Lieber Tío,
deine kleine, aus Ton gefertigte und von den Opfergaben der Minenarbeiter gesäumte Skulptur fällt auf diesem im Innern der Mine aufgenommenen Foto deutlich ins Auge. Die Arbeiter sitzen auf den Verstrebungen der Stollen, kauen in deiner Gegenwart Kokablätter und bitten dich inständig um ein reiches Zinnflöz und Schutz vor Krankheit und Gefahr. Die Schnapsflaschen sind dafür da, deinen Durst zu löschen, aber auch um dir und jener unsichtbaren Gottheit der Anden, die in ihrem Inneren die Bodenschätze bewahrt, der Mutter Erde (Pachamama) mit einem alten Ritus zu huldigen.
Bei näherer Betrachtung deines Bildnisses fällt mir auf, dass dein Mund und deine Nase vom Zigarettenrauch eingeschwärzt, deine Augen so rund wie Glasmurmeln, deine Arme leicht angewinkelt und dein ganzer Körper mit Konfetti und Luftschlangen geschmückt sind. Ganz ehrlich überbietet dein Gesicht an Hässlichkeit das des Phantoms der Oper bei Weitem, und dein Körper ist entstellter als der jedes Ungeheuers mit Schwanz und Hörnern. Vielleicht musst du deshalb als Verbannter in dem düstersten und tiefsten Winkel der Mine leben, deren Stollen man weder mit dem Königreich des Hades noch mit Dantes Hölle vergleichen kann. Vielmehr ist es ein Ort der totalen Finsternis, den nur die Bergleute kennen und an dem die Gläubigen dich mehr fürchten als ihren Gott und die Abergläubigen dir mehr Verehrung entgegenbringen als der Heiligen Jungfrau der Bergwerkstollen (Virgen del Socavón).
Nach katholischer Lesart bist du einer der himmlischen Heerscharen, der sich gegen den Willen des Schöpfers aufgelehnt hat und deshalb zu ewiger Verdammnis verurteilt in den Flammen der Hölle schmort. Aber du – Urheber des Guten wie des Bösen – gelangtest noch nicht einmal bis an die Pforten des Fegefeuers. Dir gefiel es vielmehr, mit den Gottheiten der andinen Mythologie, dem Geist der Hügel (Huari) und dem Todesdämon (Supay), zu verschmelzen, dich Thiula (Tío) nennen zu lassen und deinen Thron und dein Reich im Dunkeln der Mine zu errichten. Seitdem gebietest du über die Rohstoffvorkommen und die Bergmänner, die dir beim Ein- und Ausfahren ihre tiefste Verehrung darbringen, dir Kokablätter, Zigaretten und Schnapsflaschen als Tribut zahlen, alles, um dir ihren Glauben und ihre Zuneigung zu bezeugen und mit dir in einer Art wunderbarem Ritual verbunden zu sein. In deiner Mischung aus Gut und Böse bist du ein widersprüchliches Wesen, trotzdem übst du großen Einfluss auf die Bewohner des Hochlands aus, wo du es wagst, deine satanischen Kräfte gegen die Macht Gottes antreten zu lassen.
Kurz vor dem Karneval besprengen die Minenarbeiter den Boden deiner Höhle mit berauschenden Getränken, schmücken deinen Hals mit Luftschlangen und werfen händeweise Konfetti und Zuckerwerk um deinen Thron, von wo aus du registrierst, wie sie deinen langen, dicken und steifen Penis begaffen. Sodann nimmst du die Gestalt Luzifers an, verlässt die Mine und freust dich darauf, mit deinen teuflischen Ordensbrüdern zu tanzen, trinkst die Opfergaben der Leute und verliebst dich in die schönste der Jungfrauen, die sich zu Ehren deiner lasterhaften Ehefrau (Chinasupay) als Teufelinnen verkleiden: Stiefeletten mit hohen Absätzen, kurze Reifröcke, leichte Blusen und mit Echsen, Spinnen und Lurchen drapierte Jacken. Die Maskengesichter der Teufelinnen haben hervorquellende Augen mit langen Wimpern, granatrote Backenknochen und verführerische Lippen, die nicht nur ein bezauberndes Lächeln andeuten, sondern durch die auch eine mit Edelsteinen eingefasste Zahnreihe hindurchschimmert.
Im Takt der Trommeln, Becken und Blechbläser tanzt du, bis die Luft von den Schwingungen deines Samtumhangs und deines Zepters brennt, während die Teufelinnen, aufgestachelt von Bär und Kondor, den Erzengel Michael zu verführen suchen, indem sie viel Bein zeigen und ihre Brüste mit ihren geflochtenen Haaren bedecken.
Dein Luzifergewand, das aus Licht und Träumen gewebt zu sein scheint, ist eines der beneidenswertesten Kostüme des Karnevals von Oruro, bei dem dich alle mit einer Mischung aus tiefster Furcht und höchster Bewunderung anstarren. Dein mit Gold- und Silberfäden prachtvoll gesäumter Samtumhang ist mit Vipern, Eidechsen und Drachen verziert; dein kurzes Wams und dein Chemisett aber sind übersät mit Knöpfen, Pailletten, Kristallen und glitzersteingeschmückten Figuren; auf deinen Stiefeln und Handschuhen prangen Kröten-, Spinnen- und Skorpionreliefs, während deine bunten Halstücher im Verein mit deinen Haaren wie Blumensträuße durch die Luft flattern. Dein bis an die Grenze des Unerträglichen deformiertes Maskengesicht besteht aus einer zerplatzten Nase, spitzen Ohren und schrecklichen Zähnen; deine Augen, so groß und beweglich wie die eines Chamäleons, changieren am Tag in lebendigen Farben und phosphoreszieren in der Nacht. Und um deinen Untertanen Angst zu machen und Respekt einzuflößen, trägst du zwischen den spitzen Hörnern auf deiner Stirn eine dreiköpfige Schlange.
Sobald der Karneval vorüber ist, in dessen wunderbarem Verlauf du dich voll und ganz dem Tanz, der Liebe und dem Alkohol hingegeben hast, kehrst du in die Finsternis der Mine zurück, nicht länger als Luzifer, sondern wieder als Tío, der Beschützer der Bergleute. Sie nennen dich einen kulturellen Synkretismus zwischen der katholischen Religion und dem Heidentum der Ahnen, nicht nur, weil du zu der Legende gehörst, die sich um die Mine und ihre Belange dreht, sondern auch, weil du als mythologisches Wesen in der Lage bist, die Menschen mit deinen magischen Kräften zu versklaven oder zu befreien.
Jetzt, wo ich mir dein Bild ein weiteres Mal anschaue, kann ich mich des unguten Gefühls, dass du mich wie mein Schatten verfolgst, nicht erwehren. Manchmal bist du mir näher als Mephisto dem Faust, und ich ahne, dass du mich in Versuchung führen willst, indem du mich zu so grässlichen Sünden anstiftest, von denen mich noch nicht einmal der Tod erlösen könnte. Wie in einem Labyrinth der Träume verschmelze ich dann mit deinem Bild und rede mit der Stimme des Satans, als ob du allen Ernstes wirklich existiertest und nicht nur in der Fantasie derjenigen, die, von Angst und Aberglauben getrieben, dich für gefährlicher als einen Lindwurm und für wilder als den Minotaurus – halb Mensch, halb Bestie – halten.
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Das Original auf Spanisch finden Sie hier. Mehr über den Autor und sein Werk gibt es an dieser Stelle.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler
Bildquelle: Stanislas de Lafon_. Foto veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Víctor Montoya.