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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Zeitgeschichtliche Archäologie in Chile und die Kämpfe um die Erinnerung anlässlich des 50. Jahrestages vom Putsch 1973

Nicole Fuenzalida | | Artikel drucken
Lesedauer: 31 Minuten

Auch wenn seit der Rückkehr der Demokratie in Chile mehr als dreißig Jahre vergangen sind, kämpft das chilenische Volk immer noch darum, sich von dem schweren Erbe der Diktatur zu befreien – wofür die sozialen Unruhen im Jahr 2019 ein gutes Beispiel sind. In diesem Zusammenhang hat die Archäologie die von zivilgesellschaftlichen Gruppen geführten Aktivitäten begleitet und parallel dazu zwei Bereiche entwickelt, in denen sie konkrete Beiträge leistet: die Suche nach den Verschwundenen und die materielle und die materielle und symbolische Wiederherstellung von Orten, die als Konzentrationslager oder geheime Haftanstalten dienten. In beiden Gebieten hat die Archäologie, eine Disziplin, die aus der Notwendigkeit geboren wurde, menschliches Handeln anhand seiner materiellen Überreste zu untersuchen, enorm wichtige Beiträge sowohl zur Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als auch zur Sichtbarmachung der tiefgreifenden Auswirkungen von 17 Jahren Diktatur auf die chilenische Gesellschaft geleistet. Die folgenden Abschnitte geben einen kurzen Überblick über neue Forschungsergebnisse mit konkreten Beispielen, die wiederum einige Ergebnisse und Herausforderungen aufzeigen, welche für das Gedenken an den 50. Jahrestag des chilenischen Staatsstreichs von Bedeutung sind.

Kontext der Orte und Erinnerungen

Der Begriff von Gewalt bezieht sich als ein diffuses Phänomen, das zur Bezeichnung von sehr unterschiedlichen Ereignissen verwendet wird und gleichzeitig ein Feld von Handlungen bestimmt, die individuell, kollektiv, spontan, strukturell, legal oder illegal, absichtlich oder unabsichtlich sein können. Spätestens seit den Schriften von Hannah Arendt ist unumstritten, dass Gewalt grundsätzlich ein Mittel ist, um politische Ziele zu erreichen – und deshalb braucht sie immer Instrumente, Techniken und Technologien, „sie braucht immer eine Anleitung und eine Rechtfertigung, bis sie das Ziel erreicht, das sie verfolgt“, so Arendt (Arendt 1969, S. 69). Wenn man nun von „politischer Gewalt“ spricht, betont man insbesondere das Vorgehen des Staates gegen revolutionäre Organisationen, gegen verfassungsmäßige Militärs – kurz gesagt, gegen seine eigenen Bürger, um die konstituierte politische und soziale Machtstruktur zu erhalten.

Die charakteristischen Verbrechen der politischen Gewalt des Zyklus der Diktaturen im südlichen Kegel Lateinamerikas, einschließlich Uruguays, Argentiniens und Chiles, von den 1960er bis zu den 1990er Jahren sind Teil einer Logik, die über die obige Definition hinausgeht. Das Verschwindenlassen von Menschen, willkürliche Verhaftungen, politische Gefangenschaft, Folter, Vergewaltigungen, Demütigungen, Morde, Scheinhinrichtungen, Einschüchterungen, Überwachungen, Razzien, Verbannung und Entlassungen sind eng mit dem expressiven, körperlichen, affektiven, kollektiven und moralischen Leben in unseren Gesellschaften bis zum heutigen Tag verbunden. Zu dieser langen, aber unvollständigen Liste könnte man noch hinzufügen die Durchführung transnationaler Pläne wie die „Operation Condor“ und die von ihr entwickelten wirtschaftlichen und sozialen Modelle.

In diesem Szenario waren die so genannten geheimen Haft- und Folterzentren (im Folgenden CCD) Orte, an denen verschiedene Verbrechen gegen die Menschlichkeit organisiert und durchgeführt wurden, die im Rahmen staatlicher Operationen mit spezifischen Technologien und Kreisläufen, die von den Repressionsorganen geleitet wurden, in unterschiedlichen Graden der Klandestinität und Geheimhaltung begangen wurden. Auch wenn man sagen kann, dass diese Ex-CCDs niemals den Schmerz verkörpern werden, der durch die Erinnerungen der Zeugen spürbar wird, so wagt man doch durch die Reflexion über ihre Existenz, die aus der Erfahrung der Diktatur hervorgeht, die Spur dieser Ereignisse oder dessen, was uns widerfahren ist, zu erkennen. Im kommenden Aufsatz werden die Beiträge der Archäologie zum chilenischen Erinnerungsfeld im Kontext des Gedenkens an den 50. Jahrestag des Staatsstreichs 1973 kurz beschrieben, in dem sich neue Sichtweisen und politische Diskussionen eröffnen. Insbesondere wird die fachliche Begleitung des sozialen Kampfes von Erinnerungskollektiven bei ihren Bemühungen betrachtet, ehemalige Orte des Schreckens „zurückzugewinnen“, um sie in Gedächtnisorte zu verwandeln.

Nach offiziellen Angaben sind während der Diktatur Pinochets (1973–1990) etwa 1132 CCDs in Chile entstanden (Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura, 2005). Der Roman von Carlos Cerda1, Una casa vacía (1996), zeigt die Aufdeckung der Vergangenheit in einem Haus, das erst kürzlich von seinen Bewohnern bewohnt wurde, einem Ehepaar, das nicht ahnte, dass sich dort, wo es mit seinen Töchtern friedlich schlief, ein Folterzentrum für Frauen befand, das während der Diktatur genutzt wurde. Obwohl es sich um eine Fiktion handelt, zeigt der Roman die Situation auf, die eine solche Macht mit sich bringt und die sich in unserem heutigen Alltag abspielt. Im Gegensatz zu anderen Ländern in der Region gibt es fast unabhängig von den geografischen Koordinaten ein Gerüst von Orten des Grauens, das zeigt, dass jede Straße oder jedes Haus, das man heute bewohnt, ein CCD gewesen sein könnte (Abbildung 1). Die Allgegenwärtigkeit der repressiven Räume weist auf ein weiteres wesentliches Merkmal dieser Zeit hin, nämlich dass die Folter sehr umfangreich war.

Die chilenische Diktatur lässt sich als ein Prozess extremer Gewalt zusammenfassen, in dem die politische Klasse des Militärs mit Unterstützung bestimmter ziviler Sektoren das Projekt der Unidad Popular (1970–1973) durch einen Staatsstreich zerschlagen hat. Dabei handelte es sich um eine institutionelle Intervention der Streit- und Sicherheitskräfte in Zusammenarbeit mit zivilen Stellen, die darauf abzielte, die Gesellschaft auf neuen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlagen wieder aufzubauen. Das Netz der Orte des Schreckens umfasste bürokratische Einrichtungen, die je nach Geheimdienst und repressiven Zielen variierten, darunter öffentliche Gebäude, Sportzentren, Universitätsgebäude, Züge, militärische Einrichtungen, Gefängnisse und Polizeikasernen – sogar Schiffe und ehemalige Salpeterwerke (Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, 1996).

Der Übergang zum postdiktatorischen Chile war schon früh mit den Forderungen von Müttergruppen, Familienmitgliedern und Menschenrechtsorganisationen nach Zugang zu Gerechtigkeit und Wahrheit konfrontiert. Der Staat reagierte darauf zum Teil mit der Einrichtung verschiedener Wahrheitskommissionen, von denen die wichtigsten die Nationale Wahrheits- und Versöhnungskommission (1996), bekannt als „Rettig“ (1990–1991), und die Nationale Kommission für politische Gefangene und Folter (Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura, 2005), bekannt als „Valech“ (2003–2004), waren. In diesen Berichten wurde eine einvernehmliche Version der Tatsachen und eine so-weit-wie-mögliche-Wahrheit festgelegt, deren zentrales Anliegen der Frieden und die nationale Versöhnung war, mit einem zutiefst katholischen religiösen Ton.

Einer der charakteristischen Ausdrucksformen dieses Prozesses war die 50 Jahre währende Abschirmung der mit den Valech-Ermittlungen befassten Archive, um der Öffentlichkeit den Zugang zu den Namen der Täter zu verwehren. Hinzu kommt die Entwicklung minimaler und ineffizienter Wiedergutmachungsmaßnahmen und äußerst konservativer Gerichtsverfahren. So entstand ein komplexes Bild struktureller Gewalt, das mit der Entwicklung von Schweigepakten zwischen Regierungen und militärischen und zivilen Akteuren einherging. Es folgte die Entstehung eines Klimas der Straflosigkeit geistiger, psychologischer und sozialer Natur, das bis heute die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Wahrheit behindert – so die Philosophin Lucy Oporto (2014).

Vor allem seit der internationalen Verhaftung Augusto Pinochets in London 1998–2000 hat sich ein neuer Kontext herausgebildet. Wenn man sich daran erinnert, dass der Diktator bis dahin Teil des Systems der vertrauenswürdigen Autoritäten des politischen Systems und Senator auf Lebenszeit2 war, ermöglichte sein Verschwinden aus dem chilenischen Parlament das Aufkommen neuer Stimmen, die begannen, die Zeugnisse von Menschenrechtsverletzungen häufiger im öffentlichen Fernsehen zu zeigen und damit starke Prozesse der Erinnerungsaktivierung in Gang zu setzen. Wie in anderen Ländern des Südkegels steht der „Boom der Gedenkstätten“ (Huyssen, 2002) in direktem Zusammenhang mit den Formen, die die verschiedenen Aufarbeitungen der diktatorischen Vergangenheit angenommen haben, insbesondere in Bezug auf die Umwandlung der Orte, an denen das Grauen stattgefunden hat, in Erinnerungsstätten. Doch anders als in anderen Ländern der Region ruhte sich die aktive Zivilgesellschaft in Chile nicht auf dem sozialen Kampf aus, der sich zunächst um die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen drehte, die bereits Ende der 1970er Jahre mit der Markierung und Beschilderung illegaler Stätten einherging, und dann, gegen Ende der 1990er Jahre, mit der Bildung einer Bewegung von größerer Tragweite und größerem politischen Spektrum, die diesmal von den Überlebenden der Diktatur selbst geführt wurde.

Diese Prozesse sind also stark politisch geprägt, waren kontinuierlich und sind immer noch im Gange (Fuenzalida, 2020). In Anlehnung an die Aussage eines Überlebenden der ehemaligen Borgoño-Kaserne: „In den 1980er Jahren, als es darum ging, die Diktatur zu stürzen, hätten wir uns nie vorstellen können, dass sich einige von uns Jahrzehnte später voll und ganz dem Kampf um die Rückgewinnung der Orte widmen würden, an denen wir gefoltert wurden“ (Fuenzalida, 2020, S. 288). Dieser Satz fasst einen der wichtigsten Kämpfe der Bewegung zusammen, der sich aus der Idee der „Wiederherstellung“ entwickelt hat, durch die diese Art von Räumen als Orte der Erinnerung gekennzeichnet und neu markiert werden (Guglielmucci/ López, 2019).

Vor allem durch diese soziale Bewegung für das Gedenken und die Menschenrechte entsteht in Chile anlässlich des 50. Jahrestages des Staatsstreichs allmählich ein Klima des Gedenkens, das die Auseinandersetzung um die Bedeutung dieser schmerzhaften Vergangenheit zu einer dringenden Herausforderung macht (Abbildung 2). Die Krise des demokratischen und neoliberalen Modells, die ihren aufrührerischen Ausdruck in der „sozialen Explosion“ vom 18. Oktober 2019 fand, führte zu Massenkundgebungen und Protesten von Menschen, die mit verschiedenen Slogans etwa wie u. a. Würde, Rechte auf Gesundheit, Wohnung, Bildung, soziale Sicherheit einforderten. Viele Studien stellen das Unbehagen und die Unzufriedenheit, die durch die Beschränkungen und tiefgreifenden Ungleichheiten des Neoliberalismus hervorgerufen werden, als Schlüssel zum Verständnis dieses Prozesses heraus. Gleichzeitig kriminalisierte der Staat den Protest und es kam zu neuen und wiederholten Menschenrechtsverletzungen durch den Polizeiapparat: „…er sagt, dass es zu diesem Zeitpunkt keine Unruhen auf dem Gelände gab. Er gibt an, dass in diesem Moment ein Auto der Carabineros ankam, aus dem ein Beamter ausstieg und zwei Schüsse abgab und ein drittes Mal direkt auf ihn zielte, wobei er eine Stahlkugel in sein rechtes Auge bekam“ (Instituto Nacional de Derechos Humanos de Chile, 2019, S.41). Seitdem ist trotz der verschiedenen Menschenrechtsberichte und Beschwerden, auch aus internationalen Kreisen, alles in einer „angespannten Ruhe“ geblieben, ohne dass auf sozialer, juristischer oder politischer Ebene eine Lösung gefunden wurde.

In konfliktreichen Kontexten wie dem chilenischen hängt die vorherrschende Art der Erinnerung vom hegemonialen Konsens ab, der die sozialen Beziehungen prägt, vom Zugang der Akteure oder Träger der Erinnerung zu Verbreitungsbedingungen und Ressourcen (institutionell, medial, künstlerisch usw.) sowie von Autorisierungssystemen, die bestimmten Stimmen gegenüber anderen den Vorzug geben. Wir sind der Meinung, dass dieser letzte Punkt von entscheidender Bedeutung ist, da er bestimmte Erzählungen zu Trägern der Wahrheit und der Autorität gegenüber anderen Stimmen macht, die üblicherweise als „schwach“, oder „banal“ bezeichnet werden. Man kann also sagen, dass es eine ungleiche Verwaltung der Vergangenheit gibt, die den Kampf um die Erinnerung, die Verwaltung der Politik und offene Konflikte beinhaltet.

Wie Nancy Nicholls (2013) feststellte, „sind die Stimmen jedoch wenige“, um die Angst zu verdeutlichen, die durch die Darstellung des „Unmöglichen“ hervorgerufen werden, d. h. des Phänomens des erzwungenen Verschwindens, dieses Todes ohne jegliche Materialität (S. 41–44). Dies setzt voraus, dass man sich von der Vorstellung löst, dass sich das Grauen in einer anderen Zeit (der Vergangenheit) ereignet hat und dass es sich nur auf die unmittelbaren Opfer bezieht, sowie von der Vorstellung, dass solche Ereignisse im Widerspruch zu rationalen Prinzipien stehen oder das Produkt „kranker, anormaler Köpfe“ sind. Die Frage nach dem Ort der Äußerung derjenigen von uns, die nicht direkt in die Ereignisse involviert waren, d. h. „wir haben die Ereignisse der Diktatur nicht direkt erlebt“, ist nicht unwichtig. Das Gewicht dieses Ortes impliziert Fragen reflexiver, methodologischer und theoretischer Natur. Ausgehend von diesen Grundsätzen wird versucht, die sozialen Akteure, die mit den Kollektiven der Gedenkstätten verbunden sind, als Mitwirkende anzuerkennen und ihre Praktiken in einer reflexiven und ethischen Weise anzugehen. Im Folgenden werden Fallstudien zu archäologischen Projekten vorgestellt, die in unterschiedlichen Maßstäben und mit unterschiedlichen Methoden entwickelt wurden, um zu zeigen, wie bedeutungsvoll es ist, sich mit der Vergangenheit der Diktaturen zu befassen, um unsere Gegenwart zu bewältigen.

Zu einer Archäologie der Diktaturen

Die Archäologie kann als eine Systematik der Materialität verstanden werden, d. h. sie nähert sich der sozialen Welt über die Erforschung der Vergangenheit und konzentriert sich auf die Analyse der materiellen Überreste von Orten, Artefakten und Gegenständen, die von menschlichen Nutzungen und Praktiken übrig geblieben sind. Im Gegensatz zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen hat sich die Archäologie erst sehr spät in die Diskussion über die Erinnerung und die diktatorische Vergangenheit der 1960er bis 1980er Jahre im südlichen Teil Lateinamerikas eingebracht.

Eine erste Phase von archäologischen Beiträgen kam in der zweiten Hälfte der 1980er und 1990er Jahren infolge der Dringlichkeit, einen technischen Beitrag zur Untersuchung des Verschwindenlassens von Menschen zu leisten, in kollektiven Bemühungen und forensischer Ausbildung, die im Laufe der Zeit zu Vereinigungen von globaler Relevanz führten (Dutrénit, 2017). Eine zweite Phase zeigt sich in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende. In Zusammenhang mit der Anerkennung nationaler Entwicklungen begann sich eine neue reflexive Praxis herauszubilden, die deutlichere politische, rechtliche, soziale und ethische Dimensionen aufweist und eng mit Prozessen der Neuzusammensetzung der sozialen und politischen Welt verbunden ist (z. B. Ataliva et al. 2019; González/ Compañy 2016; Rosignoli et al. 2020). Diese Phase lässt sich an verschiedenen Beiträgen zeigen, die darauf abzielen, sowohl Repressionsstrategien (geheime Folter- und Haftanstalten, Gefängnisse, Foltertechniken) als auch angewandte Widerstandsstrategien (Fluchttunnel, persönliche Gegenstände der Verschwundenen, von den Häftlingen angefertigte Graffiti) anhand von materiellen Hinterlassenschaften zu erfassen (Zarankin/ Salerno, 2008).

Anders als in Ländern der Region wie Argentinien, wo parallel zur archäologischen Studien auch die Untersuchung von Prozessen der kulturellen Formierung und die Funktionsweise als repressives Mittel in städtischen und ländlichen Kontexten berücksichtigt wurden, hat die Aktivität der Archäologie in Chile in geringerem Maße zu diesen Aspekten beigetragen, da historisch gesehen eher unpolitische und wissenschaftstheoretische Ansätze vorherrschten, die im Allgemeinen die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen sozialen Realität vernachlässigt haben (Fuenzalida, 2017).

Trotzdem haben die Ergebnisse der archäologischen Forschung eine große öffentliche Resonanz, die einerseits aus unabhängigen forensischen Untersuchungen besteht, die zur Klärung des gewaltsamen Verschwindens entwickelt wurden, und aus wichtigen Fortschritten bei der Aufarbeitung der Beseitigungsmaßnahmen der inoffiziellen Bestattungen – insbesondere im Fall des sogenannten Vertuschungsplans „Rückzug der Fernsehgeräte” (Cáceres, 2012). Andererseits konzentrierten sich die Erfassungen von materiellen Hinterlassenschaften an Orten des Verbrechens hauptsächlich auf das Verständnis der architektonischen und räumlichen Praktiken, die damals entwickelt und durchgeführt wurden – zum Beispiel in CCD in Santiago de Chile, wie beispielsweise im Estadio Nacional de Chile (Fuentes et al., 2009), Villa Grimaldi (Fuenzalida, 2011) und Nido 20 (Fuenzalida et al. 2020). Auch im hohen Norden des Landes fanden Erfassungen auf den Arealen von großen Konzentrationslagern wie der Oficina Salitrera de Chacabuco (Vilches, 2011) und dem Lager Pisagua (Olmos et al., 2019).

In jedem Fall deuten die durchgeführten Untersuchungen auf eine Umgestaltung der Orte hin, d. h. Räume, die ursprünglich für andere Zwecke geschaffen worden waren (Wohnungen, Unterhaltung, Sport, Gesundheit usw.) und anschließend für Entführungen, Inhaftierungen, Vergewaltigungen, Folterungen und Morde genutzt wurden. Es lässt sich sagen, dass die CCDs unter der Diktatur entstanden sind, um politische Gegner:innen im Geheimen zu agieren und auszuschalten – und gerade als sie auf dem gesamten Staatsgebiet sichtbar wurden, wurden sie wieder aufgelöst (Fuenzalida, 2022). Mit anderen Worten, es ist ein schnelles Verschwinden der Ex-CCDs zu beobachten, mit Aktionen der Demontage, der Zerstörung, des Verbergens, des Aufgebens und vielem mehr. Eines der bedeutendsten Beispiele ist die fast unveränderte Umwandlung des CCD Tres y Cuatro Álamos, das, nachdem es während der Diktatur (1974–1977) ein repressiver Ort war, bis heute ein Gefängnis des Nationalen Dienstes für Minderjährige ist (Fuenzalida, 2022) – eine Einrichtung, die des Missbrauchs und der Misshandlung von Jugendlichen beschuldigt wird.

Im Fall des CCD Londres 383 bestand die archäologische Zusammenarbeit in der Entwicklung kuratorischer Vorschläge. Dabei wurden insbesondere Informationen hervorgehoben, die auf Materialität der Räume hinweisen. Ein konkretes Beispiel dafür ist das Aufzeigen von materiellen Spuren der Versuche, die Geschehnisse an diesen Orten zu verbergen – deren Wirksamkeit den Erfolg der erreichten Straffreiheit im Laufe der Jahre erklärt. Über dieses CCD wurde eine Untersuchung durchgeführt, die einen transdisziplinären Ansatz mit 30 Fachleuten und Studenten sowie die Anwendung verschiedener archäometrischer Techniken und eine Reihe von Protokollen und Bewertungsworkshops in insgesamt acht Monaten intensiver Arbeit umfasste (Londres 38, 2018). Zu den Ergebnissen der Studie gehörten die Festlegung von Räumlichkeiten, die für die Untersuchung biologischer Spuren von Bedeutung sind, sowie ein detaillierter Vorschlag für die räumliche und materielle Besiedlungsgeschichte des Geländes mit neuen Daten über die Besiedlung und die Nutzung nach dem CCD. Letzteres betraf die Untersuchung von Rückbaumaßnahmen und Eingriffen, die als Praktiken der Verdrängung und des Verbergens verstanden wurden (Abbildung 3).

In der Ex-Borgoño-Kaserne im Stadtteil Independencia in der Hauptstadt Santiago wurde der Kampf um die Rückgewinnung des Geländes, das sich heute in den Händen der Polizei befindet, bis zum heutigen Tag begleitet. Das fast einen Hektar große Gelände war ein architektonischer Gebäudekomplex, der zu Beginn des 20. Jh. errichtet wurde und in dem das Institut für öffentliche Hygiene entstand, das sich mit der technologischen Weiterentwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens des Landes befasste. Die Diktatur kontrollierte den Ort seit 1977 und verschiedene repressive Praktiken wurden dort während der 1980er Jahren auf institutionalisierte Weise durchgeführt, darunter Gefangenschaft, Isolationshaft, Folter, Mord. Die Kaserne war auch eines der wichtigsten Einsatzzentralen des Nationalen Geheimdienstes (Central Nacional de Informaciones – CNI)4. Nach Einstellung der Nutzung des Geländes für repressive Zwecke übertrug die CNI das Gelände 1987 an die Kriminalpolizei (Policía de Investigaciones – PDI). Ende der 1990er Jahre zerstörte die Polizei eines der wichtigsten Gebäude, das in den Zeugenaussagen der Überlebenden erwähnt wird und sich in der Straße Borgoño 1470 befindet. Auf diesem Gelände wurde 1998 das Gebäude der Drogenbekämpfungsbehörde errichtet, und seine Parkplätze und Büros wurden in die anderen Bereiche verlegt. Als die Abrissarbeiten 2016 wieder aufgenommen wurden, gelang es durch die Mobilisierung von Überlebenden und Menschenrechtsaktivisten, sie zu stoppen. Seitdem wurden zahlreiche Gedenkveranstaltungen und soziale Demonstrationen durchgeführt, um den Ort in einen öffentlichen Raum der Erinnerung zu verwandeln (Fuenzalida, 2020).

Mit Hilfe archäologischer Techniken wurde versucht, die Forderungen des Kollektivs Memoria Borgoño5 sichtbar zu machen, das im Unterschied zu anderen Initiativen keinen Zugang zu dem Ort hat oder ihn verwalten kann, d. h. es gelang dem Kollektiv bislang nicht, den Ort „zurückzuerobern“ (Abbildung 4). In diesem Zusammenhang wurde durch die Untersuchung historischer Archive und Planimetrien die Geschichte des Ortes unter Berücksichtigung seiner öffentlichen Nutzungen aufgezeichnet – und zwar von seiner Entstehung bis zu seiner Umwandlung in einen repressiven Raum zwischen den 1950er und 1970er Jahren, und schließlich in seiner pädagogischen Funktion als Abteilung der Universität von Chile und als Gesundheitszentrum (Fuenzalida, 2020). Außerdem wurde eine multidisziplinäre Untersuchung des Erhaltungszustands der Gebäude durchgeführt. Diese ergab, dass es noch möglich ist, den Verfall zu stoppen und die Gebäude zu erhalten.

Darüber hinaus wurde im im Zeitraum 2018–2019 an der Erstellung eines Oral-Archivs mit dem Titel Resistir Recordando (dt. Widerstand durch Erinnern) mitgearbeitet, um die Räumlichkeit des Ortes unter sensorischen und erfahrungsbezogenen Aspekten darzustellen. Dies hat es bisher ermöglicht, verschiedene Aspekte der repressiven Routinen zu systematisieren, insbesondere die repressive Logik, die in den Einzelhaftzellen, sogenannten Subterráneos (dt. Untergrund), durchgeführt wurde, zu rekonstruieren. Gleichzeitig wurden Überlegungen zur persönlichen Betroffenheit der Teams angestellt, die diese Art von Forschungen entwickeln (Fuenzalida/ Olivares del Real, 2021). Seit der von Covid-19 verursachten Pandemie 2020 und hinsichtlich der drohenden Abrissgefahr wurde mit Methoden der sogenannten rekonstruktiven Archäologie und der 3D-Virtualisierung an einem der Gebäude, die die Kriminalpolizei (PDI) zerstört hat, experimentiert. Ziel ist es, die Grenzen der Darstellung des Grauens und die Möglichkeit der Wiederherstellung der materiellen Substanz zu politischen Zwecken zu diskutieren.

Ein weiteres Beispiel ist das politische Häftlingslager Melinka-Puchuncaví6, das sich in einem Ort in der Nähe der Küste von Valparaíso befindet, etwas mehr als eineinhalb Stunden von Santiago entfernt. Ursprünglich war es als Badeort für Arbeiter im Rahmen des Regierungsprogramms der Unidad Popular (1970–1973) konzipiert und bestand aus Pavillons mit je zehn Baracken, die mit einem System aus vorgefertigten Holzplatten errichtet wurden. Ende 1973 bis 1976 führte das Heer auf Anordnung der Exekutive die dauerhafte Internierung von Hunderten von politischen Gefangenen durch. Diese Gefangenen waren bis dahin in verschiedenen CCD untergebracht gewesen, was ihren Gesundheitszustand beeinträchtigt hatte. Wie in anderen Fällen, die in der Welt der Konzentrationslager während des Nationalsozialismus in Europa zu beobachten waren, wurden die ersten Häftlinge gezwungen, die Lager selber zu errichten, darunter auch Stacheldrahtzäune, Wachhäuschen und Sandsackgräben – zweifellos in dem Bestreben, das paradigmatische Bild des nationalsozialistischen Konzentrationslagers zu übernehmen (Abbildung 5). Aufgrund der offiziellen Anerkennung als Gefangene waren gelegentlich Besuche erlaubt. Dazu wurden handwerkliche, künstlerische und sportliche Aktivitäten entwickelt, darunter die Einrichtung eines Basketball- und Tennisplatzes (Fuenzalida 2022).

Im Jahr 2021 wurde auf Ersuchen der Corporación Memoria y Cultura Puchuncaví, die den Ort seit 2018 verwaltet und ein Museumsprojekt vor Ort konsolidieren möchte, eine archäologische Intervention in Form von Ausgrabungen durchgeführt, um das Vorhandensein von materiellen Spuren im Boden zu bewerten und Bereiche mit einschlägigen Merkmalen zu identifizieren. Die vorläufigen Ergebnisse beziehen sich auf zwei Aspekte (Fuenzalida, 2022). Der erste betrifft die Dokumentation der Fundamente und Pfeiler der verschiedenen Bautypen sowie der Fundamente der Hütten, die mit der ursprünglichen Nutzung als Badeort zusammenhängen. Der zweite bezieht sich auf die Zugangsstrukturen zu den Baracken, welche von den Häftlingen selbst gebaut worden waren. Es ist anzunehmen, dass sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Materialien (Ziegelsteine, Granitsteine, Flusssteine) den Ort ihrer Gefangenschaft einrichten konnten, um der unpersönlichen Logik des Lagersystems zu entkommen – was auch bei archäologischen Grabungen auf dem Areal eines Konzentrationslager der Franco-Diktatur in Extremadura (Spanien) dokumentiert wurde (González-Ruibal et al. 2011).

Die Analyse von Bereichen, in denen die Abfälle abgelagert wurden, ermöglichte es, nicht nur verschiedene Phasen der Nutzung des Areals und verschiedene Arten von Bauelementen, die auf die repressive Funktion hinweisen (u. a. Elektrizitätssäulen, Reste von Dächern, Türen) zu dokumentieren, sondern auch materielle Zeugnisse von Aktivitäten der Gefangenen (u. a. Gegenstände, die sich auf die Gefangenen beziehen, und Polier-, Gravier- und Spinnarbeiten an Materialien wie Textilien, Metall und Knochen zeigen) zu erfassen.

Schlussbemerkungen

Die Gewalt der chilenischen Diktatur soll nicht auf die Vernichtung von Gegnern zwischen 1973 und 1990 beschränkt werden. Vielmehr handelt es sich um ein geistiges, soziales und wirtschaftliches Phänomen, das als sedimentierter Rückstand im Alltag bis heute fortbesteht. Die Diktatur Pinochets war einerseits Ausdruck der Zerstörung linker Projekte der Volksartikulation und andererseits der Schaffung neuer neoliberaler Subjektivitäten, die mit Blut besudelt waren. Von Chile aus, unserem Platz in der Welt, erleben wir derzeit das Scheitern von Slogans wie Nunca más (dt. Nie wieder), mit den jüngsten Menschenrechtsverletzungen, die durch den Verlust des Sehvermögens von Hunderten von Menschen infolge von Polizeigewalt gekennzeichnet sind. Welche Beziehung besteht also zur Vergangenheit der Diktaturen?

Es ist denkbar, dass im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Putsches von 1973 versucht wird, mit dieser Zeit abzuschließen. Ein Ausdruck dafür sind Sprüche wie „Warum immer wieder über die Diktatur sprechen?“ oder „warum immer wieder diese Vergangenheit zurückbringen“ (Fuenzalida, 2017, S. 134). Aber die Frage setzt voraus, dass die Vergangenheit bereits vergangen ist, und das Problem besteht darin, dass es noch nicht geschafft wurde, diese Vergangenheit in der Gegenwart abzuschließen, weil sie eben nicht vergangen ist (Fuenzalida, 2022).

Die diktatorische Vergangenheit bleibt ein unbewältigter Bruch, der in unserer Gegenwart verankert ist. Dabei handelt es sich um einen Zustand der Lebenserfahrung nach der Katastrophe, mit dem tiefen Gefühl einer schmerzhaften Vergangenheit, die nicht vergeht und die an die Subjektivität des Erlebten appelliert. Gerade deshalb, weil sie so intensiv ist, erzeugt sie Hass, Ressentiments und Gleichgültigkeit. Im Rahmen des Gedenkens an den Staatsstreich 1973 wurden verschiedene Fernsehserien, mehrere Podcasts und Kunstwerke veröffentlicht. Eines der eindrucksvollsten ist zum Beispiel der Einsatz von künstlicher Intelligenz, um die Stimme des ermordeten Liedermachers Víctor Jara wiederzubeleben. So ist es nun möglich, Jaras Stimme zu hören, wie er das Gedicht „Somos Cinco Mil“ rezitiert7, das er während seiner Gefangenschaft im Nationalstadion schrieb, wenige Stunden bevor er ermordet wurde (Fundación Víctor Jara, 2023).

Eine weitere Maßnahme war die Einweihung einer Fotoausstellung über den Putsch durch das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos (dt. Museum für Erinnerung und Menschenrechte) im Rahmen des internationalen Lollapalooza-Festivals Lolla Creative (Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, 2023). Von Seiten der chilenischen Regierung gab es dagegen nur wenige Initiativen. Die wichtigste ist die Ankündigung des Nationalen Suchplans, einer öffentlichen Politik, die darauf abzielt, „die Umstände des Verschwindens und/oder des Todes der Opfer des gewaltsamen Verschwindens systematisch und dauerhaft zu klären, in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen des chilenischen Staates und den internationalen Standards“ (Subsecretaría de los Derechos Humanos, 2023). Damit wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, das hoffentlich eine Antwort auf das Schicksal von mindestens 3.200 Menschen geben wird, die unter dem diktatorischen Regime getötet wurden beziehungsweise die man verschwinden ließ, ohne dass bisher erklärt wurde, wie diese Tragödie aufgeklärt werden soll und ob es letztendlich zu Gerechtigkeit führen wird.

Auf jeden Fall verblüfft immer wieder die bezeichnende Tatsache der Bombardierung des Palacio de la Moneda durch die Kampfflugzeuge Hawker Hunter, die in Hunderten von Sofortbildern übertragen wurde. Diese Bilder, die die Fundamente der im Volk verwurzelten politischen Ordnung erschütterten und die unbegrenzte, noch nie dagewesene und groteske Kraft zusammenfassen, versetzen uns immer wieder in Erstaunen (NTV, 2023). Die Bilanz ist zweifellos düster, denn es scheint, dass das institutionalisierte Schweigen von offizieller Seite mit dem Slogan vom „Gedächtnis für die Zukunft“ belegt wird. Auf Seiten der Zivilgesellschaft lässt sich das Bedürfnis beobachten, eine schmerzhafte Vergangenheit zu beschönigen – was letztendlich dazu führt, dass die Erinnerung immer mehr an die Fäden des kulturellen Vermarktung gefesselt wird, wodurch sie dem Missbrauch zum Opfer fällt und an Bedeutung verliert. Das Projekt der Unidad Popular und der gestürzte Präsident Salvador Allende wurden so zu Statuen, Denkmälern und künstlerischen Kreationen, die man aus der Ferne betrachten muss. Dies sind Prinzipien, die nicht zu den Bürgern gebracht wurden, um andere Zielgruppen zu erreichen. Es scheint, dass die einzige Realität die biologische Zeit ist, welche gnadenlos gegen das Leben der Zeugen, Zeuginnen und Überlebenden läuft. Menschenrechtsorganisationen und Erinnerungskollektive werden weiterhin abgekapselt und isoliert in ihren Forderungen nach dem Slogan „Wo sind sie?“, als ob die Diktatur nur sie erreicht hätte – der Rest der Zivilbevölkerung stellt sich taub.

Wie Michael Pollak (1989) feststellte, befinden wir uns an einem Wendepunkt in der Debatte über die Erinnerung, mit dem Konflikt über das Ungesagte und der Herausforderung, andere Narrative zur Sprache zu bringen – zum Beispiel solche, die nicht offiziell sind (Frauen, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Kindheit und andere). Wir wissen immer noch nicht, wie alle Beteiligten der chilenischen Gesellschaft erreicht werden können, denn man selber ist weit davon entfernt, einen Konsens über die Fakten dieser Art von Gewalt zu erreichen. In diesem Sinne ist die von der Archäologie eingebrachte materielle Perspektive von großer Bedeutung., die u. a. unsichtbare Szenarien und Konflikte ans Licht bringt und materielle Kontexte zur Verfügung stellt, die ohne Textualität für sich selbst sprechen und Vergangenheit und Gegenwart wieder miteinander verbinden.

Gleichzeitig scheint es, als ob der soziale Ausbruch von 2019 eine sehr ferne und schwer fassbare Zeit wäre. Denn nur eine Minderheit erinnert sich an die neuen Menschenrechtsverletzungen und es hat sich bereits ein Diskurs etabliert, der die Praktiken des sozialen Protests als „Oktobrismus“ im Sinne von bloßen Straftaten und Gewalttätigkeiten betrachtet. Die Ablehnung des gescheiterten verfassungsgebenden Prozesses führte zu einem Triumph der extremen Rechten, die ihrerseits neue politische Stärke erlangte. Noch heute gibt es in Chile politische Parteien wie die Unión Demócrata Independiente (UDI), die stolz ihr Festhalten am Pinochetismus bekräftigen und den Putsch als endgültigen Triumph über den Marxismus feiern. Diese Art von Diskurs hat ein neues Echo in Teilen der Bevölkerung gefunden, die vorgeben, nach vorne zu blicken, die Fakten der politischen Gewalt leugnen und die wirtschaftliche Leistung und die Figur Pinochets als antikommunistischen Helden rechtfertigen.

Im Gegensatz zu den üblichen Auffassungen von Erinnerungsorten, die eine „Passivität“ der materiellen Hinterlassenschaften als „vergangene Vergangenheit“ unterstreichen, wird aus archäologischer Perspektive die Materialität eher als transzendentale Instanz für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Erinnerung. In den von Bürgerkollektiven geleiteten Begleitprojekten wird erwartet, dass die Begegnungen mit technischen und professionellen Einrichtungen zunehmen. Anders als in Argentinien und Uruguay besteht eine der Herausforderungen in Chile darin, die institutionelle Anerkennung des Beweiswerts der materiellen Überreste zu erreichen, um damit zu beginnen, die Schulden zu begleichen, die u. a. das Justizsystem vor allem den Überlebenden und Angehörigen, aber auch der chilenischen Gesellschaft als Ganzes gegenüber noch hat.

Die zeitgeschichtliche Archäologie versucht in aller Bescheidenheit, einen Beitrag zu einer solchen Reflexion zu leisten – und zwar angesiedelt in der Diskussion über die Materialität der Diktatur insofern als „Ruinen-Gegenwart“. Von dort aus wird vorgeschlagen, das Wundmal der Vergangenheit als politisches Lehrstück zu betrachten, das die Zerbrechlichkeit einer sozialen Ordnung widerspiegelt, wobei sie entgegen der allgemeinen Auffassung eher gegenwärtig ist. Darüber hinaus fördert sie das Entstehen neuer Ressourcen für die Reflexion über den Charakter der Menschheit, die auf der Anerkennung des Wertes der Negativität und des abscheulichen Charakters der Gewalt des Geschehenen beruhen. Durch die Erforschung von Aspekten, die normalerweise beiseite gelassen werden (und deren Sichtbarkeit in sich selbst einen Widerspruch darstellt wie beispielsweise weggeworfene, versteckte, vergessene Gegenstände, Orte und Menschen), ist es nicht nur möglich, den Schlüssel zum Verständnis der Geschehnisse zu finden, sondern vielleicht auch ein neues Gewissen zu wecken.

Abschließend könnte feststellt werden, dass die strukturelle Straflosigkeit als Schwerpunkt der sozialen Schwierigkeiten und die anhaltend geringen Fortschritte in Bezug auf die Rechte (für das Leben, die Wahrheit und die Erinnerung) ist. Dieser schränkt die Träume derjenigen von uns ein, die das neoliberale Kultur- und Wirtschaftsmodell, das unsere Praktiken überflutet, ändern möchten. Die Gegenwart stellt sich als eine Zeit der Erschöpfung und des Verfalls alter Narrative vor, zumal es bemerkenswert ist, wie der Schmerz, der durch die Vergangenheit der Diktatur in Chile verursacht wurde, vollständig in unseren Körpern inkarniert ist, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass er uns immer noch nicht erlaubt, angemessen damit umzugehen. Dabei ist es annehmbar, dass Disziplinen wie die Archäologie gelingt, aus der Untersuchung und Sichtbarmachung der materiellen Hinterlassenschaften der jüngsten Vergangenheit heraus, einen neuen Impuls für die Reflexion zu eröffnen. Es ist auch möglich, dass die Marktkräfte des kulturellen Konsums der Erinnerung die Möglichkeit des Verstehens um des Spektakels willen untergraben. Es ist durchaus denkbar, dass die ultrakonservativen Sektoren in den Medien und bei der Durchsetzung von Narrativen wahrscheinlich noch stärker in Erscheinung treten werden. In einer Situation, in der der hegemoniale Diskurs eher flüchtig und auf das „Zentrum“ konzentriert ist, halten wir es für wichtig, die „Ränder“ zu beleuchten und das Unsichtbare wieder sichtbar zu machen. Auch wenn der vor uns liegende Weg mit Schwierigkeiten behaftet ist, beweist die Tatsache, dass wie weiter träumen, dass wir nicht besiegt wurden.

 



Literatur

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Abbildungen

Abb. 1: Der tägliche Spaziergang meines Haustiers in der Nachbarschaft, vorbei an der Fassade der Ex-Ollagüe-Kaserne, dem heutigen Haus der Erinnerung José Domingo Cañas (Foto der Autorin, 2022).

Abb. 2: Aufkleber zur Kennzeichnung eines Ortes als Stelle der unrechtmäßigen Verhaftung von Demonstranten während des sozialen Ausbruchs in Santiago (Bilder der Autorin, 2019).

Abb. 3: Mikro-Ausgrabungsarbeiten an Fensterstürzen, London 38 (Foto mit freundlicher Genehmigung von Andrea Martínez, 2019).

Abb. 4: Gedenken an die Verlesung des Urteils über das gewaltsame Verschwinden von fünf jungen Menschen aus dem Cuartel Borgoño (Foto der Autorin, 2017). Die als „Fall der Fünf“ bekannten jungen Männer wurden zuletzt lebend im CCD Borgoño gesehen, wo sie am 9. und 10. September 1987 entführt wurden, also wenige Monate nach dem Plebiszit, das den Ausstieg aus der Diktatur beschloss.

Abb. 5: Ausgrabungen, bei denen von den Gefangenen errichtete Bauten der Lagers Melinka Puchuncaví freigelegt wurden (Foto der Autorin, 2021).

 

Fußnoten

1 Chilenischer Schriftsteller (1942–2001), der nach dem Staatsstreich von 1973 in der DDR im Exil lebte. Er schilderte die Erfahrung der Entwurzelung und etablierte sich als einer der großen Romanciers des Übergangs. Dazu: https://quetzal-leipzig.de/printausgaben/ausgabe-15-16-linke-in-lateinamerika/carlos-cerda-santiago-berlin-einfach

2 Pinochet blieb bis zum 10. März 1998 Oberbefehlshaber der Armee und wurde am folgenden Tag zum Senator auf Lebenszeit ernannt, ein Amt, das er faktisch einige Monate lang innehatte.

3 Londres 38 war ein Zentrum der Unterdrückung, der Folter und der Ausrottung. Nach jahrelangen Anprangerungsaktionen ist es heute ein Ort der wiedergewonnenen Erinnerungen, der der Gemeinschaft und den sozialen Organisationen offensteht. Sie befindet sich im Stadtzentrum von Santiago, im denkmalgeschützten Viertel „París-Londres“, in der Nähe des Stadtzentrums. Siehe: https://www.londres38.cl/1937/w3-propertyvalue-37489.html (Abruf am 8.9.2023)

4 Der 1977 per Dekret gegründete CNI war der wichtigste politische Polizei- und Nachrichtendienst, der während der Diktatur in den 1980er Jahren als Organ der Verfolgung, Entführung, Folter, Ermordung und des Verschwindenlassens von politischen Gegnern fungierte.

5 Gemeinnützige Organisation, die sich aus Überlebenden, Familienmitgliedern, Nachbarn und Menschenrechtsaktivisten zusammensetzt und sich um die Wiederherstellung der historischen Erinnerung an die Borgoño-Kaserne bemüht, siehe: https://www.youtube.com/watch?v=VQa0lhQRt24&ab_channel=Fundaci%C3%B3nV%C3%ADctorJara (Abruf am 8.11.2023)

6 Gemeinnütziger Verein zur Förderung einer Kultur der Menschenrechte durch die Förderung der Geschichte und des Gedenkens an das politische Häftlingslager Melinka-Puchuncaví. Siehe: https://melinkapuchuncavi.cl/nuestra-mision-vision/ (Abruf 8.11.2023)

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Gonzalo Compañy

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