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Leipziger MittwochsATTACke diskutiert über den Putsch in Bolivien

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Laut Verfassung seines Landes hätte Evo Morales sein Amt als Präsident Boliviens bis zum 22. Januar 2020 ausüben sollen. Warum und unter welchen Umständen er dieses Mandat vorzeitig aufgeben musste, wurde am selben Tag in Leipzig diskutiert. Wie jeden letzten Mittwoch im Monat fand in der Schaubühne Lindenfels die MittwochsATTACke statt – diesmal zum Putsch in Bolivien. Zum Auftakt wurde der Dokumentarfilm „Before the Coup“ (25 Minuten; span. Originalton und eng. Untertitel) gezeigt, danach sprach Muruchi Poma zum Thema und anschließend diskutierten die Anwesenden über das Gesehene und Gehörte. Moderiert wurde die Veranstaltung von Mike Nagler, der neben attac Leipzig auch das politische Filmfestival „globaLe“ vertrat. Das Publikum hatte nicht nur die Gelegenheit, „Before the Coup“ in deutscher, wahrscheinlich sogar internationaler Erstaufführung zu erleben. Mit Muruchi Poma hatten die Veranstalter auch einen Referenten gewonnen, der gleichermaßen authentisch wie kompetent über die Ereignisse in seinem Heimatland berichten konnte. Als Indigener repräsentiert er jenen Teil der bolivianischen Bevölkerung, der seit 500 Jahren unter der kolonialen Vorherrschaft leidet. In den ersten beiden Novemberwochen des vergangenen Jahres musste Muruchi Poma vor Ort erleben, wie die Putschisten den ersten indigenen Präsidenten Boliviens aus seinem Amt und ins Exil trieben. Ursprünglich wollte sich der Vorsitzende des Leipziger Vereins „Ayni“ ein aktuelles Bild von den Auseinandersetzungen um den strategisch wichtigen Rohstoff Lithium machen – ein Thema, mit dem sich der promovierte Ökonom und seine Mitstreiter seit 2012 beschäftigen. Der Putsch warf jedoch alle Pläne über den Haufen.

Bevor Muruchi Poma das Wort ergriff, bot der hochaktuelle Dokumentarfilm Gelegenheit, sich ein Bild vom Geschehen rund um den Putsch zu machen. Der Filmemacher Diego Gonzales hatte Evo Morales während seines Wahlkampfes im Oktober 2019 begleitet. Die immanente Spannung des Films ergibt sich aus dem Kontrast zwischen den Bildern, die vor dem Putsch aufgenommen wurden, und den Sequenzen, die die Putschisten in Aktion zeigen. Zwar deutet sich in den Gesprächen mit Evo Morales bereits an, dass sich unter EvoMorales_LaPaz_Bild_Quetzalredaktion_gcder Oberfläche der zahlreichen Wahlkampfveranstaltungen, die von Militärmusik, Tänzen, politischen Losungen und Sprechchören der Anhänger des Präsidenten begleitet werden, Gefährliches zusammenbraut. Dennoch ist der Zuschauer, der um die Ereignisse im November weiß, erstaunt über den Optimismus und die Zuversicht, die Evo Morales im unmittelbaren Vorfeld des Putsches verbreitet. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man anschließend erfährt, wie zielgerichtet und planvoll die Putschisten vorgegangen sind, um die Debatte um die Wahlergebnisse für ihre Zwecke zu nutzen.

Muruchi Poma, der bereits 2007 eine Biografie über Evo Morales geschrieben hat, analysiert die Ereignisse in Bolivien unter vier Gesichtspunkten. Erstens konnte er anhand klar definierter Kriterien überzeugend nachweisen, dass es sich bei den Ereignissen in der ersten Novemberhälfte 2019 tatsächlich um einen Putsch gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten gehandelt hat. Dies ist deshalb wichtig, weil es seitens der Putschisten und ihrer Hintermänner den massiven Versuch gibt, dies in Frage zu stellen. Im zweiten Punkt setzte sich Muruchi Poma mit der Behauptung auseinander, dass die Wahlen vom 20. Oktober 2019 ein Betrug gewesen seien. Er verwies darauf, dass selbst die OAS, deren Berichte der Opposition als Vorwand dienten, um gegenüber Evo Morales den Vorwurf des Wahlbetruges zu erheben, lediglich von Unregelmäßigkeiten spricht. Solche kämen in Bolivien bei jeder Wahl vor. Drittens benannte er die Fehler der Regierung, die es den Putschisten erleichtert hätte, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Dazu gehören neben dem Ignorieren der Ergebnisse des Referendums vom Februar 2016, bei dem 51 Prozent einer weiteren Amtszeit von Evo Morales eine Absage erteilt hatten, und der teilweisen Zerstörung der eigenen sozialen Basis auch die Entscheidungen der Regierung über das Lithium. Über den vierten Punkt – die Verdienste und Errungenschaften der Regierungen von Evo Morales (2006-2019) – konnte der Referent aufgrund der fehlenden Zeit leider keine weiteren Ausführungen machen – ein Manko, das durch die Informationen des vorher gezeigten Films zu diesem Thema teilweise kompensiert wurde.

In der anschließenden Diskussion ging Muruchi Poma auf Nachfrage zunächst noch einmal auf das Thema „Lithium“ ein. Anfang November hatte Evo Morales per Dekret ein kurz zuvor unterzeichnetes Abkommen über ein Joint Venture mit einem deutschen Unternehmen über den gemeinsamen Abbau des gefragten Rohstoffes gekündigt. Dieser völlig überraschende Schritt erfolgte offensichtlich vor dem Hintergrund einer Allianz zwischen Luis Fernando Camacho, einem Oligarchen, der von Santa Cruz aus den Putsch organisiert hatte, einerseits und Marco Antonio Pumari, der von Potosí aus den Widerstand gegen das Lithium-Abkommen forciert hatte, andererseits. Offensichtlich kam diese Maßnahme zu spät, um die Eskalation, die dann am 10. November zum erzwungenen Rücktritt von Evo Morales geführt hat, zu stoppen. Interessant war zudem die Information, dass unterdessen zwischen verschiedenen Gruppierungen der Putschisten ein Gerangel um die Kontrolle über die Rohstoffe ausgebrochen ist, hinter denen wiederum unterschiedliche ausländische Geschäftsinteressen stehen.

Desweiteren drehte sich die Diskussion um die Frage, welche Chancen der MAS (Bewegung zum Sozialismus), die Partei von Evo Morales, bei den für den 3. Mai 2020 anberaumten Wahlen hat. Der MAS hatte am 19. Januar seine beiden Spitzenkandidaten bekannt gegeben. Luis Arce, langjähriger Wirtschaftsminister, und David Choquehuanca, ehemaliger Außenminister, stellen sich für das Amt des Präsidenten bzw. Vizepräsidenten zur Wahl. Das Duo soll das Bündnis zwischen verschiedenen Teilen der bolivianischen Gesellschaft symbolisieren. Arce steht für die urbanen, nichtindigenen Mittelschichten, Choquehuanca für die indigene Bevölkerung und die sozialen Bewegungen. Bislang führt der MAS die Meinungsumfragen an, ob dies für einen Sieg im ersten bzw. zweiten Wahlgang reichen wird, ist jedoch offen. Hinzu kommt, dass die Putschisten alles unternehmen, um eine MAS-Regierung zu verhindern. Bislang können sie dabei auf die Unterstützung der Medien, der Armee und der Polizei rechnen. Nach wie vor sind mehr als 300 MAS-Anhänger inhaftiert und ca. tausend Menschen, vor allem in den ländlichen und indigenen Gebieten, sind verschwunden. Die alte, weiße Elite, die vom „Wirtschaftswunder“ der Regierung Morales prächtig profitiert hat und sich nun offen gegen ihn stellt, wirft ihre Macht in die Waagschale, um dem gesamten Projekt der Neugründung Boliviens den Garaus zu machen. Angesichts der Tatsache, dass sie dabei auf die tatkräftige Unterstützung der USA und ihrer regionalen Verbündeten rechnen kann, wird sich der Kampf des MAS um die Rückkehr an die Regierung allein mit Wahlen nicht gewinnen lassen. Wie bereits in der Zeit von 2000 bis 2005 werden auch diesmal wieder die sozialen Bewegungen den Machtkampf entscheiden. Nicht nur die fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas, sondern auch wir in Europa sind aufgefordert, unsere Lehren aus der bolivianischen Lektion zu ziehen. In diesem Sinne war die MittwochsATTACke vom 22. Januar 2020 ein erster, wichtiger Schritt.

 

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Bildquelle: Quetzalredaktion_gc

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