Mehr als ein Dutzend Feldforschungsreisen führte mich zwischen 1991 und 2016 nach Süd- und Zentralamerika. Ihre Ergebnisse gingen in wissenschaftliche Publikationen ein. Doch Feldforschung hat auch immer eine emotionale Seite und zieht Reflexionen nach sich, die über Wissenschaft weit hinausgehen. Oft habe ich gedacht, wie schön es doch wäre, auch diese – eher verborgene – Seite von Feldforschung erzählen zu dürfen. In einer losen Folge werde ich das jetzt, und zwar für den Quetzal, tun. Es handelt sich dabei um Schlaglichter, die zudem immer in den entsprechenden historischen Kontext einzuordnen sind. Nüchternes ist dabei, Komisches und Tragisches auch. Zweierlei ist mit Gewissheit zu konstatieren: Feldforschung, das ist ein Abenteuer zwischen Adrenalin und Erschöpfung. Und: Nach der Feldforschung ist man nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.
2007
Tegucigalpa
Beim Anflug auf den Flughafen von Honduras‘ Hauptstadt Tegucigalpa, einer der – wegen einer äußerst komplizierten Landung – gefährlichsten Flughäfen der Welt, bekomme ich den ersten Vorgeschmack auf das Land. Mir werden von allen zehn Fingern die Abdrücke genommen und ein Porträtfoto wird geschossen. Nun ja, späterhin hat man dieses Procedere auch anderswo übernommen. Ich bin da, mein Gepäck aber nicht.
Zum Glück offeriert mir mein kleines Hotel eine Zahnbürste. Ihm gegenüber ist eine Schule. Jeden Morgen hört man das Anfahren am Berg. Die da anfahren, das sind die SUVs der Reichen, die ihre Sprösslinge zur Schule bringen, die Fenster – abgedunkelt und aus Panzerglas, wegen der vielen Gewalt, sagen sie. Warum wundere ich mich eigentlich über die SUVs? Weil ich da noch nicht weiß, dass sie bald danach auch Deutschlands Straßen frequentieren werden, wo doch kaum Gewalt ist.
Am nächsten Tag habe ich meinen Termin beim Botschafter. Ich erscheine notgedrungen in derselben Schlamper-Kleidung, die ich schon während des Fluges trug (oh Gott, oh Gott!!!), und entschuldige mich in aller Form. Der Botschafter, in schwarzem Anzug, wischt mein Problem mit einer Handbewegung weg. Wir setzen uns. Mit Verve und dependenztheoretischem Ansatz erklärt er mir, der Bayer, die Honduras-Spezifik, Karl Max, wiewohl kein Dependenztheoretiker, zitierend. Ich staune entsprechend. Als er zu einer Geste die Hände hebt, sehe ich, dass seine weißhemdigen Unterarme mit einer Dreckschicht bedeckt sind. Blitzsauberes Weiß zusammen mit rabenschwarzem Schmutz? Dann schaue ich mir meine eigenen Unterarme an, so für alle Fälle. Oh je! Die sehen nicht besser aus! Nein, das nun lag nicht etwa daran, dass ich mich nach dem Flug nicht habe umziehen können: Vielmehr: Der Botschaftstisch scheint wohl schon eine Weile nicht mehr abgewischt worden zu sein. Die Botschafterin, die ich bei meiner zweiten Reise treffe, residiert dann schon nicht mehr in dieser Baracke, sondern in einer Villa, und sie ist sehr elegant gekleidet. Zugleich erklärt sie mir, dass es nicht ihre Aufgabe sei, mir, der Professorin, bei ihren Forschungen zu helfen und weist mich, nach einer Aufklärung über diverse Verhaltensregeln, an, auf das Taxi bitte schon außerhalb des Botschaftsgebäudes zu warten.
Aber zurück zum sympathischen Botschafter mit den nicht mehr ganz so sauberen Ärmeln: Er verkündet mir, dass wir jetzt gleich einen Termin mit dem Sicherheitsminister haben, einem General a.D. Er würde mich gern begleiten. Ich zweifele: Mein erbärmliches Outfit?! Ich weiß doch, wie viel Wert hier auf Etikette und, insbesondere bei Frauen, auf schicke Kleidung gelegt wird. Der Botschafter lächelt und sagt, dass wir da jetzt wohl nichts machen können. Vor der Tür zum Minister-Büro bitte ich ihn voranzugehen, da er „besser aussehe als ich“.
Der aber kennt jetzt die Farbe seiner – nunmehr wohlweislich unter dem Jackett verborgenen – Hemdsärmel und antwortet: „Wer weiß!“
Wir entschuldigen uns gegenüber dem Minister entsprechend, schimpfen gemeinsam auf die Unzuverlässigkeit der Fluggesellschaften, der Bann ist gebrochen, und wir haben ein sehr freundschaftliches Gespräch. Ich lerne: Ein eigenes Missgeschick kann zur Entspannung der Interview-Atmosphäre führen. Ich weiß, des Verteidigungsministers Präsident ist gerade Manuel Zelaya, ein linker Liberaler. Der aber wird nun nicht mehr lange Präsident sein. Das ahnt da aber noch niemand.
Schließlich: Honduras‘ Weg zur Demokratie soll bald nach diesem meinem ersten Aufenthalt jäh unterbrochen werden, als 200 Soldaten in das Privathaus des amtierenden Präsidenten Manuel Zelaya eindringen, ihn festnehmen und nach Costa Rica ausfliegen. Das Präsidentenamt wird, nach der Präsentation eines gefälschten Rücktrittgesuches von Zelaya, dem Parlamentspräsidenten Roberto Micheletti übertragen. Daraufhin kommt es zu massiven Einschränkungen der Pressefreiheit und zu Repression, zu Notstandsgesetzen und Demonstrationen mit Todesopfern. Nach Porfirio Lobo Sosa gelangt mit Juan Orlando Hernández ein Diktator und Drogenmafioso an die Macht. Als ich erneut in Honduras bin, kennen viele schon seinen Status als Drogenchef. Laut sagen darf man es aber nicht.
Die Abendnachrichten des honduranischen Fernsehens zeigen: 36 Getötete waren es an diesem Wochenende – 36, die aufgefunden wurden. Die Fernsehkamera ist frontal auf eine Leiche gerichtet. Gnadenlos wird der durch eine Machete gespaltene Schädel herangezoomt. Den mutmaßlichen Mörder befragen Journalisten sofort – ein älterer Mann, der Streit mit seinem Nachbarn wegen eines an falscher Stelle parkenden Autos hatte. Jener, bereits von der Polizei festgehalten, erzählt ohne Scheu, wie es passiert ist. Niemand hat ihn über seine Rechte aufgeklärt.
Vier weitere Getötete, Polizisten in diesem Fall, sind dem Fernsehen eine Talkrunde wert. Ihre Dienstherren werden befragt: Gibt es einen strukturellen Grund für die Gewaltspirale? Zuviel Rechtsstaatlichkeit, antworten sie, die mit dem neuen Strafgesetzbuch Einzug gehalten habe – ein „sistema ultragarantista“ eben, in dem „leider“ Zeugen und Indizien für eine Verurteilung nötig seien und Verbrecher nicht sofort der Bestrafung zugeführt werden können.
Minuten danach verkündet der Sicherheitsminister: Die Polizisten mögen es vermeiden, auf die Straße zu gehen – zu gefährlich, die Bevölkerung mag jedoch beruhigt sein, alle Morde hätten mit dem organisierten Verbrechen zu tun, der „unschuldige“ Bürger müsse also keine Furcht hegen. Ein Mann von der Straße fragt, wie es um seine Sicherheit bestellt sei, wenn nicht einmal dafür ausgebildete und gut ausgerüstete Polizisten ihr eigenes Leben schützen können.
Und wer hat Schuld an all der Gewalt? Die Maras, klar doch, die altbekannten Jugendbanden, wie generell die organisierte Kriminalität. Ist das dasselbe? Im Prinzip schon: In jedem Fall gehe die Gewalt von Jugendlichen aus, und diese stünden längst im Dienst des organisierten Verbrechens. Sie haben jegliche Werte, jeden Sinn für Recht und Ordnung verloren. Was man dagegen tun könne? Ganz einfach – höchste Wachsamkeit zeigen, vor allem dann, wenn Jugendliche in die Nähe kommen, und, natürlich, erbarmungslos dagegenhalten. Zu diesem Zweck darf ja jeder Bürger legal fünf Waffen besitzen. Warum solle er nicht Gebrauch davon machen?
Die Ratschläge befremden, allesamt. Gleichwohl, sie sind kein leeres Geschwätz, jeden Tag werden sie in Honduras die Tat umgesetzt: Will ein Jugendlicher eine Bank betreten, wird er genötigt, sein Hemd zu heben. Verbergen sich unter seiner Bekleidung Tätowierungen, darf er diese Bankfiliale nicht nutzen, denn dann ist er „zweifelsfrei“ Marero, de jure kriminell und „mit Sicherheit“ ein Mörder. Gehen zwei Jugendliche am helllichten Tage eine weniger frequentierte Straße entlang – nein, das ist kein Witz – dann hält schon einmal ein Polizei-Pick-up neben ihnen und fünf Gewehre richten sich auf sie. Glück haben diese Jugendlichen, wenn sie nicht tätowiert sind, ordentlich gekleidet und nicht, von körperlicher Arbeit im Freien, dunkelhäutig. Dann werden die Gewehre möglicherweise eingeholt, anderenfalls wird abgedrückt. Aber auch diese gut gekleideten jungen Männer – warum konnten sie eigentlich nicht Auto fahren wie alle „normalen“ Leute? Alltäglicher Zynismus jener, deren Rover gepanzert ist.
Was ist das für ein Land, wo eine Mutter, wenn sie Glück hat, ihren Sohn für ein paar hundert Lempiras in Polizeireviers freikaufen kann, wo dieser ohne Haftbefehl festgehalten wird, Folter inklusive? Manche Mutter hat dieses Glück nicht – ein Anruf aus dem Leichenschauhaus bedeutet, ihre Sorge um den Sohn hat „ein Ende“.
Ich treffe diese Mutter zum Interview. Ihr Sohn, ein Lieber, sagt sie, hatte „Probleme“, Drogen vielleicht, sie wisse es nicht, denn sie müsse ja den ganzen Tag arbeiten. Immer wieder habe ihn die Polizei mitgenommen. Aber das sei einfach gewesen, ein paar Scheine … und er war wieder zu Hause. Doch diesmal geschah etwas anderes. Diesmal rief sie nicht die Polizei an, sondern das Leichenschauhaus. Sie habe ihn dort sofort erkannt, weint die Mutter. Auf dem Rücken war ihm ein Kreuz „gezeichnet“, ein langes Kreuz über den gesamten Rücken … aus Einschüssen … der Polizei.
Mein Gott, was um alle Welt kann man hier Tröstliches sagen? Herrgott nochmal, wo ist denn hier die Distanz der Forscherin? Weg, ganz weit weg.
Ich treffe auch María Luisa Borja, vormalige Chefin der Unidad de Asuntos Internos de la Policía. Ihr Fall hat großes Aufsehen erregt. In ihrer Funktion hatte sie herausgefunden und durch Ermittlung belegt, dass vier hochrangige Polizeiangehörige – einer von ihnen Direktor der Policía Preventiva und der andere Generalinspektor des Strafvollzugs – für außergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich sind. Obwohl Borja die vollständige Dokumentation ihrer Ermittlung ihrem Dienstherrn, aber auch der Staatsanwaltschaft, dem Parlamentspräsidenten und der Ombudsfrau für Menschenrechte vorgelegt hatte, wurden die vier Polizisten freigesprochen. Borja informierte daraufhin in einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit. Danach wurde sie, nach 25jährigem Dienst (zuletzt im Rang eines Comisionado bzw. Oberst), wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen in Unehren aus der Polizei entlassen. Es könne wohl bezweifelt werden, so Borja, dass in einem Rechtsstaat Mord ein Dienstgeheimnis ist. Sie, ihren Mann und ihre Söhne verfolgte die Polizei, ihre Söhne wurden unter einem Vorwand festgenommen und geschlagen.
„Entschuldigung“, meinte einer der Polizisten, vor denen Borja den Fall eines ihrer Söhne vortrug, zu ihr, „zuweilen übertreiben unsere Polizisten ein wenig!“
Borja, die dann später auch Parlamentsabgeordnete sein wird, wird letztlich wegen „Diffamierung“ (etwas, was es in Honduras als Strafbestand gar nicht gibt) zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Später wird dies in eine Geldstrafe umgewandelt.
Valle de los Angeles
Touristisch bin ich bis jetzt faul in Honduras – oder zu erschöpft nach so viel Feldforschung? Immerhin besteige ich an einem schönen Sonntag einen Mikrobus und fahre einmal hinaus aus der Hauptstadt, in das weniger als 30 Kilometer entfernte Valle de Ángeles.
Hier ist die Luft frisch, die Natur wunderschön, und das wissen sowohl die honduranische Elite, die hier ihre Wochenendhäuser hat, als auch die Touristen. In diesem Örtchen im Kolonialstil kann man gut essen und etwas kaufen, wenn man handeln mag. Ist es die Hälfte des zu Beginn angekündigten Preises, die man zahlt, hat man gut verhandelt.
Das war der kleinere Ausflug, dann kommt der größere.
Roatán
Von San Pedro Sula geht es in einem winzigen Flugzeug mit einem Sitz auf jeder Gangseite nach Roatán, den Bay Islands. Hier wohnen die Garífunas, die ursprünglich von der Karibikinsel St. Vincent stammen und noch matriarchal organisiert sind. Roatán ist aufgrund seiner Korallenriffe ein Paradies für Taucher. Ich begnüge mich mit dem Schnorcheln. Auch so sehe ich die buntesten Fische mit den knalligsten Farben. In das Wasser traue ich mich nur im T-Shirt, sonst wäre der Sonnenbrand schon nach fünf Minuten ein – weniger guter – Gefährte.
Abends fotografiere ich in vielen Momentaufnahmen die im Wahnsinnstempo, wiewohl purpurfarben, untergehende Sonne. Eine Dämmerung gibt es hier nicht. Mein Fotoatelier in Deutschland bemerkt zu meinen Bildern: Das seien doch keine normalen Fotos, sondern purer Kitsch: Palme links, mit Schaumkrönchen geschmücktes karibisches Meer und ein roter Sonnenball. Sorry, was macht man eigentlich, wenn die Natur Kitsch ist?
2016
Erneut Tegucigalpa
2016 „komme“ ich nun endlich auch in Honduras „in den Knast“. Die Strafvollzugsanstalt Támara befindet sich außerhalb der Hauptstadt. Eine NGO nimmt mich mit. Dieses Gefängnis ist etwas anders organisiert als die, die ich bis dahin kenne: Es gibt in ihm abgeschlossene Teile, in denen sich die Mareros frei bewegen können. Sie haben einen gemeinsamen Innenhof, auf dem sie kochen, waschen, sich versammeln. Ihre Schlafräume sehe ich nicht. Dann findet eine Versammlung statt, auf der die Gefangenen gegenüber der NGO ihre Sorgen und Beschwerden vortragen können. In die Kommunikation werde ich eingegliedert, und ich darf auch ein paar Fragen stellen.
Auch diese Mareros sehen aus, wie man sie sich vorstellt: die meisten dickbräsig, die Beine breit aufgestellt, mit den Schultern wippend, die Muskeln brechen sich unter den T-Shirts Bahn, und ich bin irgendwie froh, dass die Vertreter der NGO neben mir sitzen. Da tritt ein schmal gewachsener, kleinerer Junge nach vorn.
„Hey“, sagen die anderen, „du hast wohl wieder ein Gedicht?“
Er hat.
Mit den Augen zur Decke blickend, deklamiert er einfühlsamer, als ich es je hörte, ein Liebesgedicht von Pablo Neruda: „Damit du mich erhörst, machen sich meine Worte manchmal so zart wie die Spuren der Möwen auf dem Strand … .“ Und alle, auch die schwersten Schwerverbrecher, hören ihm andächtig zu.
Und dann bekomme ich auch ein Geschenk von diesen Mareros: eine aus einem Plastikbeutel gefertigte Brieftasche. Wird das von meiner Uni schon als Korruption gewertet, wenn ich sie annehme? Ein solcher Fall ist wohl in keiner Verordnung vorgesehen. Ich habe die Brieftasche noch immer, Geld aber nie hineingesteckt, auch kein nicht-korruptes.
Mein Mara-Interesse stößt auf weitere, höchste Kompetenz. Es handelt sich um das Proyecto Victoria, gegründet von Mario Fumero, einem evangelikalen Pastor kubanischer Provenienz, schon vor mehreren Jahrzehnten. Wir fahren dafür in die Berge und dann hinein in ein riesiges Parkgelände in der allerschönsten Natur. Hier gibt es kleine Bungalows, Sportplätze, ein Krankenhaus, Therapien, Ausbildung, alles unter der „schützenden Hand von Jesus Christus“, und es können bis zu 160 Personen aufgenommen werden.
An diesem Ort würde ich glatt Urlaub machen. Aber ich habe ja ein Treffen mit zwei Ex-Mareros der Mara Salvatrucha (MS) vor mir. Selbst betrachten sie sich aber nicht als Ex-Mareros. Der erste ist ein Junge, kein Afrohonduraner, aber sehr dunkel. Mit 13 wollte er zur MS, erzählt er mir. Er hatte kein Geld, keine Arbeit, kein Zuhause. Ein Mord ist die Bedingung dafür, dass er ein Zuhause bekommt – in der Mara. Mit Tränen in den Augen, die sich da nicht halten mögen, erzählt er mir von ihm, diesem Mord.
„Du musst nicht erzählen, wenn du nicht willst ….“
Ich glaube fast, er genießt meine Zuhörerschaft, zuweilen schaut er mich, um Vertrauen heischend, an wie eine Mutter, die ihm Verzeihung spenden könnte. Das Leben ist nicht schön, sagt er, und ich bin kein schlechter Mensch, sagt er auch. Seine Tränen fließen stärker. „Ich bitte Gott um Verzeihung“, so sein letztes Wort in unserem Gespräch, das vom Lärm einer soeben durch einen Parkwächter angeworfenen Kettensäge verschluckt wird.
Dann kommt der andere. Der ist drahtig, blond und weißhäutig, spricht schnell und eloquent. Er war Chef einer Mara. Oder ist er es noch? Handys machen das ja möglich. Dass er Chef ist oder war, merkt man, denn bevor er meine Fragen beantwortet, korrigiert er sie. Ich präsentiere mich als „kritikfähig“. Mit elf sei er in die Mara gekommen, aber auch schon mit sechs oder sieben Jahren könnten in ihr Kinder Aufgaben erfüllen. Er zeigt mir seine Wunden, zugefügt von der … eigenen … Mara.
„Wir schützen die Barrios“, sagt er, „die Leute dort sind arm, sie brauchen unsere Hilfe“.
„Gegen wen?“, frage ich.
„Gegen die andere Mara!“
„Aber deren Barrio ist doch genauso arm!“
Er mag seine Morde nicht zählen und hält sie zudem für völlig legitim. Ja, er prahlt mit seiner ausgefeilten Tötungstaktik.
„Und was macht ihr mit den Leichen?“
„Die schaffen wir in das andere Barrio, zu der anderen Mara. Soll die sich doch darum kümmern!“
Mich schaudert‘s.
Eines Tages fragt mich der Fahrer, der uns in den Knast gefahren hatte und mit dem ich mich etwas angefreundet habe, ob er mit mir in ein von einer Mara besetztes Barrio fahren soll. Mit ihm würde mir nichts passieren. Schade oder zum Glück – mein Rückflug ist schon für den übernächsten Tag gebucht.
Am letzten Tag folge ich noch einer Einladung der „Ärzte ohne Grenzen“. Auf ihrem Anwesen können sich vor allem Kinder und Jugendliche von der Straße einer medizinischen Behandlung unterziehen, sich duschen, ihre Kleidung wechseln und etwas essen. Den ganzen Tag über zeigen mir die Ärzte die Wunden ihrer Schützlinge: Hämatome, Brandwunden von ausgedrückten Zigaretten, offene Schürfwunden. In der Regel sind das Wunden, die den Jungen von der Polizei zugefügt wurden. Ich schaue nur zu, aber ich merke, wie mir schon das an die Nieren geht.
Um 18.00 Uhr wird das Anwesen geschlossen, doch bevor das geschieht, werden noch einmal die in einer langen Schlange wartenden Gamines eingelassen. Als ich das Territorium verlasse, stehen sie schon vor dem Tor. Sie sehen so aus und riechen auch so, wie man es sich vorstellt: Abgerissen-dreckige Kleidung, auch amputierte Beine, Krücken, verfilzte Haare und ein von Drogen glasiger Blick. Mit großen Augen schauen sie mich an.
Und da kommt dann einer von ihnen, ein etwa achtjähriger Junge, direkt auf mich zu, bestaunt meine blauen Augen und will mich … umarmen. Eine freundschaftliche, keine zudringliche Geste. Ich aber bekomme es nicht hin, ihm mit einer Umarmung zu antworten, stoße ihn jedoch auch nicht weg, sondern entferne mich langsam nach hinten, um dann, immer schneller im Schritt, wegzugehen, mich über meinen Ekel ärgernd. Im Hotel ist mir nicht gut.
Das Fieberthermometer zeigt auf einmal über 40 Grad. In den Fernsehnachrichten wird gerade von Dengue-Fieber berichtet. So ein Quatsch, ich kann mich ja überhaupt nicht bei diesem Jungen angesteckt haben! Man bedenke allein die Inkubationszeit! Nein, es ist die Psyche, die sich auf diese Weise meldet.
Psychotherapeuten haben ihre Supervision, in der sie ihre schwierigen Fälle verarbeiten. Aber Gewaltforscher? In Deutschland bleiben sie in der Regel für sich allein, ihre Erzählung ruft möglicherweise Schaudern oder Kitzel hervor, mehr nicht, wie auch? In Honduras aber höre ich: „Was verstehst denn du schon von Gewalt? Du erlebst sie doch gar nicht!“
Stimmt.
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