50 Jahre nach dem Putsch vom 11. September 1973, durch den die Regierung der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende durch die Armee gestürzt worden war, leidet Chile immer noch unter dem Erbe der blutigen Diktatur von General Augusto Pinochet. Mehr als ein Symbol dieser historischen Last ist die chilenische Verfassung. Sie trat 1980 in Kraft und hatte die Funktion, die Diktatur und das ihr zugrunde liegende neoliberale Wirtschaftsmodell zu institutionalisieren. Auch nach dem Ende der Diktatur 1990 bildete die Verfassung Pinochets den Rahmen für den Übergang (Transición) zur Demokratie. Obwohl in deren Verlauf die zahlreichen „autoritäre Enklaven“ teilweise abgebaut werden konnten, „gilt diese mehrmals überarbeitete Verfassung mittlerweile weniger als demokratischer Stabilitätsanker denn als Absicherung einer starren Elitendemokratie. Deshalb zementiert sie eher den Status quo, beispielsweise durch die hohen erforderlichen Quoren für Verfassungsreformen und eine Reihe von Gesetzesinitiativen“ (Zilla/Schreiber 2020, S. 2). Als die Bevölkerung Chiles im Oktober 2019 in einer sozialen Revolte gegen die rechte Regierung von Sebastián Piñera (11. März 2018 – 11. März 2022) revoltierte, stand schon bald die Forderung nach einer völlig neuen Verfassung im Zentrum der breiten Protestbewegung. Es gelang ihr gegen alle Widerstände, einen verfassunggebenden Prozess zu initiieren, in dessen Ergebnis ein Verfassungsentwurf entstand, der in seiner Bedeutung weit über Chile und Lateinamerika hinausreicht. Die Hoffnung auf eine Neugründung Chiles zerbarst jedoch am 4. September 2022, als die neue Verfassung in einer Volksabstimmung mit 62 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Auch wenn oder: gerade weil der Prozess der Verfassunggebung noch nicht abgeschlossen ist, verlangt diese weit reichende und schmerzhafte Niederlage der linken Kräfte Chiles nach einer nüchternen Analyse. Der folgende Beitrag versteht sich als ein Versuch, Eckpunkte einer solchen Analyse zu benennen – ein Unterfangen, das mit Blick auf 1973 zweifelsohne die historische Dimension in den Blick nehmen muss.
50 Jahre Putsch gegen Allende – Demokratie und Diktatur im historischen Rückblick
Mit Blick auf Demokratie und Diktatur bietet Chile im lateinamerikanischen Kontext ein äußerst widersprüchliches Bild. Bis 1973 galt das Land als ein Muster an demokratischer Stabilität, die Armee pochte auf ihre Verfassungstreue, die Mittelschichten, politisch repräsentiert durch die Christdemokraten, gaben sich reformfreudig und die starke Arbeiterbewegung in Gestalt der Einheitsgewerkschaft CUC und zweier einflussreicher marxistischer Parteien – der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei – agierte innerhalb der demokratischen Institutionen. Mit dem Putsch kippte die vermeintliche Musterdemokratie in ihr Gegenteil um – unter Pinochet wurde Chile zur Musterdiktatur.
Zwar hatten die Militärs in anderen Ländern Lateinamerikas schon vorher ihre Diktaturen errichtet – 1964 in Brasilien, 1966 in Argentinien, 1971 in Bolivien und im Juni 1973 in Uruguay, aber keine wiesen jene Ausprägung und Kombination von Merkmalen auf, die der Pinochet-Diktatur den Status eines exemplarischen Falles verleihen. Dieser ergab sich einerseits aus der regionalen Konstellation zwischen Revolution und Konterrevolution nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959, andererseits aus den Besonderheiten des „chilenischen Weges zum Sozialismus“.
Salvador Allende und das linke Parteienbündnis der Unidad Popular (UP) waren 1970 mit 36,3 Prozent der Stimmen an die Regierung gelangt. Sie wollten die demokratischen Institutionen nutzen, um eine neue, sozialistische Gesellschaft zu errichten. Sowohl die USA als auch die chilenische Oligarchie taten alles, um dies zu verhindern. Noch vor dem Amtsantritt Allendes versuchten sie mit der Ermordung des Armeeoberbefehlshabers General René Schneider einen Putsch zu initiieren, was jedoch scheiterte. Die Umsetzung des UP-Programms (Nationalisierung des Kupferbergbaus, Agrarreform im Interesse der Bauernschaft, Sozial- und Bildungsprogramme für die Volksklassen, anti-imperialistische Außenpolitik) führte einerseits zur wachsenden Mobilisierung ihrer Anhänger, andererseits zu einer sich zuspitzenden Polarisierung zwischen den Anhängern und Gegnern dieser Agenda. Als klar wurde, dass Allende trotz aller Destabilisierungsversuche seine soziale Basis hatte erweitern können, putschte die Armee gegen die „unbewaffnete Revolution“ (Patricio Guzmán).
Gerade die große Ausstrahlung der chilenischen Revolution und die mit ihr verbundenen führten dazu, dass sich die gegen sie gerichtete Konterrevolution besonders reaktionär und repressiv gebärdete. Mit seinem „importierten Faschismus“ löste Pinochet einen tiefen Schock in der chilenischen Gesellschaft aus, der bis heute nachwirkt. Dieses Vorgehen erleichterte die Einführung des Neoliberalismus (ab 1975) durch die sog. Chicago-Boys. Diese besondere Verbindung von faschistischer und neoliberaler Konterrevolution wurde institutionell durch die Verfassung von 1980 manifestiert und abgesichert. Dieses konstitutionelle Arrangement führte dazu, dass das politische Regime auch nach 1990 auf engste mit dem zuvor implantierten neoliberalen Ausbeutungs- und Disziplinierungsmodell verbunden blieb.
Kampf gegen die Diktatur – wie und mit welchem Ziel?
Die historische Dimension des chilenischen Weges zum Sozialismus zeigt sich nicht zuletzt in der linken Debatte über die Ursachen seiner Niederlage. Im internationalen Kontext polarisierte sie sich im Kern um zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen von paradigmatischer Bedeutung: Auf der einen Seite formulierten die italienischen Kommunisten unter Führung von Enrico Berlinguer in Auswertung der „Ereignisse in Chile“* ihre neue Strategie des „historischen Kompromisses“. Diese setzte auf die Gewinnung der Mittelschichten als entscheidende Voraussetzung für den demokratischen Weg zum Sozialismus in Italien. Andere Kommunistische Parteien Westeuropas – vor allem in Frankreich und Spanien – übernahmen diesen Ansatz, der unter dem Begriff des „Eurokommunismus“ in die Geschichte eingegangen ist. Auf der anderen Seite rückte in Lateinamerika (wieder) der bewaffnete Weg der Revolution in den Vordergrund. Im Sieg der bewaffneten Revolution der Sandinisten 1979 in Nicaragua sahen viele Linke die Bestätigung eines solchen Strategiewechsels.
Nach dem Abflauen der massiven Repression ab 1978 und der Implementierung der Verfassung 1980 entwickelte sich in Chile vor dem Hintergrund der tiefsten Wirtschaftskrise seit 1929 ab 1983 eine breite Protestbewegung, in der sich schon bald zwei Lager herausbildeten, die im Kampf gegen die Pinochet-Diktatur unterschiedliche Strategien verfolgten. Auf der einen Seite kam es am 6. August 1983 zur Gründung der Demokratischen Allianz (Alianza Democrática – AD), eines Mitte-Links-Bündnisses aus Radikaler Partei, Republikanischer Partei, Christdemokraten, einem Flügel der Sozialistischen Partei, Sozialdemokratischer Partei und der Sozialistischen Volksunion, die bis zum 2. Februar 1988 Bestand hatte. Neben der AD entstand am 20. September 1983 die Demokratische Volksbewegung (MDP), ein linkes Bündnis aus Kommunistischer Partei, dem MIR, einem Flügel der Sozialisten und anderen Gruppierungen, das sich am 26. Juni 1987 auflöste. Auf dem rechten Rand gründeten die Anhänger Pinochets am 24. September die UDI (Unión Demócrata Independiente). Ende des Jahrestrat die linke Guerillaorganisation Frente Patriótico Manuel Rodríguez (FPMR) an die Öffentlichkeit, die eine Politik der „Rebelión Popular de Masas“ vertrat. Am 7. September 1986 verübte ein Kommando der FPMR ein Attentat auf Augusto Pinochet, das dieser jedoch knapp überlebte.
Mit dem „Nein“ zur Verfassung von 1980 trat der Kampf gegen die Pinochet-Diktatur 1988 in seine Endphase. Die Mitte-Links-Parteien der Concertación nutzten die Gelegenheit, um durch Verhandlungen mit Vertretern der Diktatur ihre Strategie des Übergangs umzusetzen. In deren Ergebnis sicherte der Elitepakt bruchlos die Verwaltung jenes neoliberalen Modells, das seinen Ursprung in Muster-Diktatur Pinochets hat.
Demokratiedefizit und Neoliberalismus lösen soziale Rebellion aus
Als Anfang Oktober 2019 die Metropreise in der chilenischen Hauptstadt Santiago erhöht wurden, brachte dies die lange aufgestaute Unzufriedenheit der Bevölkerung am 18. Des Monats zum Überkochen. Die aufgebrachten Menschen besetzten Metrostationen, Busse gingen in Flammen auf und die Proteste nahmen Massencharakter an. Daraufhin verkündete Staatspräsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand für die Hauptstadt – eine Maßnahme, die seit dem Ende der Diktatur wegen politischer Unruhen erstmals zur Anwendung kam. Der Einsatz bewaffneter Soldaten in den Straßen von Santiago provoziert weiteren Widerstand. Die Proteste weiten sich zu einer Bewegung für eine Verfassungsreform und für tiefgreifende Reformen des Wirtschaftssystems aus. Anders als bei den Schüler- und Studentenprotesten 2011-2012 wurden sie von einer breiten Bevölkerung getragen.
Am 20. Oktober verkündete Piñera die Zurücknahme der umstrittenen Preiserhöhungen. Tags darauf weitet die Regierung den Ausnahmezustand auf neun der zwölf Regionen des Landes aus und spricht angesichts der Unruhen erstmals von einem Krieg. Obwohl die Regierung am 22. und 23. Oktober eine Reihe von Sozialmaßnahmen – Erhöhung der Mindestrente und des Mindestlohns, gesenkte Medikamentenpreise, niedrigere Steigerung von Gesundheits- und Stromkosten, höhere Steuern für Bezieher von hohen Einkommen und eine Senkung der Gehälter von Abgeordneten und hochrangigen Staatsbeamten- versprochen hatte, fand am 25. Oktober eine gewaltige Demonstration statt, an der nach Angaben der Oberstadtdirektion von Santiago etwa 1,2 Millionen Menschen teilnahmen. Bei dieser von Gewerkschaften und sozialen Organisationen initiieren Massenaktion soll es sich um die größte Kundgebung in der Geschichte des Landes gehandelt haben. In zahlreichen weiteren Städten wurde ebenfalls demonstriert. Einen Tag später kündigte Piñera eine umfassende Umbildung seiner Regierung an. Am 30. Oktober musste er aufgrund der anhaltenden Unruhen die für Dezember in der Hauptstadt Santiago de Chile geplante 19. UN-Klimakonferenz absagen. Am 10. November kündigte Innenminister Gonzalo Blumel schließlich die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an und erfüllte damit eine der zentralen Forderungen der Demonstranten.
Chiles neue Chance: Eine Verfassung für das 21. Jahrhundert
Am 25. Oktober 2020 stimmten rund 78 Prozent der Wahlberechtigten in einem Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die von einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet werden sollte. Im Mai 2021 folgten dann die Wahlen zum
Verfassungskonvent, wo vor allem die etablierten und rechten Parteien eine Niederlage erlitten und linke – darunter viele unabhängige, parteilose – Kandidierende gewählt wurden. Der Konvent umfasste 155 Sitze und war paritätisch zusammengesetzt. Die indigene Bevölkerung war mit 17 Sitzen vertreten. Der Entwurf der neuen Verfassung lag nach einem Jahr harter Arbeit am 16. Mai 2022 vor und wurde am 4. Juli feierlich an den neuen Präsidenten Gabriel Boric übergeben.
In mehr als 200 Artikeln hatten die sieben thematischen Ausschüsse und Kommissionen des Konvents einen Text vorgelegt, der nicht nur mit der Vergangenheit brach, sondern in vielerlei Hinsicht weit in die Zukunft weist. Seine Befürworter „betrachteten den Entwurf als eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt und zugleich als historische Chance für Chile“ (Wissenschaftliche Dienste des deutschen Bundestages, Nr. 14/22, 13. Oktober 2022, S. 1). Bereits im Artikel 1 wird der rote Faden des Entwurfs sichtbar:
„Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell und ökologisch. Chile ist als solidarische Republik konstituiert, die Demokratie ist paritätisch und erkennt die Würde, die Freiheit, die substantielle Gleichheit der Menschen und ihre unauflösliche Beziehung zur Natur als intrinsische und unveräußerliche Werte an. Der Schutz und die Gewährleistung der individuellen und kollektiven Menschenrechte sind die Grundlage des Staates und bestimmen sein gesamtes Handeln. Es ist die Aufgabe des Staates, die notwendigen Bedingungen zu schaffen und die Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die nötig sind, um Gleichberechtigung und die Integration der Menschen in das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben zu gewährleisten, damit sie sich voll entfalten können.“ (Zitiert in: Pineda Olcay 2022, S. 2)
Im Weiteren wird ausdrücklich das Recht auf Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit und Unterkunft gewährleistet, womit für Chile endlich die Voraussetzungen gegeben wären, das neoliberales Erbe zu überwinden und einen Pfad nachhaltiger und sozial ausgewogener Entwicklung zu beschreiten. Im Entwurf werden ferner die Existenz und die Selbstbestimmung all jener Völker und Nationen anerkannt, die das Land vor der Kolonialzeit besiedelt haben und es seitdem bewohnen. Damit würde das Prinzip der Plurinationalität, das während der letzten Jahrzehnte zum festen Bestandteil des neuen lateinamerikanischen Konstitutionalismus geworden ist, erstmals auch in Chile angewendet werden. Dies beinhaltet auch die volle Ausübung der kollektiven und individuellen Rechte der indigenen Völker.
Neu ist ebenfalls die starke Berücksichtigung von Umwelt. So sind im Entwurf die Rechte der Natur und die besondere Sorgfaltspflicht des Staates gegenüber natürlichen Gemeingütern, wie beispielsweise Gletschern oder Meeren, ebenso verankert wie das Recht aller Menschen auf ausreichendes und sauberes Wasser. Für Chile, das seit der Privatisierung der Wasserrechte unter Wasserknappheit leidet, ist dies ein Meilenstein auf dem Weg zu einer sozial gerechteren Gesellschaft, zumal dieses Problem infolge des Klimawandels an Brisanz gewinnt.
Besonders umstritten sind jene Artikel des Entwurfs, in denen das politische System neu geregelt werden sollte. So war vorgesehen, den Senat abzuschaffen und ihn durch eineKammer der Regionen zu ersetzen, wobei zugleich vorgesehen war, dem Abgeordnetenhaus mehr Befugnisse einzuräumen. In Chile wäre damit ein völlig neues politisches System entstanden, das ein asymmetrischen Zwei-Kammer-Parlament mit einem Präsidialsystem vereint hätte. Wie sich das praktisch ausgewirkt hätte, muss offenbleiben. Viele Beobachter befürchteten, dass sich die bereits bestehende Tendenz der Zersplitterung der Parteienlandschaft verstärken würde. So konnte keine Einigung auf Prozenthürden für den Einzug ins Parlament gefunden werden. Auch der Begriff der politischen Parteien wurde nicht definiert – im Text war lediglich von politischen Organisationen die Rede. Der chilenischen Rechten ist er fortschrittliche Verfassungsentwurf ein Dorn im Auge. Mit einer harten Kampagne voller Verleumdungen und Falschmeldungen gelingt es ihr, die neue Verfassung in Verruf zu bringen. Als am 4. September in einem erneuten Referendum darüber abgestimmt wird, erleiden die Befürworter der zur Abstimmung stehenden Verfassung eine katastrophale Niederlage. Mit einer deutlichen Mehrheit von 62 Prozent wird der Entwurf mit Rechazo (dt.: Ich lehne ab) abgewiesen.
Erneute Niederlage
Nachdem sich der erste Schock gelöst hatte, initiierte das Parlament einen Neustart des verfassunggebenden Prozesses, bei dem nun die rechten Gegner des ersten Entwurfes das Heft des Handelns in ihre Hände nahmen. Dieser sieht die Beteiligung von drei Organen an der Entstehung einer neuen Verfassung vor: eine Expertenkommission, einen Ausschuss zur Prüfung der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben und einen Verfassungsrat. Nur letzterer wird direkt gewählt, was einer der zentralen Gründe ist, warum die meisten soziale Bewegungen den neuen Prozess kritisieren, während die am Abkommen beteiligten politischen Parteien ihnbegrüßen. Im ersten Schritt wurden Ende Januar 2023 vom Parlament 24 Experten vorgeschlagen – jeweils zwölf vom Senat bzw. Abgeordnetenhaus. Diese paritätisch besetzte Expertenkommission ist am 6. März erstmals zusammengekommen. Ihre Aufgabe besteht darin, einen ersten Entwurf für die neue Verfassung zu erarbeiten, die dann dem Verfassungsrat übergeben wird. Dessen Mitglieder wurden am 7. Mai unter allgemeiner Wahlpflicht gewählt. Die Sitze werden geschlechterparitätisch besetzt, außerdem gibt es reservierte Plätze für Vertreter indigener Gemeinschaften, mit denen sie – gemessen an den Bevölkerungsanteilen – über der Zahl der Sitze für die Mehrheitsgesellschaft liegen. Der Verfassungsrat hat ab dem 7. Juni fünf Monate Zeit, um den neuen Verfassungstext zu verabschieden. Am 17. Dezember dieses Jahres soll dann der fertige Text in einem erneuten Referendum zur Wahl gestellt werden.
Bei den Wahlen zum Verfassungsrat hat der Partido Republicano mit 35,42 Prozent der abgegebenen Stimmen alle anderen Parteien überflügelt. Die extrem rechte Partei stellt 23 Mitglieder des 51 Mitglieder umfassenden Gremiums. Dies verleiht ihr ein Vetorecht, mit dem sie jede Initiative blockieren kann, die Eingang in die neue Verfassung finden könnte.
In fast allen Regionen des Landes ging die vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast angeführte Partei als eindeutiger Gewinner hervor. Die rechte Allianz Chile Seguro, bestehend aus den traditionellen rechten Parteien Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI) sowie der liberalen Evópoli, blieb weit hinter den Erwartungen zurück und erhielt nur 21,07 Prozent der Stimmen (11 Sitze). Das linke Regierungsbündnis Unidad para Chile kam mit nur 28,57 Prozent der Stimmen (16 Sitze) auf den dritten Platz und schnitt damit noch schlechter ab als beim Referendum im September 2022. Besonders tief stürzte die von der Christdemokratischen Partei (PDC) angeführten Wahlallianz Todo por Chile ab. Von den erhofften fünf Sitzen erhielt sie keinen, obwohl sie mit prominenten Kandidaten angetreten war. Für die chilenische Christdemokratie war dies eine weitere enttäuschende Niederlage, die sie weiter in die politische Bedeutungslosigkeit treibt.
Auf der Suche nach Erklärungen
Wie ist dieser jähe Umschwung vom euphorischen Aufbruch in eine erneuerte Demokratie, in der der Staat im Dienst der Gesellschaft und ihrer Lebensgrundlagen stehen sollte, zu einer derart massiven Niederlage zu erklären? Diese Frage mussten sich besonders die Linken stellen, die mehrheitlich den Entwurf der neuen Verfassung geprägt hatten und nun vor einem Scherbenhaufen standen. Im Rückblick werden verschiedene Ursachen genannt, die in ihrem Zusammenwirken zum Scheitern des Verfassungsreferendums vom 4. September 2022 geführt haben. In einer ersten Einschätzung kommen die Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages (Nr. 14/22, 13. Oktober 2022, S.2) zu folgendem Schluss:
„Im Vorfeld der Abstimmung gab es eine massive Kampagne der politischen Rechten gegen den Entwurf, da diese ihre Interessen und Privilegien bedroht sahen und teils mit Falschmeldungen zur Verunsicherung in der Bevölkerung beitrugen. Auch wurden Ängste geschürt, die neue Verfassung führe zu einem wirtschaftlichen Untergang des Landes und Chile könne zu einem ‚zweiten Venezuela‘ werden. Für das Scheitern wird auch die aktuell schwierige wirtschaftliche Lage in Chile und die zunehmende Kriminalität angeführt. Mit einer Inflationsrate von mehr als 13 Prozent gerate der Wohlstand der Mittelschicht in Gefahr und die Armut in den unteren Bevölkerungsschichten steige an, so dass wichtige Anliegen der neuen Verfassung, wie etwa Bürgerrechte und Klimaschutz, in der Diskussion in den Hintergrund gerieten.“
Selbstkritische Analysen der Befürworter des Entwurfs nennen die Vernachlässigung der direkten Kommunikation mit der Bevölkerung und konservative Denkmuster als wichtige Ursachen des Scheiterns. Demgegenüber verfügten die Macher der Rechazo-Kampagne über eine überwältigende Medienmacht, die von der Presse über Think Tanks, Werbeagenturen bis zur Dominanz in den sozialen Medien reichte. Fast 80 Prozent der Wahlspenden gingen an die Kampagne des Rechazo. Zu den Geldgebern gehörten die größten Unternehmen und Angehörige der reichsten Familien Chiles. Während die Rechten sich schon frühzeitig auf Referendum konzentriert hatten, steckten die sozialen Bewegungen und die Linken ihre ganze Kraft in die Arbeit am Verfassungstext. „Wir dachten gar nicht an das Referendum, sonderngingen einfach davon aus, dass wir es gewinnen würden“, schätzt eine Aktivistin selbstkritisch ein.
Anders als bei früheren Wahlen gab es beim Referendum vom 4. September eine Wahlpflicht. Während die Wahlbeteiligung sonst bei rund 50 Prozent gelegen hatte, betrug sie diesmal 86 Prozent. „Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft und diejenigen, die nie zuvor gewählt haben und entpolitisiert sind, zu erreichen“, erklärte eine Umweltschützerin, die ebenfalls im Konvent mitgearbeitet hatte. Auch die gerade auf dem Lande verbreiteten konservativen Denkmuster wurden von den Befürwortern unterschätzt, während die Rechten an diese gezielt anknüpften. Häufig kritisiert wurden auch die Länge und die Kleinteiligkeit des Verfassungstextes mit 388 Artikeln auf mehr als 160 Seiten. Neben Grundfehlern im Design und Zeitdruck nennt Elisa Giustinianovich, eine frühere Angehörige des Verfassungskonvents, den Mangel an politischer Bildung. „(S)o etwas wie Gesellschaftskunde gibt es im chilenischen Bildungssystem nicht. Viele Menschen wussten nicht einmal, was eine Verfassung ist.“ (Löhning/ Yañez 2022, S. 6/7; die vorhergehenden Einschätzungen basieren ebenfalls auf dieser Quelle)
Wie weiter?
Die große Unbekannte des zweiten Anlaufs zu einer neuen Verfassung ist die Frage, wie sich die Delegierten der Partido Republicano (PR)** positionieren werden. Die extrem rechte Partei ging aus einer Abspaltung der UDI hervor und wurde am 10. Juni 2019 gegründet. Bereits zuvor hatte ihr Vorsitzender José Antonio Kast bei den Präsidentschaftswahlen 2017 mit über 500.000 Stimmen mehr als einen Achtungserfolg verbuchen können. Bei den Präsidentschaftswahlen vom 21. November 2021 erhielt er knapp zwei Millionen Stimmen, was einem Anteil von 28 Prozent entspricht. In der folgenden Stichwahl kam er auf 44,13 Prozent (3.650.662 Stimmen).
Politiker und Parteien mit einem ähnlichen Profil sind in Lateinamerika eine relativ neue Erscheinung. Diese Welle begann mit den Wahlsiegen von Jair Bolsonaro in Brasilien (2017) und Nayib Bukele in El Salvador (2019). Auch in anderen Ländern der Region hat die neue extreme Rechte an Boden gewonnen, wie die Beispiele von Libertad Avanza (Vorwärts, Freiheit) in Argentinien, Renovación Popular (Erneuerung des Volks) in Peru und Cabildo Abierto (Offene Bürgerversammlung) in Uruguay zeigen. Auch wenn sich der Führungsstil von Kast vom egozentrischen Auftreten Bolsonaros oder Trumps unterscheidet, zeigt nicht zuletzt der 50. Jahrestag des Putsches gegen Allende, wessen Geistes Kind Kast und seine Partei sind. So verkündete er kürzlich, dass „Chile sich am 11. September 1973 für die Freiheit entschieden habe und das Land, das wir heute haben, den Männern und Frauen zu verdanken sei, die sich erhoben haben, um die marxistische Revolution in unserem Land zu verhindern“ (Rovira Kaltwasser).
Rovira Kaltwasser macht neben einer Strömung, die „eher dogmatisch und fanatisch“ ist und „wenig Interesse“ zeigt, die „Vielfalt der Ideen und Interessen zu respektieren, die in der heutigen chilenischen Gesellschaft nebeneinander zu finden sind“, Stimmen aus, „die sich nicht nur als dialogbereit, sondern auch als den Institutionen verbunden verstehen“. Aus diesen „zwei Gesichtern der extremen Rechten“ – so die Überschrift seines Artikels – leitet Rovira Kaltwasser zwei mögliche Verhaltensweisen des PR im verfassunggebenden Prozess ab. Zum einen könnte sich der dogmatisch-fanatische Flügel durchsetzen, was zur Folge hätte,„dass jeglicher Hinweis auf einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat verweigert wird“.
Zum anderen könnte sich der PR „als aufgeschlossener Akteur“ zeigen, „der sich um breiteZustimmung bemüht und versucht, eine ‚Verfassung light‘ zu erarbeiten, das heißt einen Verfassungstext, der eher kurz gehalten ist und wirtschaftliche sowie moralische Fragen nicht eng vorgibt, sodass diese von künftigen Mehrheiten geregelt werden können.“
Führt man diesen Ansatz fort, dann ergebt sich im Falle der ersten Möglichkeit für den verfassunggebenden Prozess eine weitere Alternative. Ein extrem rechter Entwurf könnte – ähnlich wie der erste Entwurf von 2022, aber unter entgegengesetzten Vorzeichen – in den Augen einer Mehrheit den Bogen überspannen und eine Gegenreaktion auslösen, so dass ein derartiger Entwurf im folgenden Referendum abgelehnt werden würde. Dann wäre ein dritter Anlauf nötig und das Kräftemessen um eine neue Verfassung würde in eine neue Runde gehen. Am 17. Dezember 2023 werden wir mehr wissen.
* Unmittelbar nach dem Putsch vom 11. September veröffentlichte die theoretische Zeitschrift der IKP „Rinascita“ unter der Überschrift „Gedanken zu Italien nach den Ereignissen in Chile“ eine dreiteilige Artikelserie (am 28, September, 5. und 12. Oktober) ihres Generalsekretärs Enrico Berlinguer. Dort forderte er: „Aus dem Komplex der Unterschiede und Gemeinsamkeiten (zwischen Italien und Chile – P.G.) müssen grundlegende Übereinstimmungen abgeleitet werden, der italienische Weg zum Sozialismus gründlich untersucht und besser präzisiert werden, worin er besteht und wie er vorankommen kann“ (Berlinguer, S. 367).
** Die Ausführungen zum Partido Republicano stützen sich vor allem auf den Artikel von C. Rovira Kaltwasser.
Literatur:
Abufom Silva, Pablo/ Nohales, Karina: Chile – eine Verfassung für alle (Interview). Nachricht der Rosa Luxemburg Stiftung vom 24. Juni 2022, Abruf vom 1. August 2023 unter: https://www.rosalux.de/news/id/46704/chile-eine-verfassung-fuer-alle
Berlinguer, Enrico: Für eine demokratische Wende. Berlin 1975 (bes. S. 360-386)
Gay, Arlette/ Sánchez, Christián/ Schildberg, Cäcilie: Chiles historische Chance. IPG vom 21. Juli 2022, Abruf vom 31.7.2023 unter: www.ipg-journal.de/regionen/lateinamerika/artikel/chiles-historische-chance-6085/
Jakob, Olaf/ Erdmannsdörffer, Caroline: Deutlicher Rechtsruck bei Wahl des Verfassungsrates in Chile. Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht Mai 2023
Löhning, Ute/ Leonel Yañez: Warum haben die Menschen in Chile den Verfassungsentwurf abgelehnt? Nachricht der Rosa Luxemburg Stiftung vom 29. November 2022, Abruf vom 28. Juli 2023 unter: https://www.rosalux.de/news/id/49595/warum-haben-die-chileninnen-den-verfassungsentwurf-abgelehnt
Pineda Olcay, Javier: Chile macht sich auf den Weg. Nachricht der Rosa Luxemburg Stiftung vom 1. Juni 2022, Abruf vom 1. August 2023 unter: https://www.rosalux.de/news/id/46609/chile-macht-sich-auf-den-weg
Rovira Kaltwasser, Cristóbal: Die zwei Gesichter der extremen Rechten. IPG vom 6. Juni 2023, Abruf vom 2. August 2023 unter: https://www.ipg-journal.de/regionen/lateinamerika/artikel/die-zwei-gesichter-der-extremen-rechten-6739/
Zilla, Claudia/ Schreiber, Franziska: Zum Verfassungsprozess in Chile. SWP-Aktuell Nr. 23, März 2020
Bildquellen: Quetzal-Redaktion [1]_gc [2-3]_cs