Otto Pérez Molina ist seit dem 14. Januar neuer Präsident Guatemalas. Der Ex-General hatte im zweiten Wahlgang zwar nur in zehn der 22 Departements gegen seinen ebenfalls ultrarechten Kontrahenten, den Unternehmer Manuel Baldizón, gewonnen. Die große Zahl der mestizischen (in Guatemala: ladinischen) Wähler der Hauptstadt und der angrenzenden Vorstädte wie Mixco, wo nun sein Sohn, Otto Pérez Leal, als Bürgermeister amtiert, sicherten ihm jedoch einen komfortablen Vorsprung. Kabinett und Beraterkreis bestehen im Wesentlichen aus ehemaligen Militärs, Unternehmern und „Parteisoldaten“.
„Drogenkrieg“ nach mexikanischem Vorbild
Pérez Molinas Amtsantritt wurde von einem Doppelmord überschattet. Am 13. Januar gegen acht Uhr morgens erschossen Unbekannte im Zentrum der Hauptstadt von einem Motorrad aus den Kongressabgeordneten Valentin Leal Caal und seinen Bruder, die mit Leibwächtern in einem Auto unterwegs waren. Es wird spekuliert, dass Leal Caal vorhatte, von der Partei des unterlegenen Kandidaten LIDER zu Pérez Molinas Patriotischer Partei (PP) zu wechseln. Ein Zusammenhang zwischen dieser vermuteten Absicht und dem Attentat ist aber bisher unklar. Viele halten es hingegen für plausibel, dass das mexikanisch-guatemaltekische Drogenkartell der Zetas Pérez Molina eine Warnung verpassen wollte.
Erwartungen und Herausforderungen in Sachen „Sicherheit“ sind enorm für die neue Regierung. Zwar vermutet man auf der Basis genauerer statistischer Auswertungen, dass unter der Regierung Colom die Mordrate leicht gesunken ist, zumindest was den gewaltsamen Tod durch Feuerwaffen betrifft, dennoch bleibt sie mit 42 bis 44 pro 100.000 Einwohner (bzw. deutlich über 6.000 Toten pro Jahr in einem Land mit etwa 13 Millionen Einwohnern) „epidemisch” hoch. Das gleiche gilt für Raub, Erpressung, Entführungen, Waffenhandel etc. Korruption in Polizei, Militär, öffentlicher Verwaltung und Politik blühen weiter, und die mexikanischen Drogenmafias wie das Sinaloa-Kartell, vor allem aber auch die ultra-brutalen Zetas (eine Abspaltung des mexikanischen Golfkartells), breiteten sich in den letzten Jahren weiter aus. Sieht man von einigen Erfolgen seines Innenministers Vinicio Gómez ab, der 2008 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, gilt Coloms Konzept „La violencia se combate con inteligencia“ (Die Gewalt mit Intelligenz bekämpfen) rundweg als gescheitert.
Guatemalas Wirtschaft lebt zu einem guten Teil vom Drogengeld. Das Land ist Transportkorridor und Warenhaus der mexikanischen Kartelle, aber auch der seit den 70er Jahren fest in Drogengeschäften samt „Nebenzweigen“ verwurzelten einheimischen Familien wie den Mendozas, denen immer mal wieder Verbindungen zu Pérez Molinas „Patriotischer Partei“ (PP) nachgesagt werden oder den durch Festnahmen im Jahr 2010 geschwächten Lorenzanas. Einige Luftlandeplätze, z.B. im Petén, sind zwar offenbar stärkeren Kontrollen unterzogen worden, das hat aber nur zu einer Verlagerung, z.B. in das Nachbarland Honduras, und vermehrten Transporten auf dem Landweg geführt. Für die nächste Zeit wird erwartet, dass die Zetas versuchen werden, mit Hilfe von Geld und Terror ihre 2010 erreichte Vorherrschaft zu festigen. Die Verhängung und mehrfache Verlängerung des Ausnahmezustandes in Alta Verapaz habe ihnen nichts anhaben können, berichtete dazu kürzlich noch der letzte von insgesamt fünf Innenministern der Regierung Colom, Carlos Menocal. Hinzu kommt, dass Guatemala immer mehr zum Laboratorium ebenfalls sehr lukrativer synthetischer Drogen wird. Obwohl längst offensichtlich ist, dass das mexikanische Vorbild des angeblichen „Drogenkriegs“ weit mehr Schaden als Nutzen anrichtet, will „El General“ Pérez Molina offensichtlich zur Bekämpfung der Kartelle in erster Linie auf die Unterstützung der USA setzen und die militärische Karte spielen. Mitglieder der einst für die sogenannte „Aufstandsbekämpfung“ besonders geschulten und für ihre Menschenrechtsverletzungen berüchtigten Spezialtruppe „Kaibiles“ (Peréz Molina war selbst Ausbilder an der Kaibilschule) sollen gegen ihre früheren Kameraden vorgehen, die zu den Gründern der Zetas gehören.
Die Regierung Colom hinterlässt im Übrigen auch eine geschwächte Zivilpolizei. Die ehemalige Menschenrechtsaktivistin Helen Mack, die mit der Polizeireform beauftragt war, konnte zum Ende ihrer Amtszeit nur resigniert feststellen, dass ohne die nötigen Finanzmittel eben keine Veränderung möglich war. Die guatemaltekischen Gefängnisse gelten indes weiter als rechtsfreie Räume, aus denen heraus Bandenkriminalität, Mord, Menschenhandel und Erpressung dirigiert werden. Die Versuche, die sogenannten Maras in bestimmten Haftanstalten zu isolieren, waren nicht von Dauer.
Die neue Regierung steht vor dem Problem, rasch sichtbare Erfolge gegen die grassierende Gewalt im Land zu erzielen und zugleich die den Wählern versprochene autoritär geprägte Politik der „harten Hand“ so umzusetzen, dass die formaldemokratische Institutionalität erhalten bleibt, das Justizsystem womöglich sogar gestärkt wird. Letzteres würde auch eine gute Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft und mit der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bedeuten, deren Mandat im September 2012 ausläuft, laut Pérez Molina aber verlängert werden soll. Bezeichnend ist, dass die CICIG sich genötigt fühlte, gleich am 16. Januar eine Pressekonferenz abzuhalten, bei der sie sich gegen eine juristische Kampagne verteidigte, die darauf abziele, ihr wegen angeblicher Verfahrensfehler der Regierung Colom den legalen Status abzusprechen und alle ihre Aktionen seit Dezember 2011 für ungültig erklären zu lassen.
Vergangenheitsbewältigung: Zweierlei Justiz?
Pérez Molina rief die Guatemalteken in seiner Antrittsrede am 14. Januar zur bedingungslosen nationalen Versöhnung auf. Er betonte, er selbst und seine „ganze Generation“ habe unter dem Krieg gelitten und stellte unmissverständlich klar, was er von den Opferorganisationen, z.B. den Angehörigen der 45.000 verschleppten „Verschwundenen“ und ihren Forderungen hält: In den 15 Jahren seit den Friedensabkommen, die er für die guatemaltekischen Armee mitunterschrieben hatte, seien „der Geist und ein Teil der strategischen Ziele dieser Abkommen verraten worden; es ist sogar so, dass einige, die niemals selbst gekämpft haben und den Konflikt nicht einmal selbst erlebt haben, anscheinend nur darauf erpicht sind, nicht zuzulassen, dass wir ihn jemals überwinden. Im Gegenteil, sie leben offenbar davon und orchestrieren mit einiger internationaler Unterstützung immer weiter bestimmte Fälle.“
Trotz allen rhetorischen Eifers kommt aber auch der neue Präsident nicht ganz an der juristischen Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen während des internen bewaffneten Konfliktes (1960 – 1996) vorbei, die in den letzten Monaten enorme Fortschritte gemacht hat. Dem ehemaligen Staatschef General a.D. Rios Montt droht ein Prozess wegen Genozids (siehe noticia vom 30.Januar 2012), auch sein Generalstabschef Héctor López Fuentes (noticia vom 4.7.2011) wird wohl angeklagt werden. Im Juli vergangenen Jahres wurden erstmals Offiziere, die 1982 in der Siedlung „Las Dos Erres“ (Petén) an einem Massaker an der Zivilbevölkerung beteiligt waren, zu je 6060 Jahren Haft verurteilt (noticia vom 4.8.2011). Es ist zu vermuten, dass die USA, die große Teile der guatemaltekischen Politik entscheidend mitbestimmen, hier einen gewissen Druck auf die neue Regierung ausüben. So wird wohl auch Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz unter den Argusaugen der USA und der EU-Botschafter noch eine Weile im Amt bleiben.
Aber auch diese glänzende Medaille scheint eine dunkle Rückseite zu haben, ganz wie es dem Doppelgesicht des neuen Präsidenten entspricht. Da ist zum einen der Ex-Präsident Mejía Victores. Ríos Montts Nachfolger, der von einer Offiziersgruppe unterstützt wurde, der auch Pérez Molina angehörte, entgeht wegen seines schlechten psychischen und geistigen Zustandes einer Anklage wegen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies könnte immerhin als humanitärer Akt, dem nicht unbedingt ein Deal zu Grunde lag, gewertet werden. Eine deutlichere Sprache, wo die aktuellen „no go“-Linien verlaufen, spricht indes der Fall Bámaca. Am 5.Januar lehnte der erste Gerichtshof unter Richterin Patricia Flores, die auch im Falle Rios Montt tätig war, eine Anklage gegen Pérez Molina ab. Nach Recherchen der Tageszeitung El Periódico folgte das Gericht der Argumentation des Militärexperten Rodolfo Robles. Robles, der wegen seiner Zusammenarbeit mit der Stiftung Myrna Mack in Menschenrechtskreisen durchaus gewisses Ansehen genießt, ist der Meinung, Pérez Molina sei nicht Teil der Befehlskette im Fall des Verschwindenlassens, der fortgesetzten Folter und mutmaßlichen außergerichtlichen Hinrichtung des Guerilla-Kommandanten Efraín Bámaca ab dem Jahr 1992 gewesen. Es gebe zwar Hinweise darauf, dass Bámaca unter der Aufsicht des militärischen Geheimdienstes, dessen Chef Pérez Molina damals war, in das geheime Gefängnis „La Isla” gebracht worden sei, dennoch hätten die sogenannten „Spezialisten“, die ihn dort folterten, nicht auf Befehl von Pérez gehandelt, sondern der Sondereinsatzgruppe “Quetzal” angehört, die dem Generalstab der Armee unterstand.
Beredt ist auch das andauernde Schweigen über die Hintermänner des mutmaßlichen Komplotts zur Ermordung von Bischof Gerardi 1998, zwei Tage nach der Präsentation des mehrbändigen Berichtes der kirchlichen Wahrheitskommission (REHMI). Francisco Goldman, der acht Jahre lang für sein 2011 auch auf Deutsch erschienenes Buch “Die Kunst des politischen Mordes” recherchiert hat, das sich auf über 500 Seiten den Details des Falles und seiner juristischen Verschleierung widmet, vermutet, dass Pérez Molina als damaliger Chef des Generalstabs des Präsidenten in die Planung des Mordes verstrickt gewesen sein könnte. Neben anderen Indizien habe die Staatsanwaltschaft angesichts von Zeugenaussagen Grund zur Annahme gehabt, dass sich Pérez Molina, der (inzwischen verurteilte) Oberst und Chef des militärischen Geheimdienstes (D2) Byron Lima Estrada sowie der Chef der Präsidentengarde, Fernando Reyes Palencia ,in der Tatnacht in einem Laden aufgehalten haben, der auch als Kneipe diente und sich direkt neben dem Pfarrhaus, in dessen Garage Bischof Gerardi erschlagen wurde, befand. Möglichweise, so vermutet Goldman, diente die Zusammenkunft dazu, die äußerste heikle Operation, die als Verteidigung der Institution Militär verstanden wurde, zu überwachen. Durch die Komplizenschaft sollte sie aber wahrscheinlich auch die gegenseitige Loyalität aller Beteiligten sichern.
Regierungswechsel kein Machtwechsel
Wie die bisher sichtbaren Kräfte im neuen Kabinett, das von Pérez Molina wohl wie eine Art Generalstab geführt werden wird, zusammengesetzt sind, ist ziemlich eindeutig und nicht sehr neu. Die Internetplattform Plaza Pública zitiert z.B. den Politikwissenschafter Renzo Rosales: „Eine Mischung aus Geschäftsführern großer Unternehmen, puren Unternehmern, Militärs und Militär-Unternehmern, dazu Parteimitglieder und ein paar Intellektuelle.“ Die Frage, die sich viele in Guatemala stellen, ist, wie diese Kräfte längerfristig zusammen- oder gegeneinander wirken werden. Manche prognostizieren eine Neuauflage der Machtkämpfe zwischen alten und neuen Wirtschaftseliten. Erstere werden in der neuen Regierung etwa durch den Zuckerfabrikanten Mario Leal vertreten, letztere durch ein Netzwerk, in dessen Mittelpunkt – zur Besorgnis auch konservativer Analysten wie Raquel Zelaya vom Thinktank ASIES – der neue Kommunikationsminister Alejandro Sinibaldi steht. Renzo Rosal: „Die Gruppe von Sinibaldi hat es geschafft, ein Netzwerk zu stricken, das das Wirtschaftsministerium (Sergio de la Torre), das Umweltressort (Roxana Sobenes), Arbeit (Carlos Contreras) sowie Energie und Bergbau (Erick Archila) umfasst und keine andere Funktion hat, als Investitionen in die Rohstoffindustrie zu fördern (Minen und auch Wasserkraftwerke). Es handelt sich hier um einen Block, der Unternehmerinteressen dient und zugleich eng mit der Patriotischen Partei verbunden ist.“ Die mächtige Gruppe der sogenannten G-8 (die alte Oligarchie der acht einflussreichsten Familien Guatemalas) hat nach Analystenmeinung im Zuge ihrer Unterstützung Pérez Molinas in der zweiten Wahlrunde einstweilen nur zwei Minister im Kabinett platziert: Den evangelikalen Prediger Harold Caballeros als Außenminister und Efraín Medina als Landwirtschaftsminister.
Mit der Zeit wird sich zeigen, wie der erstarkte und natürlich vielfach mit dem Unternehmertum verbundene Faktor „Militär“ und die persönlichen Machtinteressen der Parteipolitiker, allen voran Vizepräsidentin Roxana Baldetti, wirken. Die erste Probe aufs Exempel der realen Macht wird die dringend nötige Steuerreform sein. 2011 lag Guatemalas Steueraufkommen bei 11,2% des Bruttoinlandsprodukts, umgerechnet etwa vier Milliarden Euro (das entspricht in etwa der Summe, die 1,5 Millionen – zumeist illegal in den USA arbeitende – Guatemalteken jährlich nach Hause überweisen.) In der starken Position und Funktion von Finanzminister Pavel Centeno, Mitgründer der Patriotischen Partei vor knapp zehn Jahren und enger Vertrauter von Pérez Molina, sehen die Analysten ein wichtiges „Scharnier“ für die nächsten Monate. Sie spekulieren darüber, ob es durch Unternehmerkreise, die mit bevorstehenden Steuererhöhungen um ca. 1,5 Prozentpunkte nicht einverstanden sind, aus den Angeln zu heben sein wird. Eine weitere Frage ist, welchen Tribut die unsichtbaren, nicht öffentlichen Kräfte hinter den Kabinettskulissen fordern werden. Für bestimmte Interessengruppen müssen sich ihre Investitionen in den Wahlkampf nun amortisieren. Über elf Millionen Euro hat Pérez Molina Presseberichten zufolge ausgegeben, um gewählt zu werden – das Doppelte der in Guatemala erlaubten Höchstsumme. Seine Quellen hat er nicht offengelegt.
An strategischen Stellen in Pérez Molinas persönlichem inneren Machtzirkel sind, auch das ist nicht überraschend, viele ehemalige Militärs im Rang von Obersten anzutreffen. Die meisten von ihnen kommen aus dem militärischen Geheimdienst (D2) und haben in den letzten Jahren als Anwälte oder Berater gearbeitet. Verteidigungsminister ist zudem ein kurz vor Amtsantritt noch rasch zum General beförderter alter Freund Pérez Molinas, Ulises Anzueto Girón. Innenminister und damit eine Schlüsselperson für die Umsetzung der militärisch strukturieren Sicherheitspläne wurde der ehemalige Oberstleutnant Héctor Maurico López Bonilla, Pérez‘ Kampagnenchef. Auch López Bonilla hat sich altgediente Ex-Mitglieder des militärischen Geheimdienstes aus den Zeiten des „Krieges niedriger Intensität“ unter der Doktrin der nationalen Sicherheit in seinen Beraterstab geholt, darunter die ehemaligen Verteidigungsminister Balconi Turcios und González Taracena sowie Mario Mérida und Ricardo Bustamante, der Chef des Nationalen Sicherheitsrates wird. Bustamante spielte zusammen mit Pérez Molina eine wichtige Rolle bei der zivilen Umgestaltung des Geheimdienstes während der Regierung von Ramiro de León Carpio und bei der starken Reduktion des Militärs im Bereich der Narcokorridore zu Beginn der Regierung Óscar Berger 2004. Zugleich soll er, wie auch Mérida und González Taracena, der sogenannten „Cofradía“ (Bruderschaft) angehören, einer Gruppe von Ex-Militärs, die von Beobachtern wie z.B. dem Washington Office on Latinamerica (WOLA) seit Jahren mit dem organisierten Verbrechen in Guatemala in Zusammenhang gebracht wird. Der Präsident selbst gehört zu einer – mal mit der „Cofradía“ rivalisierenden, mal in einer Art Machtbalance paktierenden – Offiziersgruppe des Jahrgangs 73, dem sogenannten „Syndikat“ (El Sindicato).
Das Parlament vorerst „auf Linie“ – die Zivilgesellschaft von Kriminalisierung bedroht
Die Patriotische Partei ist zwar mit 57 Sitzen stärkste Fraktion, verfügt aber über keine absolute Mehrheit im 158 Sitze umfassenden Kongress. Da Bündnisse mit dem im Wahlkampf konkurrierenden Parteienkonglomerat UNE-GANA (48 Sitze) bzw. Baldizóns LIDER (14 Sitze) unwahrscheinlich sind, wird die PP also mit wechselnden Allianzen bzw., wie in Guatemala üblich, mit die Partei wechselnden Abgeordneten jonglieren. Bisher scheint das Parlament allerdings „auf Linie“ zu sein. Noch vor dem Antritt der neuen Regierung gelang es, zum Erstaunen der Presse, die bisherigen Blockaden zu überwinden und einen Haushalt für 2012/13 zu verabschieden.
Die ehemalige Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der Gruppe der Angehörigen von Verschwundenen (GAM), Nineth Montenegro, von der kleinen Partei „Encuentro por Guatemala“ wurde zur zweiten Vizepräsidentin des Kongresses gewählt. Einige Kommentatoren sehen darin einen geschickten Schachzug, um die unermüdliche Analytikerin und Kritikern der Haushalte sämtlicher Regierungen seit 1996 zu neutralisieren. Denkbar ist aber auch, dass Montenegro versuchen wird, ihre Position zu nutzen, um der ansonsten weitgehend außerparlamentarischen Forderung nach „accountability“ und finanzpolitischer Transparenz mehr Gewicht zu verleihen.
Da die parteipolitisch organisierte Linke in Guatemala den Prozess ihrer (vorläufigen?) Selbstabschaffung nahezu erfolgreich beendet hat (sie hat gerade noch zwei Abgeordnete im Parlament, ebenso wenige übrigens wie die einstmals so starke FRG, die Partei des Diktators Rios Montt), kommt der organisierten Zivilgesellschaft als einziger oppositioneller, aber unendlich zersplitterter Kraft besondere Bedeutung zu. Kooptierungsphänomene wie unter den vorangegangenen Regierungen werden noch nicht berichtet. Erste Proteste gegen die Reduktion demokratischer Partizipation waren in den ersten Februartagen aus der Frauenbewegung, dem „Movimiento de Mujeres Organizadas (Mayas, Garífunas, Xincas y Mestizas)“ zu hören. Anlass ist ein präsidiales Dekret, das den organisierten Frauen jede Mitsprache bei der Besetzung des Postens der Frauenbeauftragten der Regierung (SEPREM) verweigert. Ihr Radioprogramm, das auf der Frequenz des nationalen Radios TGW sendete, wurde bereits eingestellt.
Ansonsten scheinen die führenden Köpfe der Zivilgesellschaft einstweilen vor allem Resignation und vielleicht auch Panik wegen der offensichtlichen Kräfteverhältnisse im Land vermeiden zu wollen. Mancher alte Guatemalteke mag sich durch eben diese Verhältnisse auf fatale Weise an das Jahr 1963 erinnert fühlen: an die Entfesselung der „counterinsurgency“, finanziert von den Wirtschaftseliten und durchgeführt vom Militär und Todesschwadronen. Mitglieder von Guatemalas Menschenrechtsorganisationen und einige progressive Kirchenleute werden zumindest die Kampagne „psychologischer Kriegsführung“ aus dem Jahr 1992 nicht vergessen haben, die Pérez Molina als frischgekürter Chef des militärischen Geheimdienstes damals gegen sie entfesselte. Da in diesem Fall die gleichen politisch-militärischen Netzwerke, die ihn dabei unterstützt haben, noch intakt sind, ist heute möglicherweise mit ähnlichen Mitteln zu rechnen: Nicht unbedingt offene Repression, zumindest nicht an den Stellen, wo die internationale Gemeinschaft hinschaut – Guatemala glänzt ja unter der neuen Regierung mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat und der Absicht, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zu unterzeichnen – aber doch ausgefeilte Methoden, zivilgesellschaftliche Spielräume und unerwünschten Protest klein zu halten. Da ist zum einen die öffentliche Durchsetzung einer „offiziellen Geschichte“ des internen bewaffneten Konfliktes gegen die Vergangenheitspolitik der Opferorganisationen. Zu anderen bieten sich Delegitimierung, Diffamierung und Einschüchterung, vor allem aber die Kriminalisierung von Aktivisten, die allzu lästig werden, als probate Instrumente an. Mehrere Oppositionelle und vor allem auch kritische Journalisten haben – durch Anzeigen wegen angeblicher Beteiligung an Verbrechen der Guerilla in den achtziger Jahren – schon vor Amtsantritt Pérez Molinas einen Vorgeschmack davon bekommen. Derlei Aktionen lassen sich freilich immer leicht auf das Konto der rechtsextremistischen, in den Denkmustern des Kalten Krieges zurückgebliebenen Militärveteranen von AVEMILGUA buchen – zu denen die „modernen“ Militärs der PP-Regierung ja per selbstverordnetem Image nicht gehören.
Konflikte um Land und Megaprojekte
Eine zweite Front, an der sich keinerlei Entspannung, sondern im Gegenteil Eskalation ankündigt, sind die Konflikte mit der oftmals indigenen und weit unter der Armutsgrenze lebenden Landbevölkerung um die bereits erwähnten sogenannten „Megaprojekte“. Das können große Wasserkraftwerke oder Fabriken der mächtigen einheimischen Zementindustrie sein, aber auch die Ausbeutung von Rohstoffen wie Gold oder Nickel in extrem umweltschädlichen offenen Tagebauen durch internationale Konzerne oder das Projekt des „Interozeanischen Technologischen Korridors“ im Osten Guatemalas, das neuerdings für Schlagzeilen sorgt. In diesem Fall scheint übrigens auch wieder ein ehemaliger Oberst im Geschäft zu sein. Mit den Landkäufen für diese Schienenverbindung vom Pazifik zum Atlantik ist offensichtlich u.a. Mario García Catalán beauftragt. García Catalán wurde nicht zuletzt von US-amerikanischen Menschenrechtsgruppen beschuldigt, in die Ermordung des US-amerikanischen Geschäftsmannes Michael Divine (1990) verwickelt zu sein, das Verfahren gegen ihn wurde jedoch eingestellt. Heute ist es „der Coronel“, der Gegner des Korridors „terroristischer Umtriebe“ verdächtigt.
Verschärfen werden sich aller Voraussicht nach auch die unter Präsident Colom in keiner Weise gemilderten Landkonflikte, die oft mit der Vertreibung von Bauern u. a. zugunsten des großflächigen Anbaus von Ölpalmen oder Agrospritpflanzen für den Export enden. Jüngstes Beispiel für derartige Konflikte sind die andauernden Angriffe gegen Gemeinden in den Departements Alta und Baja Verapaz, die zur Bauern- und Landarbeitervereinigung (Unión Verapacense de Organizaciones Campesinas) UVOC, gehören. Besondere Empörung aber auch Angst löste am 26. Januar der Tod eines Paares von Pocomchí-Dorfältesten in der Siedlung Santa Rosa (Finca La Primavera, San Cristóbal A.V.) aus: Der 82jährige Sebastián Xona und seine zehn Jahre jüngere Frau Petrona Morán Suc (siehe Foto) waren in ihrer Hütte gefesselt, geknebelt, gefoltert und schließlich erschlagen worden. Die beiden hatten erlebt, wie der Großgrundbesitz in den 50er Jahren unter der Reformregierung Arbenz nationalisiert wurde. Nach dem Putsch gegen Arbenz wurde die Finca der Familie Azurdia, die sie beanspruchte, zurückgegeben und über Jahrzehnte von den 400 Familien, die dort seit mehr als einem Jahrhundert siedeln, treuhänderisch bearbeitet. Seit zehn Jahren versuchen sie auf friedliche Weise den Landbesitz mit staatlicher Hilfe und Vermittlung übereignet zu bekommen. Vergeblich. Stattdessen tauchte, so die UVOC, Anfang Januar mit der Firma Maderas Filitz Díaz S.A und ihren privaten Sicherheitskräften ein neuer Besitzer auf: Bewaffnet und bedrohlich.
Noch ist völlig unbekannt, wer das alte Ehepaar erschlagen hat, aber an von der Weltöffentlichkeit leicht übersehenen „Marginalien“ wie der Aufklärung des Todes von Sebastián Xona und Petrona Morán und dem künftigen Schicksal der Familien auf der Finca Primavera sollte die neue guatemaltekische Regierung auch gemessen werden.
Bildquellen: [3] Ricardo Marroquín_ ; [2] Jonathan Moller_ ; [1], [4], [5] MiMundo.org, James Rodríguez ; [6] UVOC_
Die Redaktion dankt James („Jaime“) Rodríguez für seine immer wieder großzügig zur Verfügung gestellten Fotos (siehe auch www.mimundo-photoessays.org) und weist besonders auch auf Jonathan Mollers Bildband (2011) Rescatando Nuestra Memoria: Represión, Refugio y Recuperación de las Poblaciones Desarraigadas por la Violencia en Guatemala (Engl.: Recovering Our Historical Memory: Repression, Refuge and Healing Experienced by Populations Uprooted by the Violence in Guatemala) hin, dem das hier verwendete Foto mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen ist.