Mehr als ein Dutzend Feldforschungsreisen führte mich zwischen 1991 und 2016 nach Süd- und Zentralamerika. Ihre Ergebnisse gingen in wissenschaftliche Publikationen ein. Doch Feldforschung hat auch immer eine emotionale Seite und zieht Reflexionen nach sich, die über Wissenschaft weit hinausgehen. Oft habe ich gedacht, wie schön es doch wäre, auch diese – eher verborgene – Seite von Feldforschung erzählen zu dürfen. In einer losen Folge werde ich das jetzt, und zwar für den Quetzal, tun. Es handelt sich dabei um Schlaglichter, die zudem immer in den entsprechenden historischen Kontext einzuordnen sind. Nüchternes ist dabei, Komisches und Tragisches auch. Zweierlei ist mit Gewissheit zu konstatieren: Feldforschung, das ist ein Abenteuer zwischen Adrenalin und Erschöpfung. Und: Nach der Feldforschung ist man nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.
Vorrede
Ja, Feldforschung ist ein Abenteuer, und nein, nicht so sehr wegen ihres manchmal gefährlichen Kontextes, eher wegen der ihr innewohnenden Dynamik. Ich lerne bei meinen Experteninterviews, wie man in fünf Minuten Nähe herstellt, die unabdingbar ist, wenn man aus dem Gesprächspartner gute Informationen herausbekommen will. Mehr als fünf Minuten hat man dafür nicht. Schafft man es in dieser Zeit nicht, hat man tausende Flugkilometer und Dollars verpulvert. Egal, ob dort ein angenehmer, wie du selbst tickender Akademiker sitzt, selbstverliebte oder wütende Mareros oder faschistoide Zeitgenossen, die dir das Blut in den Adern erstarren lassen. Ihnen allen musst du sympathisch sein, schon in den ersten fünf Minuten, sonst erfährst du nichts oder nur Banalitäten. Zeige deinem Gegenüber, dass du nicht von gestern bist, aber gleichzeitig auch, dass du ohne dessen Information nicht auskommst! Während du zuhörst und mitdenkst, solltest du die nächste Frage schon parat haben, nein, nicht die zu Hause vorbereitete, sondern die, die sich aus dem soeben Gesagten ergibt. Du darfst dich nicht von eiskalten Klimaanlagen und eigenen Schweißausbrüchen aus dem Konzept bringen lassen, nicht davon, dass dich, bevor du dem Minister vorgelassen wirst, gerade ein Regenguss bis auf die Haut durchnässt hat oder dir in diesem Augenblick der Schweiß bei weitem nicht nur von der Stirn rinnt. Er, der Minister, hingegen sieht piekfein aus, gekommen ist er ja auch in einem klimatisierten SUV. Du dagegen bist bestenfalls im rußgeschwängerten und 50 Grad-heißen Taxi gefahren, sodass „derangiert“ kein Ausdruck ist.
Auch von der Tasse Kaffee, die die nette Sekretärin dummerweise just in dem Augenblick bringt, als Dir der Gesprächspartner gerade ein kleines Geheimnis offenbaren will, darfst du dich nicht aus dem Konzept bringen lassen! Wie auch immer, er hat es sich nun gerade wieder anders überlegt, und das Geheimnis bleibt (s)eines. Oder wenn die Sekretärin ungefragt eintritt, um von einem Telefonat zu berichten, das sie für ihn angekommen hat und das ihn (natürlich) viel mehr interessiert als deine Fragen … danach musst du ihn wieder, mit welchem Trick auch immer, „einfangen“. In einem solchen Fall sagst du ihm, auch wenn es dir nur mühsam von der Zunge geht, dass du ihn gut verstehst, wie wenig Zeit er hat als ein so wichtiger Mann … aber, bitte, Exzellenz, wenigstens noch diese einzige Frage!!! Wenn er sich dann darauf einlässt, hältst du dich an dieses dein Versprechen natürlich nicht mehr! Eine geht doch noch, mindestens! Dennoch solltest du ständig auf die Uhr schauen: Wie viele Minuten habe ich noch? Das darf dein Interviewpartner aber nicht sehen! Also übe zuvor, das Zifferblatt deiner Armbanduhr zu lesen, ohne den Arm anzuwinkeln! Immer musst du gefasst sein, dass dein Gegenüber unvermittelt aufsteht, um das Gespräch zu beenden. Oft ist das nicht einmal der Zeitfrage geschuldet, sondern deiner letzten – ihm einfach unangenehmen – Frage. Dabei hast du doch eine noch viel bessere, mithin eine noch viel unangenehmere Frage für ihn auf der Zunge! Doch manchmal willst ja auch du das Gespräch vor der Zeit abbrechen, denn dir gegenüber sitzt ein Menschenrechtsverbrecher, und du kannst es vor Empörung kaum aushalten. Nein, auch hier, halte durch, wie sonst wirst Du sein Narrativ aus erster Hand hören (und später zitieren) können!? Du verbrüderst dich? Distanz! Du bist distanziert? Empathie, zumindest vortäuschen. Du hast die Nacht davor wegen Insektenflug nicht geschlafen, egal, hole das letzte Adrenalin aus dir heraus. Achte darauf, dass das Stakkato des Interviewtempos nicht mit dir durchgeht. Aber du brauchst es doch, das Stakkato, um weiterzumachen! Am Abend, nach seit dem Morgen vier Interviews, dazwischen die Taxifahrten durch die rußgeschwängerten „Heißluftballons“ lateinamerikanischer Städte, fällst du ins Bett, ohne Abendbrot, weil du dafür viel zu erschöpft bist …und dann klingelt das Telefon: Ein ganz besonders wichtiger Interviewpartner hat nur noch heute Abend Zeit …
So ist es auch in Guatemala.
Guatemala-Stadt
Hier ist Gewalt mein Thema. El Salvador und Honduras, beide Länder mit noch höheren Homizidraten als Guate, folgen als spätere Destinationen nach so wie auch die beiden Ausnahmefälle Nicaragua und Costa Rica mit relativ geringer Gewaltintensität.
Gleich nach meiner Ankunft in Guatemala-Stadt wird mir ein kultureller und sozialer Spagat abverlangt, denn ich wohne bei einer deutschen Freundin, die bei MINUGUA, einer UN-Mission, tätig ist, in der piekfein-elitären Zona 14, in einem condominio. Hier sind, neben den UN-Mitarbeiter:innen, die Begüterten zu Hause. Ansonsten aber halte ich mich zumeist in der Zona 1 auf, dem etwas heruntergekommenen Zentrum von Guatemala-Stadt, wo es nach Abgasen, Schweiß, brennender Holzkohle, Essen, Urin und Staub riecht. Aus irgendeinem Grund sind meine Füße danach immer rabenschwarz. In der Zona 14 hingegen riecht es nach nichts, und die Fußwege werden mit Waschmittel geputzt. Den Eingang zum condominio kontrolliert eine Wache, und in der Mitte seines Territoriums gibt es einen Swimmingpool.
Meine Freundin empfängt mich wütend: „Stell dir vor“, sagt sie, „gestern gab es hier einen Tumult: Am Rande des Pools hat eine indígena-Frau, wahrscheinlich eine Muchacha (Dienstmädchen H.Z.), mit ihren Kindern gesessen und ihre Beine im Wasser baumeln lassen!“
„Na und?“, antworte ich.
„Genau, die hier wohnenden UN-Mitarbeiter, darunter ich, fragten uns das auch, aber nicht so die reichen Guatemalteken. Für die haben indígenas am Bassin nichts zu suchen!“
Voilá. Schon zur Begrüßung treffe ich also auf den in Guatemala allenthalben anzutreffenden Rassismus. Die von ihm Betroffenen müssen ihn noch immer befürchten und lassen daher Distanziertheit walten. Auch mir gegenüber. Man weiß ja nie, mögen sie denken. Ich verstehe, aber leichter wird mir dadurch der Umgang mit ihnen nicht.
Eine belgische Freundin, ebenfalls bei MINUGUA, ist Anthropologin und fährt über die Dörfer, um den Genozid an den indígenas zu Zeiten des bewaffneten Konflikts zu dokumentieren. Leichen werden exhumiert und obduziert. Es lässt sich nicht vermeiden: Auch die Angehörigen beobachten das Geschehen aus der Nähe. An Webresten – jedes Dorf hat ein eigenes typisches Webmuster – und an den Zähnen identifizieren sie ihre Angehörigen. Dabei schauen ihre Augen starr, ohne Tränen. Leid braucht keine Tränen. Dann geht die Freundin in die armseligen Häuser der indígenas, um dort Befragungen durchzuführen. Hier gibt es fast nichts … außer einem Porträt von Ríos Montt an der Wand … ja, Sie haben richtig gelesen, dem Porträt des Genozid-Verantwortlichen, des Schlächters von Guatemala, der da noch völlig unbehelligt, eine weitere Präsidentschaft anstrebend, sein Leben genießt. Er befahl oder ließ zu, dass in Guatemala etwa 400 Dörfer zerstört, über 1100 Menschen umgebracht und über 1400 Frauen vergewaltigt wurden. Schwangeren Frauen wurden die Bäuche aufgeschnitten und die Föten zerstückelt.
Die Freundin fragt nun die Hausherrin, die in ebendiesem Genozid Ehemann und Sohn verloren hat, warum sie denn gerade dieses Porträt aufgehängt habe.
Sie antwortet zaghaft: „Aber das macht man doch so!“
Die Erschütterung ob dieses Satzes erfasst auch mich.
Dann beginne ich mit der eigenen Feldforschung. Etwa 50 Interviewpartner werden mir Antwort geben. Es geht mir in ihr um die Gewalt inmitten eines in Guatemala nunmehr bereits zehnjährigen Friedens. Ihre Raten, also die Raten, die Mord und Totschlag „zählen“, sind höher als die im vorherigen Bürgerkrieg. Allein, es ist jetzt eine andere, in der Regel keine politische Gewalt mehr, sondern eine kriminelle.
Gewalt hat im Guatemala dieser Zeit weder Ort noch Zeit – sie ereilt ihre Opfer nachts, aber auch tags, in der Hauptstadt wie in der Provinz, in den Armenvierteln und vor den noblen Hotels. Sie besitzt weder Fronten noch liegt ihr notwendigerweise ein Motiv zugrunde. Getötet wird nicht nur, um ein Stadtviertel zu verteidigen, um „Steuern“ einzutreiben oder wegen eines Handys, sondern auch nur so. Geht es um Geld, dann ist die Summe, derentwegen gemordet wird, oft erschreckend gering: Umgerechnet drei US-Dollar erpressen Mara-Mitglieder von Busfahrern zu dieser Zeit – begleichen sie jene nicht, bezahlen sie das mit dem Leben. Jegliches Kosten-Nutzen-Modell versagt in seiner Erklärungskraft, wenn Leichen zwölf Einschüsse aufweisen oder nicht identifiziert werden können, weil sie zerstückelt sind oder weil ihnen der Kopf fehlt.
Kaum etwas deutet daraufhin, dass sich das Schreckensszenario so bald ändern wird. Polizei und Justiz sind überfordert. Nicht selten werden deren Angehörige selbst Opfer der Gewalt. So nimmt es nicht wunder, wenn die Polizei auf Anruf nicht erscheint, wegschaut, sogar in flagranti ertappte Täter laufen lässt, Leichen dort ablädt, wo sie nicht in den eigenen Verantwortungsbereich fallen, wenn sie keine gründliche Recherche vornimmt oder sich die extra bezahlen lässt.
Ebenso wenig verwundert es, wenn die Polizei – um dennoch Erfolge vorweisen zu können – jemanden festnimmt, der ganz offensichtlich nichts anderes getan hat als „verdächtig“ umherzulaufen, nachdem sie ihm eigenhändig etwas Marihuana in die Tasche gesteckt hat, um doch noch einen „Beweis“ zu haben. Wer eine Zeugenaussage macht, ist ein lebensmüder Held, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er das nicht überlebt.
Will ein Mara-Mitglied eigener Gewaltattitüde entsagen, darf es sicher sein, dass ihm das seine „Freunde“ mit Gewalt vergelten werden, es sei denn, es macht glaubhaft, dass es sich ganz der Religion verschreibt. Aber auch dann darf es nur „schweigen“ – Marero bleibt es weiterhin. Will sich ein Jugendlicher von Banden-Gewalt fernhalten, holt ihn diese spätestens dann ein, wenn der dafür angekündigte Preis der Tod von Vater und Mutter ist.
Warum, um Gottes Willen, ist das so? Dieses Gewalträtsel lässt mich nicht mehr los. Es wird zu meinem ganz persönlichen Rätsel, für viele Forschungsjahre. Doch zuvor muss ich von dieser Gewalt hören, sie verstehen, und zwar verstehen ohne Empathie, allein rational. Aber ohne Emotionen geht auch das nicht ab.
Da trifft es sich gut, dass meine Freundin den Direktor des Strafvollzugs kennt, der anderthalb Jahrzehnte später Präsident des Landes werden wird und es heute noch ist. Sympathisch ist er mir nicht, doch dank seiner Fürsprache schaffe ich es in den Frauen-Knast, nach Santa Teresa. Ich erwarte, dort auf Täter zu treffen, nicht auf Opfer. Doch so einfach ist das Ganze nicht. Ich stoße vielmehr auf ein Phänomen, das ich Opfer-Täter-Hybrid nenne.
So würde ich auch die Frau nennen, die mir für ein Interview zur Verfügung steht. Mit ihr finde ich eine der Wenigen, die ihre Tat nicht bestreiten. Fast alle bestreiten sie selbst dann noch, wenn sie schon verurteilt sind. Von ihnen wird man folglich nichts über Gewaltmotive erfahren.
Ich frage meine Gesprächspartnerin, ob ich das Diktiergerät einschalten dürfe: Sie schüttelt den Kopf, und ich respektiere ihren Wunsch. Ein wenig jünger als ich, wirkt sie klein, gedrungen, nicht schön. Acht Jahre sitze sie schon hier, wegen Anstiftung zum Mord, erzählt sie mir. Zunächst berichtet sie, wie ihre Mutter sie als Kind geschlagen hat, immer wieder, mit Küchengeräten, Bratpfannen und Bügeleisen. Zum Beweis zeigt sie mir ihre Schulter – eine Narbe neben der anderen. Mit elf Jahren wurde sie dann verheiratet. Eine neue Hölle begann. Jetzt schlug sie ihr Mann, ein Trinker. Das nun hielt sie nicht mehr aus, und sie bat einen Bekannten, ihren Mann umzubringen.
Als sie mitten in ihrer Erzählung ist, läuft ein Gefängniswärter vorbei und bedeutet über ihre Schulter hinweg: „Warum hast du ihn denn nicht schon früher umgebracht, dann hättest du nicht so leiden müssen!“
Nach jedem Satz fragt sie mich, ob ich sie auch verstanden habe. Dabei laufen ihr die Tränen. Ich will wissen, wann sie aus dem Gefängnis entlassen wird. In einem Monat. Was sie dann machen wird. Sie weiß es nicht. Ob sie Angst vor Rache hat? Ja. Ob sie Besuch bekommt? Nein. Wovon sie die nötigen Hygieneartikel bezahlt? Die Frauen geben ihr etwas ab. Dann zeigt sie mir noch die Gefängnisanlage. Sie ist mir sympathisch. Stockholm-Syndrom? Auf einmal sagt sie, jetzt dürfe ich ihre Geschichte nun doch auf Diktiergerät aufnehmen … weil auch ich ihr sympathisch sei. Doch da ist meine Besuchszeit um.
Ich weiß nicht, ob es mich beruhigen sollte, dass sie schon fast ihre gesamte Strafe abgesessen hat und bald in Freiheit sein wird. Sie selbst stimmt der Gedanke nicht freudig … die Verwandten ihres Ex kennen den Termin …
Dann wartet der Männer-Knast in Boquerón auf mich.
Die Knast-Eisentür fällt hinter mir zu, und ich bin allein mit den 15 Jungs. Es sind Mareros, und jeder von ihnen hat mindestens zwei Morde auf dem Gewissen. Wir nehmen unter einem von ihnen gemalten Wandbild mit Jesus und Abendmahl Platz. Bestimmte Assoziationen zwischen Jüngern und Mareros drängen sich auf und sind doch so fehl am Platze … Der Chef, groß, füllig, gegeltes Haar, kurze Hosen und zwei Riesengoldketten um den Hals, hält eine Rede im Stile Hugo Chávez‘, den da noch kaum einer kennt. Er geißelt die Armut, das Fehlen von Demokratie, und dann heißt er mich mit den erhabensten Worten willkommen. Er zeigt mir ein Fotoalbum, in dem ich mit großer Überraschung genau die Freundin erkenne, bei der ich wohne.
Nun darf ich mein Begehr vortragen. Interviews? Mal sehen. Es wird abgestimmt. Die Abstimmung geht geradeso zu meinen Gunsten aus. Worüber ich sie fragen wolle? Über ihre Mordmotive. Nein, das gehe gar nicht, sie möchten nur über die Haftbedingungen sprechen. Wir einigen uns auf den Kompromiss des „sowohl als auch“.
Nein, noch darf ich nicht loslegen. Erst präsentieren sie mir noch ihr Goldenes Buch, in das ich als Ehrengast etwas hineinschreiben soll. Ich und Ehrengast bei Mördern! Stoisch tue ich auch das. Aber seltsam ist es schon, Mareros etwas ins „Poesiealbum“ zu schreiben.
Nun aber müsste ich doch alles abgeleistet haben und sollte mit meinen Fragen beginnen dürfen! Nein, doch nicht jetzt schon! Erst ergeht an mich noch die Frage nach der Gegenleistung. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich bin ratlos … und … verspreche ihnen mein Buch, das es noch gar nicht gibt, weil es ja erst aus den Interviews entstehen soll. Sie sind einverstanden … nein, sie sind es nicht: Wieso nur ein Buch, wo sie doch 15 sind? O.k., 15 Bücher also. Auf Deutsch!
Jetzt habe ich es geschafft, jetzt darf ich mit dem Interview beginnen. Aber nein, erst kommt nun noch ein Fernsehteam herein. Mist. Die neue Atmosphäre samt Kameras verfälscht alles. Die Mareros setzen sich in Pose: Noch jemand, der sie wichtig nimmt!
Natürlich ist es unmöglich, unter diesen Bedingungen Einzelinterviews zu führen. Ich entscheide mich für eine Art Seminar – Gott sei Dank habe ich mit Maulfaulen (so manches Mal die Studis) schon Erfahrungen gesammelt – und gebe das Diktiergerät immer weiter. Die Köpfe gehen nach unten und geantwortet wird mir nur, wenn und auch nur solange der Chef zustimmend nickt. Sie schildern mir die Situation in Guatemala und auch ihre eigene, dies genauso wie man es in gesellschaftskritischen Büchern lesen kann. Ich weiß, ihre Erfahrung sagt ihnen, dass westliche Besucher genau das hören wollen. Damit aber wird es ihnen zur (Selbst)Legitimation, zur Rechtfertigung ihrer Straftaten. Auch ich bin eine solche westliche Besucherin und nicke mit dem Kopf, denn so sehe ich das guatemaltekische „System“ ja auch … doch dann kommt die Schlussfolgerung, die mich konsterniert: „Also müsse man ja die (dafür Verantwortlichen) morden!“
Als wir uns verabschieden, versuche ich einmal mehr, und, zugegeben, sehr unnützer Weise, den mir gewohnten Small Talk: „Vielleicht sieht man sich ja noch einmal wieder?“
„Gewiss“, antworten sie mir. „In Spanien und Italien sind wir schon, bis nach Deutschland schaffen wir es auch bald!“
Lieber nicht, denke ich. Genauso kann es kommen, denke ich.
Ein letzter Besuch im Knast steht an. Diesmal ist es die Strafvollzugsanstalt Pavón.
Dorthin darf ich den coolen deutschen Konsul begleiten, der in Guate auch schon einmal ein Techno-Konzert organisiert hat und jetzt einen deutschstämmigen Gefangenen besucht. Der, ein junger „Von und Zu“, der im Verdacht steht, ein Mädchen ermordet zu haben, interessiert mich weniger, umso mehr dafür Bryan Oliva Lima, der hier ebenfalls einsitzt. Der ist der mutmaßliche Mörder von Weihbischof Juan Gerardi, dem Vorsitzenden der Kirchlichen Wahrheitskommission.
Oliva Lima, der inoffizielle Chef dieses Knastes, wohnt nicht etwa in einer der üblichen Sammelzellen, sondern allein, in einem Bungalow, inmitten des Knastgeländes. Das Haus hat mehrere Räume, Küche, Bad, Fernseher, Kühlschrank und ein Raum extra für Fitnessgeräte. Er solle sich wohlfühlen, dachten sich wohl die Angehörigen des Strafvollzugs, die so um ein paar Dollarscheine reicher wurden. In seinem weißen Gesicht ist keine Regung zu erkennen, als er, der Hauptmann der Armee, der einmal zum Stab des Präsidenten gehörte, spricht: Selbstverständlich habe er den Mord nicht begangen, er sei zur Tatzeit in Zypern gewesen. Doch wir wissen, von Zypern kam er mittags zurück, und der Mord geschah abends. Als ich heraustrete aus dem Pavillon, zittere ich, warum auch immer, am ganzen Körper – und will nur weg. Er, der Mörder stirbt später … durch Mord.
Es ist heiß in Guatemala-Stadt, und ich bin müde, der Eindrücke müde. Auf der Plaza Berlín lege ich mich auf eine Bank und schaue in den Himmel. Unglaublich blau ist der, und unglaublicher Weise schwirrt da auch noch, völlig stilecht, ein Quetzal. Mitten in der Stadt. Es ist der Nationalvogel des Landes. Er stirbt, sobald er in Gefangenschaft gerät. Als ich meinen Blick zur Seite wende, erblicke ich ein hässlich-graues Denkmal, auf dem das gespaltene Deutschland und das von der Mauer geteilte Berlin zu sehen sind. Darüber wacht eine Büste des Alexander von Humboldt. Was hat denn der arme Kerl mit der Teilung Deutschlands zu tun? Und warum, in aller Welt, gibt es in Guatemala ein Denkmal zur Berliner Mauer?
Genug des Ausruhens, weiter geht es mit den Interviews. Am selben Tag treffe ich die Vizeministerin für Justiz und einen Ex-Marero des Barrio 18, zu unterschiedlichen Zeiten natürlich:
Die Ministerin, stark geschminkt und mit dem unnatürlichen Blond lateinamerikanischer Elite-Frauen, kümmert sich um Recht und Ordnung in Guatemala. Der Ex-Marero hat beides mehrfach gebrochen. Er, gerade zurück aus Los Angeles, fühlt sich in Guatemala, seinem Heimatland, wie auf dem Mars so fremd, dabei will er doch hier ein neues Leben beginnen. Bei Adiós Tatuaje war er schon. Statt der Tattoos zieren nun rote Striemen seine Arme. Klein und dicklich, sieht er genauso aus, wie man sich einen Marero, zumindest zu dieser Zeit, vorstellt: rasiert, Base-Ball-Cape, weite Hosen, Sneakers. Die Ministerin sagt kluge Dinge auf wie ein Gedicht. Der Ex-Marero nuschelt durch fehlende Zähne einen Slang aus Englisch und Spanisch und redet ohne Pause und Ordnung. Die Ministerin trägt ein schickes Kostüm und viele Goldringe an den Händen. Der Ex-Marero hat am Auge zwei Piercings als Zeichen für zwei Knastjahre. Als jemand mit einer Reisetasche eintritt, freut er sich unbändig: Zum ersten Mal hat er Wäsche zum Wechseln. Am Ende erweist er mir die Ehre des üblichen Abschlusskusses auf die Wange. Ich fühle mich nicht wohl, lege ihm aber dennoch den Arm um die Schultern und wünsche ihm Glück. Die Ministerin und ich, wir verabschieden uns von weitem. Was ich ihr wünschen soll, weiß ich nicht.
Dann habe ich eine Einladung in die Casa Alianza, einer Kinderhilfsorganisation, die sich für den Schutz und die Wiedereingliederung von Straßenkindern in Guatemala engagiert. Hier wohnen auch minderjährige Mädchen, alle Opfer von Gewalt. Manche von ihnen, kaum zwölf Jahre alt, ziehen schon ihre eigenen Kinder groß.
Vor der Tür taucht ein kleiner Junge von etwa drei Jahren auf und fragt den mich begleitenden Polizisten:
„Bist du Polizist?“
„Ja.“
„Polizisten töten, nicht wahr?“
Der Polizist ist ratlos, und ich frage mich: Was antwortet man auf solchen Kindermund, wenn der Adressat neben einem steht?
Ins Polizeipräsidium gehe ich auch.
Da empfängt mich eine Polizistin, mit der ich mich gleich gut verstehe. Sie ist für weibliche Gewaltopfer zuständig.
„Nun ja“, sagt sie. „es kommt schon vor, dass eine Frau, schwer am Unterleib blutend, freitagnachmittags hier ankommt, doch, weil es eben Freitag ist, mit dem Hinweis nach Hause geschickt wird, sie solle am Montag wiederkommen.“
Ich mag mir das nicht vorstellen.
Irgendwie kommt dann das Gespräch auf das noch gültige Vagabundengesetz aus den 1930er Jahren, das das „Herumlungern“ auf der Straße verbietet und unter Strafe stellt, Knast eingeschlossen.
Ich frage sie: „Und wenn ich längere Zeit auf der Parkbank sitze, ist das auch ‚Herumlungern‘?“
„Bei Ihnen“, lächelt sie, „selbstverständlich nicht!“
„Aber“, setze ich noch einen drauf, „wenn ich (allzu oft ist mir genau das passiert), begleitet von räudigen Hunden, zwischen zwei Feldforschungsterminen auf der Straße über eine Stunde lang sinnlos hin und hergehe, weil es hier keine Cafés gibt, in die ich mich hineinsetzen könnte, und auch keine Parkbänke – ist das wenigstens das ‚Herumlungern‘?“
„Das ja“, antwortet mir die Polizistin und lacht.
Am anderen Tag ist mir schlecht. Komischerweise hatte ich mich den Tag zuvor gerade mal nicht in der Zona 1 verpflegt. Der Weg zur Toilette ist ein mehrmaliger, doch immer wieder plötzlicher Opfergang. Wie es mir jeweils danach ging, beschreibe ich hier lieber nicht. Ich bin blass, und es geht nichts mehr. Meine Freundin vermutet eine Amöbenruhr und nimmt mich mit zu ihrer Arbeitsstelle, der Polizeiakademie, da gebe es einen guten Arzt. Ich folge ihr und sehe den Arzt inmitten eines riesigen Appellplatzes vor hunderten hufeisenförmig aufgestellten Polizistenschülern. Er winkt mich zu sich, in die Mitte des Hufeisens. Neugierig-grinsend beschaut von den Polizeischülern, schwanke ich, den Kopf zwischen den Schultern vergraben, zu ihm hin. Der Arzt tastet vor eben diesen meinen entblößten Bauch ab: „Amöben“, sagt er daraufhin, höchst zufrieden. Der „Appellplatz“ applaudiert und lacht schallend. Mir ist nicht nach Lachen zumute.
Antigua
Nach der üblichen dreitätigen Tablettenkur bin ich wieder fit, und wir fahren nach Antigua im Hochland, das einmal, in Kolonialzeiten, Hauptstadt Zentralamerikas war.
Es ist das Wochenende vor Pfingsten, und als wir eintreffen, dämmert es schon leicht. Die Umrisse der Vulkane verblassen, aus roten Häusern werden braune und ockerfarbene. Schräge Blechblasmusik kündigt eine Prozession an. Männer und Jungen tragen lilafarbene Kutten und, über sich, den gekreuzigten Jesus aus Holz, der im Takt auf ihren Schultern schaukelt. Der Zug schreitet über „alfombras“, die künstlichen Teppiche aus buntgefärbten Sägespänen, die zuvor in langwierig-mühevoller Kleinarbeit auf die Straße gezaubert worden waren. Keine Gnade kennt die Prozession, zertritt die wunderschönen Ornamente ohne Scham. Da, im Einvernehmen mit der auf einmal rasant schwindenden Dämmerung, verfliegt der Geruch von Weihrauch, und dann liegen die eben noch finster dreinblickenden römischen Söldner, die Kutten abgeworfen, als fröhliche Guatemalteken beim Bier auf dem Rasen vor der Kathedrale.
Der Zauber ist verflogen.
Panajachel
Eine weitere Reise schließt sich an: nach Panajachel am Atitlán-See, ein Touristenort zwar, doch auch ich will hier gewesen sein: Zu wunderbar ist der See, in einem früheren Vulkankrater inmitten von drei Vulkanen, um deren Spitzen sich kleine Wölkchen kringeln. Mit einen Motorboot krachen wir pfeilschnell über das Wasser, das sich wie Beton anfühlt: Alle Innereien geraten durcheinander, und am liebsten würde ich sofort aussteigen. Doch, anders als Gottes Sohn, ist es mir nicht gegeben, über Wasser zu gehen. Am anderen Ufer, in Santiago de Atitlán, geht es ein wenig ursprünglicher zu als in Panajachel. Von den vorbeigehenden indígenas werden wir höflich gegrüßt. Doch auch hier bleiben wir, was wir ja auch sind: Touristen.
Tikal
Und ja, wir reisen auch nach Tikal, zu den Maya-Pyramiden im Petén, inmitten der Selva. Es ist irgendwie echter hier als bei den Azteken im mexikanischen Teótihuacan, ein unheimlich-verwunschen-schöner Ort, dies, obwohl an ihm doch einmal bis zu einer Million Menschen gelebt haben sollen. Brülläffchen tanzen über uns zwischen den Bäumen. Die Ruinen wachsen aus dem Gras. Manchmal weiß man nicht, wo das Eine beginnt und das Andere aufhört. Leider erleben wir nicht mehr (auf der Pyramide No. IV sitzend) die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne über der Pyramide No. I. Da sind wir zu spät. Man sollte das aber unbedingt gesehen haben, wird uns gesagt. Gleichwohl, wir brauchen kein solches Sonnenspektakel. Für den Moment sind wir auch so in einer anderen Welt.
Ob ich in sie noch einmal zurückkehren werde?
Die Mücken warten darauf.
Vergebens.
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Bildquellen: [1–4, 8–11] wiki; [5] dgsp.gob.gt; [6] wikiguate; [7] dca.gob.gt