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Muruchi Poma, Feliciano Félix: Minero con poder de dinamita
La vida de un activista boliviano

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Bolivianische Geschichte hautnah erleben

Rezension von Muruchi Pomas Minero con poderUm es vorweg zu nehmen: „Minero de poder de dinamita. La vida de un activista boliviano“ der Autoren Feliciano Félix Muruchi Poma, Linda Farthing D. und Benjamin Kohl B. ist von der ersten bis zur letzten Seite ein mitreißendes Buch über den Werdegang eines armen Aymara-Landwirts, Minenarbeiters und Gewerkschaftsaktivisten vor dem Hintergrund der bolivianischen Geschichte von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es eröffnet dem Leser nicht nur persönliche Eindrücke von den Schwierigkeiten des Lebens in den abgelegenen Berggegenden, sondern auch neue Perspektiven auf die Entwicklung Boliviens, ohne in einschläfernde Geschichtsvermittlung zu verfallen.

Denn Geschichte kann mitunter ziemlich langweilig sein: Historische Daten reihen sich dann an Listen von Präsidenten, Kriegen, Wirtschaftsflauten. Alles chronologisch geordnet, aber öde. Zudem wird meist eine Perspektive von oben vermittelt, von den Mächtigen, den Entscheidungsträgern, seien es nun Oligarchen, Diktatoren oder gewählte Staatsoberhäupter. Die Erinnerungen der „einfachen Leute“ kommen meist zu kurz. Ihre Sicht auf die gelebte Geschichte blieb lange Zeit im Dunkeln, einfach, weil sie die Historiker nicht interessierte. Das änderte sich erst in den 1930er Jahren, als die Methode der Oral History die Geschichtswissenschaft bereicherte. Die Befragung von Zeitzeugen gab den Blick auf Emotionen und Standpunkte zu historischen Ereignissen frei.

Auch das vorliegende Buch nutzt die Technik der Oral History, um den Aymara Félix Muruchi Poma sein Leben erzählen zu lassen, von seiner Kindheit in den abgelegenen Bergen der Westanden, von der Armut, den traditionellen Bräuchen, von der Organisation der ayllus – und von den Minen. Die Zeit der Zinnbarone war vorbei, die Revolution von 1952 versandete immer mehr, als der Protagonist Mitte der 1960er Jahre anfing, in den Minen des Siglo XX zu arbeiten. Inzwischen hatte das Militär den kurzen demokratischen Frühling wieder erstickt. Muruchi Poma schildert die Repressionen, die Verhaftungen und Ermordungen von Minenarbeitern, vor allem Gewerkschaftsführern und Kommunisten. Er berichtet über das Massaker von San Juan im Juni 1967. Und er erzählt, wie er vor dem Hintergrund von Militärgewalt und lebensgefährlicher Arbeit im Bergwerk politisch in der Kommunistischen Partei Marxisten-Leninisten (Partido Comunista Marxista-Leninista, PCML) zunehmend aktiv wurde: „Wenn du schon sterben musst, dann besser für eine gerechte Sache“ (S. 91, Übersetzung des Verf.).

Von tíos und líos

Wie bei allen Berichten über Bergbau in Bolivien darf auch bei Félix Muruchi Poma el tío, der Gott der Mine mit dem Antlitz des Teufels, nicht fehlen (S. 99-100). Er schützt die Arbeiter vor allen Übeln im Berg. Aber wenn er keine Zigaretten, Alkohol oder keine Coca-Blätter erhält, dann erzürnt er – mit oft tödlichem Ausgang für die Minenarbeiter.

Bergbau in Bolivien Foto: Quetzal-Redaktion, sscDer Protagonist erzählt auch von den Schwierigkeiten (líos), die er sich durch seine politischen Aktivitäten einbrockte. Auf dem Weg zu einem Kongress, auf dem der Minenarbeiter-Bauern-Pakt (pacto minero-campesino) abgeschlossen werden sollte, geriet er zum ersten Mal in die Hände der Polizei. Doch die Misshandlungen und Folter hielten ihn nicht davon ab, sich weiter im Widerstand zu engagieren. Es war eine riskante Entscheidung. Denn nach der Machtergreifung von Hugo Banzer 1971 wurde Bolivien wieder zu einer Diktatur. Das bedeute für Muruchi Poma und für viele andere Menschen aus seinem Umkreis erneut Verhaftungen, Misshandlungen und Folter. Manche seiner Freunde starben im Kugelhagel. Es sind diese Schilderungen, die uns die bolivianische Geschichte erfahrbar machen, die Tragödien, die sich hinter jedem Staatsstreich verbergen. Dabei bedeuteten die Putsche nicht nur Folter und Tod, sondern auch das Zerplatzen von Träumen der „einfachen Leute“. Studien konnten nicht vollendet werden, Arbeitsplätze gingen verloren – und ebenso Zukunftspläne (S. 118).

Da der Diktator Banzer jegliche sozialen Organisationen verbieten ließ, agierte Muruchi Poma fortan im Untergrund. Er stellte Kontakte zu den verschiedenen Gewerkschaften her, reiste, ständig einer möglichen Verhaftung gewahr, durchs Land – und illegal auch nach Chile, wohin sich viele Gewerkschaftsführer geflüchtet hatten, in den scheinbar sicheren Hafen der Regierung von Salvador Allende. Zurück in Bolivien bezahlte der Protagonist seinen Kampf um Mitbestimmung und für die Wiedererrichtung der Demokratie erneut mit Folter und Gefängnis. Diesmal jedoch nahm die Haft einen unerwarteten Verlauf: Banzer und der sich inzwischen an die Macht geputschte chilenische General Augusto Pinochet schienen ein gemeinsames Konzept zur Sonderbehandlung wichtiger Gefangener ausgearbeitet zu haben. Muruchi Poma und andere Funktionäre wurden kurzerhand in die „Prärie“ geschickt – und das war die Insel Chiloé ganz im Süden Chiles. Dieses Vorgehen versprach für die Militärs einige Vorteile: wenige Fluchtmöglichkeiten, keine Kontakte für die Gefangenen, keine Öffentlichkeit, keine Kosten, denn die Deportierten mussten sich ihren „Aufenthalt“ auf der Insel selbst verdienen.

Exil und Exit

In einer lebensgefährlichen Aktion gelang Muruchi Poma die Flucht von Chiloé und vor den Schergen. Er erbat politisches Asyl in der holländischen Botschaft und ging ins Exil nach Amsterdam. Gerade für Europäer sind seine Einschätzungen aus Indígena-Sicht auf das Leben in einem entwickelten Industrieland interessant. Besonders prägnant äußert er sich an einer Stelle dazu, als er bereits wieder nach Bolivien zurückgekehrt war: „Das Fehlen materiellen Wohlstands wie fließendes Wasser, Heizung und anderer grundsätzlicher Ausstattungen in den Häusern wurde durch die Liebe und Wärme der Familie und Freunde kompensiert. Ich bemerkte den extremen Kontrast mit Europa, wo man den materiellen Wohlstand besaß – auf Kosten des Fehlens menschlicher Beziehungen“ (S. 179, Übers. des Verf.). Der Abfall seiner Partei von ihren Idealen zugunsten einer Regierungsbeteiligung, innerparteiliche Spannungen und Wahlfälschungen sowie die gesamte Parteipolitik enttäuschten ihn jedoch sehr. Aber erst ein neuerlicher Staatsstreich (dieses Mal von García Meza) veranlasste ihn, erneut ins Exil zu gehen, da sich sein Name auf der schwarzen Liste befand. Über Lima gelangte er zurück nach Holland. Doch er konnte sich in Europa nicht anpassen. Just zum Beginn des neoliberalen Schocks 1985 kehrte der Protagonist heim nach Bolivien. Wieder kämpfte er, diesmal gegen die Diskriminierung von Indigenen und Minenarbeitern. Er engagierte sich in sozialen und Entwicklungsprojekten. Zugleich widersetzte er sich der ständig wachsenden Korruption und dem Neoliberalismus. Selbstredend war Muruchi Poma maßgeblich an den Protesten ab 2003 in La Paz und El Alto beteiligt. 2006 wurde schließlich Evo Morales zum Präsidenten gewählt, das erste indigene Staatsoberhaupt in Bolivien. Aber ausgerechnet dieses wichtige Ereignis bleibt im Buch eine Randnotiz – keine Reflexionen, keine Kommentare. Es scheint, als hätte sich der Protagonist nach über 35 Jahren Kampf doch langsam zurückgezogen. Das wäre nur verständlich, doch für den Leser endet das Buch zu abrupt. Irgendwie fühlt es sich so an, als sei die Geschichte gerade im Moment ihres Kulminationspunktes, dem Sieg der Indigenen und Arbeiter, zu ihrem Ende gekommen.

Dies ist zugleich die größte Kritik am Buch. Wünschenswert wäre für eine eventuelle zweite Auflage ein nochmaliges professionelles Lektorat, da sich stellenweise Informationen wiederholen und mitunter das Spanisch die grammatikalische Struktur des Aymara annimmt. Auch wünscht man sich als Leser gerade im letzten Drittel des Buches eine Straffung der Information. Aber bei beiden Punkten offenbart sich das Problem der Oral History, dass durch die Bearbeitung Authentizität verloren ginge.

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Das Buch erschien bisher nur auf Spanisch. Einige wenige Exemplare können direkt beim Verfasser des Buches unter jachafelix@yahoo.com.mx bestellt werden. Der Preis beträgt 20 US-Dollar zusätzlich 10 US-Dollar für den Versand und gegebenenfalls anfallende Kosten für den Geldtransfer.

Muruchi Poma, F. Félix; Farthing D., Linda;
Kohl B., Benjamin:
Minero con poder de dinamita.
La vida de un activista boliviano

Plural Verlag, La Paz, 200
9

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, ssc

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