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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Ein Teufel zuviel – Uruguay kämpft immer noch mit dem Erbe der Diktatur

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Die Erinnerung an den Putsch, der vor nunmehr 50 Jahren – am 27. Juni 1973 – in Uruguay stattfand, ist nach wie vor umkämpft. Die Putschisten errichteten eine Diktatur, die erst 1985 ihr Ende fand. Bei den dann einsetzenden Auseinandersetzungen über die Schuld der Täter und die Ursachen der Diktatur standen sich zwei Lager gegenüber, die bis heute die erinnerungspolitische Debatte bestimmen: Während die einen dem Narrativ der „zwei Teufeln“ folgen, halten dem die anderen ihr „Nunca más!“ (dt. Nie wieder!) entgegen. Warum tut sich ein Land, das einmal als die „Schweiz Südamerikas“ galt, so schwer, die dunklen Seiten seiner Vergangenheit aufzuarbeiten? Hinzu kommt, dass Uruguay von 2005 bis 2020 vom Linksbündnis des Frente Amplio regiert wurde. Dennoch ist es auch in diesen 15 Jahren nicht gelungen, die Hauptverantwortlichen der Diktatur zur Verantwortung zu ziehen, während im Nachbarland Argentinien in dieser Hinsicht viel mehr erreicht wurde. Auch in Chile wurden zahlreiche Täter, die ihre Opfer im Namen des Staates folterten und ermordeten, verurteilt. Immerhin wurde 2010 in Uruguay der 1971 gewählte Präsident Juan María Bordaberry wegen Verfassungsbruch, seiner Verantwortung bei der Errichtung der Diktatur und wegen weiterer Delikte zu 30 Jahren Haft verurteilt. Wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, dass die Verantwortung des Staates für die Errichtung der Diktatur offiziell immer noch nicht klar benannt wird und die juristische Aufklärung der damals verübten Verbrechen derart schleppend verläuft? Warum werden diese mit dem Verweis auf „zwei Teufel“ immer noch relativiert? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir bis zu den Auseinandersetzungen der 1960er Jahre zurückgehen und die wichtigsten erinnerungspolitischen Akteure benennen.

Schleichender Putsch in der Schweiz Südamerikas

Der Weg in die Diktatur erfolgte in Uruguay schleichend. Bis in die 1950er Jahre galt Uruguay als stabile Demokratie mit einem der höchsten Lebensstandards weltweit. Die Bevölkerung des flächenmäßig zweitkleinsten Landes Südamerikas (177.000 km² – nur Surinam ist mit 163.819 km² noch kleiner) konzentriert sich in der Hauptstadt Montevideo, wo heute 1,3 Mio. von insgesamt 3,4 Mio. Menschen leben. Uruguay, das wegen seiner einseitigen Bevölkerungsverteilung auch als „eine Stadt mit Bauernhöfen im Hinterland“ bezeichnet wurde, war vor allem auf den Export von Fleisch und Agrarprodukten spezialisiert. Dieses traditionelle Wirtschaftsmodell geriet in den 1960er Jahre in eine tiefe Krise.

Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern kam es unter dem Eindruck der kubanischen Revolution 1959 auch in Uruguay zur Bildung einer Guerillaorganisation. Im Mai 1965 gründeten sich die Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional–Tupamaros/MLN–T), die ihr Aktionsfeld aufgrund der Besonderheiten des Landes vor allem im urbanen Bereich hatten und damit als die erste Stadtguerilla gelten. Auf diese Entwicklung reagierte der Staat mit zunehmender Repression und Militarisierung. Ab 1968 wurde immer wieder der Ausnahmezustand verkündet. Anfang der 1970er Jahre fanden vielfältige Widerstandsaktionen wie Streiks im Gesundheitswesen, Strompreisboykott, selbstorganisierten Schulen im öffentlichen Raum, Protestcamps von Arbeitslosen statt. Ausgehend von den sozialen Kämpfen organisierte sich am 5. Februar 1971 in Gestalt des Frente Amplio ein breites Linksbündnis, das aus dem Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten mit Fraktionen der Colorados (Partido Colorado) und Blancos (Partido Nacional) hervorging. Unter der Führung von General Liber Seregni erreichte es bei den im gleichen Jahr stattfindenden Wahlen auf Anhieb 18 Prozent der Stimmen und bereitete damit dem traditionellen Zweiparteiensystem von Colorados und Blancos ein Ende.

Kurz nach seinem Amtsantritt erklärte der Ende 1971 gewählte Präsident Bordaberry am 15. April 1972 den Zustand des „inneren Krieges“ und setzte die bürgerlichen Freiheiten außer Kraft. Diese Maßnahmen wurden mehrfach – im September 1972, im November 1972 und im März 1973 – von der Nationalversammlung verlängert. Am 10. Juli 1972 trat ein neues Staatssicherheitsgesetz in Kraft, das es erlaubte, politische Gefangene vor Militärgerichten zu verurteilen. Hohe Militärs übernahmen wichtige Regierungsämter und weiteten ihren Einfluss aus. Als Bordaberry am 27. Juni 1973 auf Druck der Armee das Parlament auflöste, war die Errichtung einer zivil-militärischen Diktatur vollendet.

Zwölf Jahre Staatsterrorismus á la Uruguay

Dass der gewählte zivile Präsident trotz Machtergreifung der Armee im Amt verbleiben konnte, ist eine der Besonderheiten der Diktatur im zweitkleinsten südamerikanischen Land. In den 1960er Jahren setzte in Lateinamerika eine „diktatorische Welle“ ein, die ganz im Zeichen der von Washington initiierten „Doktrin der nationalen Sicherheit“ stand. Mit Hilfe der Armee sollte auf dem Kontinent ein zweites Kuba mit verhindert werden. Im Kampf gegen den „inneren Feind“ – in den Augen der USA und ihrer lokalen Sachwalter zählten dazu alle linken Kräfte – erwiesen sich jene Militärdiktaturen als besonders effektiv, in denen die Armee als kollektive Institution die Macht übernahm. In ihrem Selbstverständnis standen die Militärs, die der oben genannten Doktrin folgten, als die einzigen legitimen Verteidiger der nationalen Sicherheit über der Verfassung. Ihre Hauptaufgabe sahen sie darin, Staat und Gesellschaft so umzubauen, dass jeder Ansatz einer „kommunistischen Gefahr“ bereits im Ansatz erstickt werden konnte.

Den neuen diktatorischen Reigen eröffnete die brasilianische Armee, die mit Unterstützung der USA 1964 die Macht ergriffen hatte, um eine Agrarreform zugunsten der verarmten Bauernschaft zu verhindern. General Hugo Banzer, der Bolivien von 1971 bis 1978 als Diktator regierte, erwies sich als gelehriger Schüler. Ein viertel Jahr nach Bordaberry putschte General Augusto Pinochet am 11. September 1973 die Regierung der Unidad Popular in Chile aus dem Amt. Zweieinhalb Jahre später, am 24. März 1976 errichteten die argentinischen Militärs ihre blutige Herrschaft. Eine Ausnahme bildet Peru, wo die Armee unter Führung von Juan Velasco Alvarado (1968-1975) antioligarchische und antiimperialistische Reformen durchsetzte, die von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt und unterstützt wurden. Gegenüber der in Chile und Argentinien praktizierten Brutalität erscheint die Diktatur in Uruguay weniger repressiv. Während die Zahl der „Verschwundenen“ in den ersten beiden Ländern mehr als 3.000 (Chile) bzw. bis zu 30.000 (Argentinien) beträgt, geht man im Fall von Uruguay „nur“ von über 200 verschwundenen Ermordeten (gesichert sind 197 Fälle) aus. Hier bildeten Verhaftungen und Folterungen das Hauptinstrument der Repression. Während der Diktatur (1973-1985) wurden insgesamt etwa 50.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, was dem südamerikanischen Land den zweifelhaften Ruf bescherte, weltweit die größte Zahl – gemessen an der Bevölkerung – von Gefangenen zu haben.

Eine weitere Besonderheit der Diktatur in Uruguay bestand darin, dass ihr Ende ähnlich schleichend verlief wie ihre Anfänge. Im Unterschied zu den meisten Diktaturen verstanden hier die Militärs ihre Herrschaft offiziell als eine Art Übergangsmodell. Eine neue Verfassung sollte die Transition zu der von ihnen angestrebten „Demokratie“ sichern und ihren Einfluss auf den Staat dauerhaft legitimieren. Zu diesem Zwecke ließ die Diktatur 1980 eine Volksabstimmung abgehalten, die jedoch scheiterte. Lediglich 42,8 Prozent stimmten dafür.

Paktierter Übergang

Mit dieser Niederlage war zugleich die Demontage der Diktatur eingeleitet. Im November 1983 nahmen mehr als 400.000 Menschen an einem nationalen Protestmarsch gegen die Diktatur teil. Im selben Jahr gründeten die Angehörigen der „Verschwundenen“, die von den Militärs verhaftete worden waren, die Organisation „Madres y Familiares de Uruguayos Detenidos Desaparecidos“ (Famides). 1984 legte der erste Generalstreik während der Diktatur die Wirtschaft und das öffentliche Leben lahm. Im Hintergrund liefen Verhandlungen zwischen den Militärs und Vertretern der politischen Parteien über die Rahmenbedingungen für eine Rückkehr zur Demokratie. Am 3. August 1984 wurden zwischen beiden Seiten der Pacto de Club Naval vereinbart, der diesen Übergang regelte. Am 25. November 1984 fanden dann erstmals wieder demokratische Wahlen statt. Der Colorado-Politiker Julio Maria Sanguinetti wurde zum ersten post-diktatorischen Präsidenten Uruguays gewählt und übernahm am 1. März die Regierungsgeschäfte. Im Wahlkampf hatte er dafür geworben „das Blatt wenden“ und einen kompletten Neustart vollziehen zu wollen. Seine Transitionspolitik beinhaltete im ersten Schritt die Entlassung der politischen Gefangenen. Außerdem kündigte er die Einrichtung einer Sonderkommission an, um die Rückkehr der 350.000 Exilanten zu erleichtern. Seine Antrittsrede enthielt jedoch keinen Verweis auf Maßnahmen zur Aufklärung oder Strafverfolgung der Verbrechen der Diktatur. Ende 1985 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Wiedereingliederung von Beamten, die während der Diktatur aus politischen Gründen entlassen worden waren. Dem folgte am 21. Dezember 1986 die Verabschiedung des Gesetzes 15.848, das so genannte „Ley de Caducidad“ (dt. Hinfälligkeitsgesetz), das auch als „Gesetz der Straflosigkeit“ bezeichnet wird. Es garantiert allen Polizisten und Militärs Straffreiheit für Verbrechen zwischen dem Staatstreich vom 27. April 1973 und der Wiederherstellung der Demokratie. Im Senat, in dem drei Parteien – die Colorados (PC), die Blancos (PN) und der Frente Amplio (FA) – vertreten waren, stimmte nur die FA-Fraktion geschlossen sowie drei Senatoren des PN gegen das Gesetz. Auch in der Abgeordnetenkammer wurde durch eine Mehrheit aus Colorados (außer einem Abgeordneten stimmte die gesamte Fraktion dafür) und Blancos (20 dafür; 13 dagegen) das Amnestiegesetz gebilligt. Der Frente Amplio stimmte wieder geschlossen dagegen. Auch die beiden Abgeordneten der Unión Civica lehnten das Gesetz ab. Das „Ley de Caducidad“ gilt bis heute als Wurzel der zögerlichen Aufarbeitungspolitik des Landes. Präsident Julio María Sanguinetti war von Anfang an bemüht, eine politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden. Er war der Meinung, dass ein Schlussstrich die notwendige Voraussetzung für die Befriedung und Versöhnung der Gesellschaft bilde.

Der Kampf gegen die Straflosigkeit beginnt

Die Transitionsphase von August 1984 bis Ende 1986 bildete zugleich die erste Etappe im Kampf um die Aufklärung und die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der Diktatur. Bereits Ende 1984 hatten Menschenrechtsorganisationen die Einrichtung einer Wahrheitskommission gefordert. Zur Aufklärung des Schicksals der „Verschwundenen“ und des Mordes an den beiden prominenten uruguayischen Politikern Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz wurden zwar parlamentarische Untersuchungskommissionen gebildet, die jedoch über wenige und unklare Kompetenzen verfügten. Ohne politische Rückendeckung seitens der Regierung blieb deren Arbeit von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet und verlief deshalb im Sande.

Nach dieser für die Opfer und ihre Angehörigen bitteren Enttäuschung richteten sich die Hoffnungen der Menschenrechtsbewegung auf die Gerichte. Die Zahl der Strafanzeigen wegen mutmaßlicher menschenrechtlicher Verbrechen erreichte im Dezember 1986 bereits einen Stand von 734 Fällen Daraufhin forderten Präsident Sanguinetti und die Militärführung immer nachdrücklicher eine „politische Lösung“ zur Beendigung der Prozesse. Mit den unmittelbar bevorstehenden richterlichen Vorladungen von Militärangehörigen stieg der Druck, so dass sich Ende 1986 ein Teil der Opposition mit dem Argument einer drohenden Staatskrise von der Notwendigkeit einer weitreichenden Amnestie überzeugen ließ. Schließlich setzte das „Ley de Caducidad“ der Strafverfolgung von Militär- und Polizeiangehörigen ein abruptes Ende.

Mit der zunehmenden öffentlichen Kritik an der Entscheidung des Parlaments begann eine zweite Etappe der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Diktatur, die vom Januar 1987 bis April 1989 reichte. Sie war geprägt von einem Prozess umfassender gesellschaftlicher Mobilisierung, der darauf abzielte, das „Hinfälligkeitsgesetz“ durch eine Volksabstimmung zu Fall zu bringen. Trotz des entschiedenen Widerstands der Exekutive gelang in knapp elf Monaten, die für ein Plebiszit erforderliche Zahl von Unterschriften zusammenzutragen. Im März 1989 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung über die verheerenden Ausmaße der Diktaturverbrechen. Jedoch bewirkte die erneute Warnung vor einer Staatskrise, dass sich bei der Abstimmung am 16. April 1989 keine Mehrheit für die Aufhebung des Amnestiegesetzes fand.

Umkämpfte Erinnerung

Während der ersten demokratischen Regierung von Julio María Sanguinetti (1985-1990) etablierte sich ein Diskurs, der den Staatsterrorismus legitimierte. Mit dem Argument, die junge Demokratie befände sich noch in einem prekären Zustand, wurde die juristische Verfolgung der Verbrechen der Diktatur verhindert. Diejenigen, die daran interessiert waren, den Staat von allen Gräueltaten während der Diktatur freizusprechen, griffen auf die in Argentinien entwickelte „Theorie der zwei Teufel“ (span. Teoría de los dos demonios) zurück, mit der die Schuld der Guerilla und des Militärs gleichgesetzt wurden. Dagegen erhoben sich in den 1990er Jahren Stimmen, die unter dem Motto „Wahrheit, Erinnerung, Gerechtigkeit“ und „Nunca Más!“ (dt. Nie wieder!) staatliche Akteure für die Errichtung der Diktatur und die von ihr begangenen Verbrechen verantwortlich machten. „Nie wieder!“ gilt in ganz Lateinamerika als Symbol des Kampfes gegen den Staatsterrorismus. Unter ihm versammeln sich Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Studierendenvereinigungen, Frauen- und andere soziale Bewegungen sowie linke Organisationen und Parteien, um die Erinnerungen an die Opfer wachzuhalten und die Bestrafung der Täter zu fordern. Die „Theorie der zwei Teufel“ will genau dies verhindern.

Bereits der Rückblick auf den Putsch von 1973 führt diese „Theorie“ ad absurdum. Ende 1972, also ein halbes Jahr vor dem Putsch, war es der Armee und den Sicherheitskräften Uruguays gelungen, die Tupamaros zu zerschlagen. Alle ihre Anführer saßen bereits im Gefängnis, als das Parlament von den Militärs mit Hilfe des amtierenden Präsidenten entmachtet wurde. Der wahre Grund des Putsches liegt darin, dass es versucht hatte, die Befugnisse der Armee zu beschneiden und Untersuchungen über deren Vorgehen einzuleiten. Man braucht nur den Entwurf der Verfassung, die 1980 trotz der Diktatur von der Mehrheit der Uruguayer und Uruguayerinnen abgelehnt worden war, zu studieren, um zu erkennen, dass die Militärs damit ihre Machtstellung zementieren wollten. Damit wird klar, dass die Bekämpfung der Guerilla nur ein Vorwand war, um den starken politischen Widerstand gegen die Putschisten zu brechen. Dem Staatsterror waren nicht nur die Tupamaros, sondern ebenso die Mitglieder, Unterstützer und Wähler der Frente Amplio ebenso wie die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen ausgeliefert.

Vom Schweigemarsch zur Kommission für den Frieden

Seit 1996 findet jährlich am 20. Mai einen Schweigemarsch statt, der durch die zentrale Avenida 18 de Julio in Montevideo führt. Immer mehr Menschen nehmen daran teil, so dass er inzwischen in fast allen Provinzen des Landes stattfindet. Trotz der beeindruckenden Teilnahme wirkt der Marsch auch beschwichtigend: Einmal im Jahr wird schweigend demonstriert, bei jedem Namen auf der Liste der 197 verschwundenen Gefangenen ruft man ¡Presente! (Anwesend!), singt die Nationalhymne und geht nach Hause. Die Frage „Wo sind sie?“, mit der der Schweigemarsch eröffnet wird, hält zwar die Erinnerung wach, führt aber nicht zu der weitergehenden Frage nach den Gründen für den Putsch und nach den Verantwortlichen für den Staatsterrorismus.

Im Vergleich zu den 1990er Jahren brachte der Amtsantritt von Präsident Jorge Batlle im März 2000 einen vergangenheitspolitischen Richtungswechsel. Im August 2000 veranlasste er die Einrichtung einer „Kommission für den Frieden“ (Comisión para la Paz). Ihr Auftrag bestand darin, Informationen über das Schicksal der „Verschwundenen“ zu sammeln, zu analysieren und systematisch auszuwerten. Trotz ihrer begrenzen Kompetenzen war die Arbeit der Kommission insofern von Bedeutung, als sie das Erbe der Diktatur erneut auf die politische Agenda brachte. Als die Kommission im April 2003 der Öffentlichkeit ihren Abschlussbericht präsentierte, musste der Staat erstmals offiziell seine Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit anerkennen.

Linke Regierungen, aber kein erinnerungspolitischer Durchbruch

Die Wahlen von 2004 (siehe Tabelle 1) markierte dann eine Zäsur im politischen Leben Uruguays. Erstmals gewann der Frente Amplio die absolute Mehrheit der Stimmen und stellte damit die erste Linksregierung Uruguays. Bis 2020 blieb Uruguay Teil der lateinamerikanischen Linkswende, die 1999 mit der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas ihren Anfang genommen hatte.

Tabelle 1: Wahlergebnisse 1984-2004 (in %)

 

1984

1989

1994

1999

2004

Partido Colorado

41,2

30,3

32,3

32,8

10,6

Partido Nacional

35

38,9

31,2

22,3

35,1

Frente Amplio

21,3

21,2

30,6

40,1

51,7

Nuevo Espacio

9

5,2

4,6

andere

2,5

0,6

0,7

0,2

2,6

Gesamt

100

100

100

100

100

In den 15 Jahren unter der Präsidentschaft von Tabaré Vázquez (2005-2010 und 2015-2020) und José Mujica (2010-2015) wurden zwar forensische Untersuchungen ermöglicht, die jedoch mit zahlreichen zeitlichen, personellen und finanziellen Einschränkungen behaftet waren. Auch der Zugang zu den offiziellen Archiven blieb schwierig. Vor allem soziale Bewegungen und Einrichtungen wie die „Mütter und Angehörigen der gewaltsam verschwundenen Gefangenen“, der „Dienst für Frieden und Gerechtigkeit“ (SERPAJ), die „Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener“ (CYSOL) und das „Institut für juristische und soziale Studien“ (Ielsur) erreichten Fortschritte bei der Untersuchung und Verurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

2009 mussten sie jedoch einen herben Rückschlag hinnehmen, als – wie schon 1989 – auch das zweite Referendum scheiterte, mit dem die Amnestie-Gesetze rückgängig gemacht werden sollten. Einige Strafverfahren sind inzwischen wieder aufgenommen worden. Fünf uruguayischen Militärs und einem Polizisten droht außerdem die Auslieferung nach Argentinien. In Uruguay wurde allerdings bisher kein einziger Militärangehöriger für die Menschenrechtsverletzungen rechtskräftig verurteilt, die während der Diktatur begangen worden waren.

Rückkehr der Rechten

2020 gewann Luis Lacalle Pou, Sohn des ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995), mit Hilfe einer Mitte-Rechts-Koalition, der die sich aus der Nationalen Partei, der konservativen Colorado-Partei, der sozialdemokratischen Unabhängigen Partei, der Militärpartei Cabildo Abierto und dem liberalen Partido de la Gente zusammensetzt. Angesichts dieser Zusammensetzung besteht wenig Hoffnung, dass es Fortschritte in der Erinnerungspolitik gibt. Hinzuweisen ist besonders auf den Einfluss des extrem rechten Cabildo Abierto, einer Partei, die 2019 als Reaktion auf die Entlassung des ehemaligen Armeechefs Guido Manini Ríos gegründet wurde, und immerhin elf Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die Mitglieder des Cabildo Abierto wollen in der Debatte zur Aufarbeitung der Vergangenheit „die ganze Wahrheit“ erfahren. So sollen auch Militärs und die „Opfer der Subversion“, wie sie es nennen, zu Wort kommen und anerkannt werden. Mit dieser Gleichsetzung von Opfern und Tätern greift die extreme, antikommunistisch fixierte Rechte auf der „Theorie der zwei Teufel“ zurück.

Ein Kontrapunkt wurde jüngst in einem Wiedergutmachungsakt gesetzt, der auf Forderung des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte am 15. Juni 2023 stattfand. In diesem musste der Staat die Verantwortung für die Ermordung von drei Tupamaras-Aktivistinnen übernehmen, die 1974 ermordet worden waren. Dies gilt auch für die Fälle des im selben Jahr gewaltsam verschwundenen Medizinstudenten und Aktivisten der Kommunistischen Partei Luis Eduardo González sowie für den 1977 gewaltsam verschwundenen kommunistischen Arbeiter Oscar Tassino Asteazu.

Selbst Präsident Luis Lacalle Pou, der diesem Akt ferngeblieben war, muss dem wachsenden Drucknach Aufklärung und Ahndung der Verbrechen der Diktatur nachgeben. Hatte er bei seiner vorherigen Kandidatur im Jahr 2014 noch erklärt, dass er es für notwendig halte, mit der Zeit der Diktatur abzuschließen und die forensische Suche nach den gewaltsam Verschwundenen einstellen zu lassen, so musste er diese Position sechs Jahre später ändern. Während des jüngsten Wahlkampfes bezeichnete Lacalle Pou diese Äußerungen als seinen schwersten politischen Fehler und erklärte: „Ich glaube zwar, dass Uruguay ein neues Kapitel aufschlagen muss, aber ich bin nicht der Richtige, um mich in die Lage derjenigen Uruguayer zu versetzen, die wissen wollen, was passiert ist“. Er werde alle Ressourcen zur Verfügung stellen, um die Ausgrabungen weiter fortzuführen.

Erinnerungspolitisches Patt

Der Wandel der Position von Präsident Lacalle Pou ist zweifellos eine Folge des wachsenden gesellschaftlichen Drucks. Die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit für die Verschwundenen und ihre Familien spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Menschenrechtsverletzungen während des Staatsterrorismus können nicht mehr einfach von der staatlichen Agenda genommen werden. Egal, welche politische Richtung die jeweilige Regierung vertritt, sie kann dieses Thema nicht mehr von der Tagesordnung streichen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es auch 50 Jahre nach dem Putsch nicht gelungen ist, der Straflosigkeit ein Ende zu setzen. Die Einsicht, dass es nur einen „Teufel“ – den des Staatsterrorismus – gibt, muss noch erkämpft werden. Noch immer verhindert die „Theorie der zwei Teufel“ einen Durchbruch im Umgang mit dem Erbe der Diktatur.

Für dieses erinnerungspolitische Patt lassen sich mehrere Gründe anführen. Erstens fällt die Terrorbilanz der Diktatur in Uruguay gegenüber Argentinien und Chile schwächer aus. Ausgehend davon hat sie es zweitens verstanden, ihren Gegnern und Opfern durch einen geschickt verhandelten Übergang zur Demokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Verabschiedung des „Hinfälligkeitsgesetzes“, das die Wurzel der zögerlichen Aufarbeitungspolitik bildet, liefert dafür den Beweis. Drittens dürfte die „Theorie der zwei Teufel“ das ihre dazu beigetragen haben, weitergehende Forderungen nach Ahndung der Verbrechen der Diktatur auszubremsen. Viertens ist das Militär eine nach wie vor mächtige Institution. Dies und die damit verbundene Furcht vor einer „Staatskrise“ waren wichtige Faktoren, die einen Erfolg der beiden Plebiszite von 1989 und 2009 verhindert haben.

 


 

Literatur:

Arnold, Alix: Erfahrungen der Tupamaros und die kommenden Aufstände. Ein (selbst)-kritischer Rückblick von Jorge Zabalza, in: ila 404 (April 2017) S. 54–56

Cordo, Azul/ Tomasini, Mauro: Umkämpfte Erinnerung. Uruguay 50 Jahre nach dem Putsch. Rosa Luxemburg Stiftung, Nachricht vom 21. Juni 2023 (Abruf vom 22.6.2023 unter: https://www.rosalux.de/news/id/50637/umkaempfte-erinnerung

Fuchs, Ruth/ Nolte, Detlef: Vergangenheitspolitik in Chile, Argentinien und Chile, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 42/ 2006, 16. Oktober 2006, S. 18-25

Informe Final de la Comisión para la Paz, unter: http://www.serpaj.org.uy/serpajph/documentos/d_copazfinal.pdf (27.7.2006)

Servicio Paz y Justicia: Uruguay – Nunca Más. Informe sobre la violación de derechos humanos (1972 – 1985). Montevideo 1989

Bildquellen: [1,3] Quetzal-Redaktion_cibela; [2] Quetzal-Redaktion_teje

 

 

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