Am 11. September jährte sich der faschistische Militärputsch zum 50. Mal. Das ist ein viel genutzter Anlass zurückzublicken, zu erinnern. Eines der neueren, bisher nur wenig aufgearbeiteten Themen ist die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) in Chile. Zu diesem Thema findet man zwei neue Bücher, und der Mitteldeutsche Rundfunk widmete sich am 5. September in einer Dokumentation aus der Reihe FAKT auch diesem Thema. «BND gegen Stasi – Deutsche Geheimdienstler und Diplomaten in Chile 73» von Christian Bergmann und Tom Fugmann beschäftigt sich allerdings vor allem mit der Rolle des BND und der deutschen Politik und Wirtschaft vor und nach dem Putsch. Das Magazin enthüllt die deutsche Beteiligung an einem „der größten Menschenrechtsverbrechen (…) nach 1945“, wobei die berüchtigte Colonia Dignidad quasi als Speerspitze fungierte. Es wird mit aller Deutlichkeit festgestellt, dass mit Allendes Wahl die Vorbereitungen für seinen Sturz begann.
Mit der Arbeit des MfS (wieso eigentlich Stasi?) beschäftigt sich der Film nur am Rande, ca. 5 der 35 Minuten nahm man sich dafür Zeit. Und dabei ging es neben dem Hinweis, dass die DDR-Botschaft im Gegensatz zu der der ehemaligen BRD von Anfang an Flüchtlinge aufnahm, hauptsächlich um die spektakuläre Rettung von Carlos Altamirano, Generalsekretär der Sozialistischen Partei Chiles und die Nummer 2 in der Unidad Popular. Im Film kommt auch Rudolf Herz zu Wort, der Organisator von Altamiranos Flucht. Herz, der Offizier im besonderen Einsatz (OibE) „Kern“ berichtet beeindruckend gelassen und unspektakulär von diesem Coup. Er hätte weit mehr berichten können über seine Arbeit in dem südamerikanischen Land, doch die Filmemacher interessierte das nicht mehr. Aber dazu weiter unten mehr.
Wie erwähnt beschäftigen sich neben dem mdr-Film zwei neue Bücher mit dem Thema MfS und Chile 1973: «Auf der Flucht. Der große Coup der Stasi in Chile 1973» von Andreas Pawel und Rudolf Herz’ Erinnerungen «Ich war OibE „Kern“ in Chile. Erinnerungen an den Putsch 1973»
Beginnen wir mit «Auf der Flucht». Der Verlag Bussert & Stadeler nennt Pawels Buch „eine zugleich sorgsam recherchierte und spannende Geschichte“. Es fällt mir schwer, dem zuzustimmen; gleich beide Adjektive sind hier meines Erachtens unzutreffend.
Da Pawel sich entschlossen hat, eher einen Roman als einen Tatsachenbericht zu schreiben, ist der Text seltsam gespalten. Da sind einerseits die Hintergrundinformationen, die bei diesem Thema unabdingbar sind, damit der Leser versteht, worum es geht. Naturgemäß werden diese möglichst kurz gehalten, um die (Abenteuer)Erzählung nicht zu stören. Bei Andreas Pawel sind diese Abschnitte leider sehr oberflächlich und teils auch falsch. Letzteres dürfte darin begründet sein, dass er seine Informationen wohl vor allem bei Wikipedia recherchiert hat. Mit Chile, Lateinamerika oder auch der spanischen Sprache ist er eher nicht vertraut. Namen und spanische Wörter werden mit beeindruckender Konsequenz falsch geschrieben, so liest man z.B. Senior oder Estadio National. Mit einer etwas sorgsameren Recherche wäre Pawel vermutlich auch aufgefallen, dass in den Anden die Vegetationsgrenze mitnichten bei 1.300 Metern Höhe beginnt wie in den Alpen. Ach ja, und die Mitglieder des GAP, des Grupo de amigos personales, also die Personenschützer von Präsident Salvador Allende, waren nicht mehrheitlich Kubaner – die wurden in Kuba ausgebildet. Die USA konnten das ja schlecht übernehmen, schließlich waren sie bereits mit der Ausbildung der späteren Putchisten ausgelastet. Und und und …
Auch die „spannende Geschichte“ selbst geriet dem Autor eher zur Kolportage. Andreas Pawel veröffentlichte bisher vor allem Bücher über den Harz (Der geteilte Harz, Der Stern vom Harz, Festung Harz usw., mit Untertiteln wie Das Schicksal des… Das Geheimnis des…). Die Buchtitel lassen bereits auf das schließen, was «Auf der Flucht» stilistisch bietet: recht leichte Literatur. Die Sprache gerät mitunter etwas holprig. Zum Beispiel findet man, die in nicht wenigen eher leichten Büchern (und auch Filmen) anzutreffende Gewohnheit, Dialoge zwischen den Protagonisten zu Hintergrundinformationen zu nutzen. Die MfS-Mitarbeiter erklären sich deshalb ständig gegenseitig, warum und wofür sie arbeiten. Erwartungsgemäß höchst phrasenhaft. Bei den chilenischen Politikern ist das nicht anders. Salvator (!) Allende wird aufgefordert, eine Rede an das Volk zu halten, „das kannst du doch so brillant“. Die Dialoge tun mitunter fast weh.
Ähnliches gilt für die Fiktionalisierung der Ereignisse generell. Ich vermute, Mäxchen Müller stellt sich so den Agentenalltag bzw. das Leben in einem lateinamerikanischen Land vor. Beteiligte Personen geraten oft eher zu Karikaturen. Die Chilenen sind ein Volk von Denunzianten (also mindestens die Hälfte von ihnen), die Finnen, die Schutzmacht der im Lande verbliebenen DDR-Bürger, sind eigentlich allein am Alkohol interessiert. Und Carlos Altamirano war offensichtlich nur ein abergläubischer Snobist, weitgehend hilflos und ohne eigene Ideen. Generell erscheint er im Buch eher als ein Objekt der Handlung, manchmal nachgerade lächerlich.
Immerhin, das Buch liest sich schnell weg. Allerdings nicht, weil es so wahnsinnig spannend ist. Es hat halt nur etwas mehr als 100 Seiten und sehr großzügige Illustrationen. Dabei gäbe es doch viel Spannendes über die Rettung von Carlos Altamirano zu berichten: Die Planung und langwierige Vorbereitung der „Ausschleusung“ des Politikers über die Grenze nach Argentinien, die abenteuerliche Fahrt über die Anden mit ihren unvorhersehbaren Hindernissen. Warum hat mich das bei Pawel kaum gefesselt?
Also, zunächst muss ich ehrlich zugeben, dass ich doch sehr überrascht war, was ein OibE der Stasi so alles auf sich nehmen und draufhaben musste: Verfolgungsfahrten in James-Bond-Manier, bei denen es schließlich gelang, den Gegner auszuschalten. Final, versteht sich. Oder auch die Entlarvung einer (chilenischen) Verräterin, die das aufwendige Unternehmen fast hätte scheitern lassen. Die musste zum Glück nicht final ausgeschaltet werden; diese Aufgabe übernahm freundlicherweise ein kleiner Felsrutsch.
Wenn Sie sich jetzt an einen dieser unsäglichen Agententhriller erinnert fühlen, dann liegen Sie damit nicht ganz falsch. Denn das meiste davon ist einfach nur Quatsch. Es gab damals keine Verfolgungsjagden mit dem chilenischen Militär und/oder Geheimdienst und auch keine Verräterin, die den (scheinbar unglaublich schlicht agierenden) Chilenen Hinweise über die Flucht gab.
Warum also erfindet Pawel solchen action-Unsinn? Reichte ihm die mutige Tat eines ostdeutschen Hochschullehrers nicht aus? Denn der Wagen, in dem sich Altamirano versteckte, wurde gar nicht von OibE “Kern” gefahren, der also auch nicht wie 007 brillieren konnte, sondern von Eberhard Hackethal, Historiker an der Karl-Marx-Universtät Leipzig.
Die tatsächlichen Geschehnisse kann man bei Rudolf Herz nachlesen, dem OibE “Kern”, der damals die Flucht Altamiranos, also die „Ausschleusung“, wie es im Agentenjargon heißt, organisierte. In seinem Buch «Ich war OibE „Kern“ in Chile. Erinnerungen an den Putsch 1973» schildert er auch diese Meisterleistung. Die Lebenserinnerungen des einstigen Bergmanns aus dem Mansfelder Land sind jedoch weit umfassender und beschränken sich nicht auf die Zeit unmittelbar nach dem Militärputsch. Lesenswert sind sie allemal.
Aber zurück zu unserem Thema, aus der Sicht von Rudolf Herz. Das MfS hatte sowohl Salvador Allende als auch Luis Corvalán, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, kurz vor dem 11. September vor einem kurz bevorstehen Putsch gewarnt. Die Information kam von „unserer Quelle in Pullach“. Nur haben die Chilenen diese Warnung nicht ernst genommen, sie vertrauten auf die demokratischen Traditionen der Streitkräfte und konnten sich daher ein solches Szenario nicht vorstellen. Viel hätten sie wohl nicht mehr ausrichten können; aber wer weiß…
Die DDR-Botschaft in Santiago de Chile wurde knapp 14 Tage nach dem Putsch geschlossen, wie übrigens die meisten Vertretungen sozialistischer Länder. Allerdings verblieb eine 17-köpfige Restgruppe mit der Begründung noch ausstehender wirtschaftlicher Transaktionen in der nicht mehr arbeitenden Botschaft zurück. Für diese Gruppe fungierte schließlich Finnland als Schutzmacht. In der DDR-Botschaft wurden von Anfang an Flüchtlinge aufgenommen, obwohl diese Asylgewährung nach dem 24. September zunehmend ein Drahtseilakt war: Die DDR-Botschaft existierte ja nicht mehr und damit gab es auch keinen diplomatischen Schutz für ihre Insassen. Trotzdem hatte man sich entschlossen, den bedrohten Carlos Altamirano, die Nr.1 auf den Fahndungslisten der Junta, aufzunehmen und zu verstecken. Er musste aber irgendwie außer Landes gebracht werden.
An dieser Stelle übernahm Rudolf Herz seine Rolle. Der langjährige Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, Lateinamerikaspezialist mit Erfahrungen in Uruguay, Kolumbien und Mexiko, reiste mit einer Legende als Handelsvertreter nach Chile, übrigens ohne Visum. Sein Auftrag: Carlos Altamirano aus Chile herausbringen. Erste Vorbereitungen waren bereits in der DDR getroffen worden; so auch die Planungen, um vor Ort einen Wagen zum Fluchtwagen umzufunktionieren. Als Vorbild diente der beschlagnahmte Wagen einer westdeutschen Fluchthelferorganisation. Die konkrete Organisation in Chile oblag Herz, dem OibE Kern. Der MfS-Mitarbeiter schildert die Ereignisse in seinem Buch lakonisch, ohne Sensationshascherei. Man bekommt eine gute Vorstellung davon, wie Geheimdienstarbeit unter Umständen tatsächlich funktioniert.
Als Fahrer des Wagens wurde der „IM Assessor“ ausgewählt: Professor Eberhard Hackethal. Der Leipziger Historiker lebte bereits seit ca. einem Jahr als Gastprofessor in Chile; Land und Leute kannte er sehr gut. Hackethal fuhr nur ungern mit der präparierten „Schrottkarre“ (man hatte offensichtlich gespart), schließlich führte der Weg durchs Hochgebirge und über eine serpentinenreiche Straße. Der Professor war nach Herz‘ Schilderung nicht schwindelfrei. Außerdem musste er die Strecke zweimal bewältigen – von Argentinien nach Santiago und zurück. Der Coup am 5. November 1973 gelang trotz unvorhergesehener Zwischenfälle. Carlos Altamirano wurde in Mendoza vom früheren DDR-Botschafter Friedel Trappen „übernommen“ und reiste mit einem falschen argentinischen Pass schließlich nach Europa.
Für den OibE Kern war die Arbeit in Chile damit noch nicht beendet. Er hatte den Auftrag, mit seinen begrenzten Mitteln den Widerstand im Lande zu unterstützen. Das MfS nutzte dabei auch Erfahrungen aus der Zeit des deutschen Faschismus. Darüber hinaus wollte man nach wie vor ein Anlaufpunkt sein, um akut gefährdete Kommunisten und Sozialisten außer Landes zu bringen.
Als seine Hauptaufgabe bezeichnet Herz, den Kontakt zwischen der Widerstandsbewegung im Land und den Auslandsorganisationen der Emigranten aufrechtzuerhalten. Dafür wurde eine sichere Telexverbindung für die Nachrichtenübermittlung zur Verfügung gestellt. Gerade für diese Aufgabe waren die verbliebenen MitarbeiterInnen der gewesenen DDR-Botschaft ein wichtiger Anlaufpunkt, auch für Kontakte und Organisationen in anderen sozialistischen Ländern. Rudolf Herz blieb bis 1975 in Chile und kehrte 1978 für einen weiteren Einsatz ins Land zurück; dieser dauerte bis 1983. Im Jahre 1987 beendete das Ministerum für Staatssicherheit der DDR seine konspirative Arbeit in Chile, im Land zeichneten sich grundlegende Veränderungen ab.
Der Film «BND gegen Stasi – Deusche Geheimdienstler und Diplomaten in Chile 73» hat sich für die weitere Arbeit des ostdeutschen Geheimdienstes leider nicht interessiert. Dabei wäre man damit dem Titel des Films gerecht geworden. Die beiden deutschen Geheimdienste haben in Chile nämlich tatsächlich gegeneinander gearbeitet: Der eine unterstützte die Diktatur und der andere die demokratische Opposition. Dass in diesem Fall die Stasi auf Seiten der Demokraten stand, könnte durchaus ein Problem und der Grund für die auffallende Zurückhaltung gewesen sein. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte…
Literatur:
BND gegen Stasi – Deutsche Geheimdienstler und Diplomaten in Chile 73; Regie: Christian Bergmann/Tom Fugmann
Pawel, Andreas: Auf der Flucht. Der große Coup der Stasi in Chile 1973. Verlag Busserr & Stadeler. Quedlinburg/Jena 2023.
Herz, Rudolf: Ich war OibE „Kern“ in Chile. Erinnerungen an den Putsch 1973. verlag am park in der edition ost Verlag und Agentur GmbH. Berlin 2023.
Aufgabe war, den Kanal zwischen innen und außen offenzuhalten. Über Fluchthelfer der DDR im von Pinochets Schergen terrorisierten Chile und die Aufrechterhaltung der Solidarität. Ein Gespräch mit Rudolf Herz. www.jungewelt.de/artikel/457252.geheime-hilfe-für-chiles-linke-aufgabe-war-den-kanal-zwischen-innen-und-außen-offenzuhalten.html (Stand: 15.9.2023)
Bildquellen: [1-2] Cover; [3] Rudolf Herz_Ich war Oibe Kern