Der 50. Jahrestag des Putsches gegen Salvador Allende war für uns Anlass, noch einmal die Trilogie La Batalla de Chile anzuschauen. Während wir noch einmal in jene drei Jahre voller Hoffnung und harter Kämpfe eintauchten, kam uns die Idee, das bewegende Werk des Regisseurs Patricio Guzmán zu rezensieren. Der zwischen 1975 und 1978 entstandene Film setzt am Vorabend der letzten freien Wahlen im März 1973 ein und endet am Tag nach dem Putsch vom 11. September 1973. Teil 1 (La insurrección de la burguesía – Der Aufstand der Bourgeoisie) und Teil 2 (El golpe del estado – Der Staatsstreich) folgen der Chronologie der Ereignisse, während Guzmán im dritten Teil (El poder popular – Die Volksmacht) als eigenständigen Film konzipiert hat, der ein tieferes Verständnis der solidarischen Praxis der Arbeiter und des Klassenkampfes vermittelt. Nach der Besprechung der ersten und zweiten Teile fokussiert der Quetzal abschließend auf den dritten Teil.
Teil 3: Die Volksmacht
Teil 3 der Trilogie „La batalla de Chile“ setzt Mitte 1972 ein und zieht eine kurze Bilanz der ersten 18 Monate Regierungszeit der Unidad Popular. Die Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt wichtige Teile ihres Programms verwirklicht. Die Bergbaubetriebe waren verstaatlicht worden, die meisten Monopole befanden sich unter staatlicher Kontrolle. Sechs Millionen Hektar Land wurden „entprivatisiert“, ebenso die Mehrzahl der in- und ausländischen Banken. Breite Teile der Bevölkerung stehen nach wie vor hinter Allende.
Gleichzeitig verfolgte die Opposition, unterstützt von den USA, weiterhin ihr Ziel, die sozialistische Regierung zu stürzen. Einen neuen Höhepunkt erreichten diese Versuche mit dem 1. Streik der Transportunternehmen, der am 11. Oktober 1972 begann und in der Folge von weiteren wirtschaftlichen Gruppierungen unterstützt wurde, wie z.B. der Gesellschaft für Landwirtschaft und dem Verband der kleinen und mittleren Händler. Im Ergebnis des Streiks fuhren 70 Prozent der Autobusse nicht, blieben Läden geschlossen, kam es zu Versorgungsengpässen und großen Problemen, den Grundbedarf zu decken. Betriebe, insbesondere große Unternehmen, stellten die Produktion ein; Führungskräfte und Techniker schlossen sich dem Streik an, Unternehmer und Führungskräfte verließen die Betriebe. Terrorakte und Attentate durch rechte Stoßtrupps gehörten fast zum Alltag. Es ist das erklärte Ziel der Opposition, das Land ins Chaos zu stürzen und die Armee zum Eingreifen zu bewegen, um „das Land zu retten“. Präsident Allende rief schließlich den Notstand aus und beauftragte die Armee, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Diese folgte der Aufforderung zum Ungehorsam nicht.
In dieser Situation kam es zu einer starken und breiten Mobilisierung unter den Anhängern der Regierung. Patricio Guzmán beschäftigt sich in seinem Film mit diesen Basisbewegungen, ihrem Bemühen, in den Betrieben und Kommunen Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen sollten, gesellschaftliche Entwicklungen stärker selbst zu steuern.
Die im Film dargestellten Initiativen von Arbeitern zielten zunächst vor allem darauf, das im Zusammenhang mit dem Transportarbeiterstreik weitgehend lahm gelegte öffentliche Leben so weit wie möglich wiederherzustellen und Produktionsausfälle zu vermindern. Die Mehrheit der Arbeiter stand auf Seiten der Regierung und wollte weiterarbeiten. Also übernahmen sie die Produktion in Eigenregie; erfahrene Arbeiter wurden zu Produktionsleitern, regierungsnahe Ingenieure betreuten mehrere Betriebe. Die Beschäftigten schützten ihre Betriebe vor Angriffen und Übernahmen durch Kräfte der Opposition.
Zugleich musste der Transport der Rohstoffe und Waren, aber auch der Beschäftigten organisiert werden. Also stellten Arbeiter LKWs zu Verfügung, die die nicht streikenden Busfahrer unterstützten. Um die Versorgungssituation zu verbessern, gingen Betriebe zum Direktverkauf ihrer Waren über. Die Beschäftigten lieferten ihre Waren direkt in die Wohnviertel. Bereits im April 1972 wurde per Gesetz mit den Juntas de Abastecimiento y Control de Precios (JAP) eine Versorgungs- und Preiskontrolle geschaffen, um gegen den grassierenden Schwarzmarkt und die Versorgungsengpässe vorzugehen. Die Kommunen organisierten flankierend eigene Maßnahmen, um die Grundversorgung zu sichern. Geschlossene Läden wurden wieder geöffnet, die Lieferung und Verteilung der Waren organisiert und die Geschäfte vor Plünderungen geschützt. Das erfolgte vollkommen freiwillig, im Ehrenamt würde man hierzulande sagen. Schlussendlich, so wird im Film festgestellt, gelang es, die Versorgung in den Arbeitervierteln zu sichern.
Die neu geschaffenen Strukturen zur Selbstorganisation in den Betrieben und Kommunen verstetigten sich zusehends und verfolgten immer mehr das Ziel, die Kontrolle über Produktion und Verteilung von Waren zu erlangen. Sie bauten auf bereits bestehenden Erfahrungen auf. Mit dem Machtantritt der Unidad Popular hatten Aktionen zur Selbstermächtigung in Industrie und Landwirtschaft zugenommen, vor allem Land- und Betriebsbesetzungen sowie Streiks (zur Unterstützung der Regierung). Die Arbeiter und Bauern nahmen die Volksmacht ernst, sie nahmen diese kurz entschlossen in ihre Hände. Die Kommune Maipú, im Süden der Hauptstadt gelegen, sollte zur Geburtsstätte einer neuen Form der Organisation von Kommunen und Beschäftigten werden, der Cordones Industriales.
Maipú mit seiner starken Konzentration an Industriebetrieben (Textilherstellung, Aluminium-, Kupferverarbeitung und Glasherstellung) verfügte über eine gute Tradition basisdemokratischer Bewegungen. Allein 1972 gab es 63 Streiks, acht davon im ländlichen Sektor. Der Cordón Cerrillos-Maipú entstand als direkte Reaktion auf den Streik der Fuhrunternehmer und Händler. Bereits vor diesem, im April 1972, gab es in Maipú eine erste Mobilisierung mit einer großen öffentlichen Versammlung, in der Kommissionen für die Bereiche Gesundheit, Wohnen und Verkehr eingesetzt wurden, mit dem Ziel, das Leben in der Kommune besser zu organisieren (vgl. Silva 2020). Schließlich schlossen sich 250 Betriebe zum Cordón Cerrillos-Maipú zusammen. Hinzu kam eine enge Koordination mit umliegenden landwirtschaftlichen Betrieben. Arbeiter und Bauern unterstützten sich gegenseitig bei Aktionen und Konflikten mit den Besitzern. Stillgelegte Fabriken wurden ebenso wie schlecht bewirtschaftete Landgüter besetzt und von den Beschäftigten übernommen, um die Produktion zu sichern. Diese Operationen waren bestens organisiert und abgesichert, und es war das erste Mal, dass Arbeiter und Bauern ihre sozialen Kämpfe gemeinsam austrugen.
Mitte 1973 gab es in ganz Chile 31 Cordones Industriales, acht davon in der Hauptstadtregion. In diesen Cordones entwickelten sich, in Zusammenarbeit mit den Betrieben, Strukturen zur Lösung der Versorgungsprobleme. Volksläden und Volkslagerhäuser entstanden, die Verteilung von Grundgütern erfolgte im Direktvertrieb. In einer Szene des Films heißt es: „Wir haben nicht die Macht, nur die Regierung“. Und genau das sollte nunmehr mit den Cordones geändert werden, von der Basis aus. Auf Demonstrationen und in Versammlungen wird die Forderung nach der Volksmacht laut, und die Akteure in den Cordones Industriales verstehen sich als solche, als „wahre Macht der organisierten Kommunen“. Es ist ihr ausdrückliches Ziel, die Regierung zu unterstützen und zu stärken. Doch es herrschte zunehmend Frustration, weil die Entwicklung viel zu langsam voranging und die Arbeiter und Bauern sich von der Regierung nicht ausreichend unterstützt fühlten. Aus diesem Grund hielten sie es für notwendig, alternative Strukturen einer Volksversammlung zu schaffen. Im Land entstand eine Volksmachtbewegung.
In den Cordones wurde verlangt, Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft zu enteignen, wenn diese die Produktion vernachlässigten bzw. ganz einstellten. Volksmacht sollte auch heißen, dass das Volk die Produktion selbst übernimmt. Das erfordere einen Abbau der Bürokratie, bessere Planung in den Staatsbetrieben sowie mehr Enteignungen von Unternehmen, damit die Versorgung im Land verbessert werden kann. Der Film zeigt beindruckende Beispiele für das große Engagement und den Ideenreichtum der Werktätigen, den diese entwickeln, um die Produktion in Gang zu halten und zu verbessern. Doch die Besetzung der Betriebe stieß auf rechtliche Schranken; die Unternehmer arbeiteten mit Tricks, um einer Enteignung wegen Inaktivität zu entgehen. Und die Justiz stand auf ihrer Seite.
In diesen Auseinandersetzungen fühlten sich die Arbeiter und Bauern oft von der Regierung allein gelassen. Im Film sind verschiedene Diskussionen zu sehen, in denen Arbeiter Regierungsfunktionäre zur Rede stellen, die die Bewegung ihres Erachtens nicht ausreichend unterstützten. Dabei stand auch deren Absetzung zur Debatte.
In „Die Volksmacht“ wird wiederholt darauf hingewiesen, dass einige Linksparteien in der Regierung über diese Bewegungen und Initiativen beunruhigt waren. Allerdings gehen die Filmemacher nicht näher darauf ein. Natürlich waren in den Cordones auch Mitglieder von Regierungsparteien der Unidad Popular und teils selbst der Christdemokraten aktiv, die Misere betraf schließlich alle. Im Cordón Cerrillo-Maipú wirkten aus dem linken Parteienspektrum insbesondere Vertreter der Revolutionären Linken (MIR) oder auch des Partido Comunista Revolucionario, einer maoistischen Abspaltung von der Kommunistischen Partei, offiziell mit (vgl. Silva 2020). Beide gehörten nicht zur Unidad Popular. Die Parteien der Regierungskoalition verhielten sich meist abwartend bis beschwichtigend, die Kommunisten noch stärker als die Sozialisten. Die Regierungsvertreter waren in ihrem Bemühen, der Opposition keine Handhabe für ein weiteres juristisches Vorgehen gegen die Regierung zu geben, dem ‚Sozialismus von unten‘ nicht immer freundlich gesonnen.
Die Aktivisten in den Cordones wurden deshalb mehr oder weniger ausgebremst, man warf ihnen sogar vor, gegen die Regierung zu arbeiten und eine parallele Macht etablieren zu wollen (vgl. Silva 2020). Die unter Allende-Anhängern immer drängender werdenden Debatten über eine bessere Mobilisierung der Massen und den Übergang zum Sozialismus dürften deshalb nicht immer auf ausreichendes Verständnis unter den Regierungsvertretern gestoßen sein. Möglicherweise wurde damit Potenzial für die Schaffung neuer demokratischer Strukturen und einer gut organisierten breiten und schlagkräftigen Volksbewegung verschenkt. Nachdem die Cordones während des Tanquetazo zur Unterstützung der Regierung ‚ihre‘ Betriebe noch einmal unter ihre Kontrolle brachten, erlahmte ihre Dynamik im August 1973 zusehends. Im September wurde die Volksmacht schließlich gewaltsam beendet.
Die Schlacht um Chile – Teil 3: Die Volksmacht
Regie: Patricio Guzmán
Chile/Kuba 1979, 79 Min.
Literatur:
Silva, Miguel: Breve historia del Cordón Cerrillos-Maipú. In: Revista de frente. 8. September 2020. www.revistadefrente.cl/breve-historia-del-cordon-cerrillos-maipu-por-miguel-silva/