Staatsanwalt Luis Moreno Ocampo, nicht leicht. Er nennt ihn wissentlich beim falschen Namen, während er sich mit all den Fallstricken des Gerichtssystems herumärgert und fortwährend versucht, sie im Streben nach Gerechtigkeit zu umgehen. Obgleich von Anfang an die Stimmung angespannt ist, finden sich in Humor und Leichtigkeit Wege, mit den Bedrohungen zurechtzukommen, von denen die Mitglieder der Staatsanwaltschaft und ihr Umfeld täglich betroffen sind.
Der Gerichtsprozess gegen die Militärdiktatur, im Volksmund als “Juicio a las Juntas” bekannt, der bei der Handlung im Vordergrund steht, ist nicht der einzige des Films. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Prozessen, die parallel verlaufen: Der Prozess im Gerichtssaal, geleitet von Strassera und seinem Team, entfaltet sich parallel zu dem, der in der Zivilgesellschaft abläuft, im Publikum in den Gerichtsgebäuden und in dem Teil der Gesellschaft, der durch die Familie des Anwaltsgehilfen repräsentiert wird, eine Familie, die aus einer militärischen Tradition kommt, denen es über den Kopf wächst den Vorgang der Ereignisse und die damit einhergehende Verantwortung anzunehmen.
Die Spannung wiegt schwer über den ganzen Film hinweg und bis zum letzten Moment wird der Zuschauer/die Zuschauer*in das Gefühl nicht los, dass etwas schief gehen könnte – selbst wenn die Gerichtsentscheidung von 1985 den meisten im Publikum wohl bekannt sein dürfte. Doch obwohl die geballte Tragödie die Leinwand von der ersten Sekunde an überschwemmt, sickert in punktuellen Momenten unübertriebener Humor und Leichtigkeit einer Komödie hindurch, die den Charakteren, wenn überhaupt möglich, noch mehr Menschlichkeit verleiht.
Etwas mehr als zwei Stunden Film mit klassischem, lückenlosem Erzählstil, ein stichhaltiges Drehbuch und das Wiedererzählen von erschütternden Berichten der Zeug*innen und direkten Opfer, durch das sie noch einmal durchleiden, was ihnen während der „Bleijahre“ angetan wurde.
Die brillanten Darstellungen der gesamten Besetzung, Momente einschneidender Sachlichkeit mischen sich mit eingefrorenen Echtaufnahmen des Prozesses, wenn die Richter Aussagen der Zeug*innen anhören. Die Tragödie wird so noch intensiver und roher, denn der/die Betrachter*in wird der Verantwortung überlassen, die Vorstellungskraft einzusetzen, um die Beschreibungen vor dem geistigen Auge zu sehen.
Der Film von Santiago Mitre (Buenos Aires, 1982) ist ohne jeden Zweifel eine Verurteilung und eine Ablehnung der systematischen Menschenrechtsverletzungen und weiteren Gräueltaten, die während der Militärdiktatur verübt wurden. Er ist eine geschichtliche Gedächtnisübung, bei der ich persönlich eine Mahnung herauslese, wie historisch bedeutend dieser Gerichtsprozess war für die Wiederherstellung und Neugründung der Demokratie des Landes. Gleichermaßen ist er eine Ode an die Jugend und ihr Potential, im politischen und gesellschaftlichen Kurs die Weichen zu stellen.
Argentinien, 1985 – Nie wieder
Regie: Santiago Mitre
Argentinien/USA 2022, 140 Min.
Übersetzung aus dem Spanisch: Uta Hecker
Bildquelle: [1, 2] Snapshots