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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Theologische Überlegungen zur Straflosigkeit aus El Salvador

Luise Anna Reinisch* | | Artikel drucken
Lesedauer: 20 Minuten
El Salvador - Theologische Überlegungen zur Straflosigkeit (139 Downloads )

Wandbild mit der Darstellung eines Massakers. Bildquelle: Luise Anna Reinisch.Nachdem ich sechs Monate in El Salvador gelebt habe, möchte ich die zwei Tage nutzen, an denen die UCA aus politischen Gründen geschlossen wurde, um über ein Thema der nationalen Wirklichkeit dieses Landes nachzudenken, das mich am stärksten beschäftigt: Die Straflosigkeit – d. h. fehlende Gerechtigkeit, nicht bloß fehlende Strafe.

Ich schreibe diese Überlegungen ausgehend von der persönlichen Erfahrung nieder, die ich als deutsche Theologin in El Salvador gemacht habe. Ich kann hier das Thema nicht erschöpfend behandeln, sondern will vor allem Impulse für eine weitergehende Diskussion geben – nicht zuletzt deshalb, weil ich glaube, dass die Straflosigkeit ein offener Punkt der Theologie der Befreiung ist.

Straflosigkeit in El Salvador

In El Salvador kann man zwischen drei Arten der Straflosigkeit unterscheiden:

1. Die historische Straflosigkeit wird durch das Amnestiegesetz von 1993 garantiert, das jeglichen politischen Prozess um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während des Bürgerkrieges zwischen 1980 und 1992 begangen worden sind, unmöglich macht. Als Deutsche bin ich mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass historische Erinnerungskultur wichtig ist, und als ich nach El Salvador kam, konnte ich folglich die Politik des „Vergeben und Vergessen“, die sich im Amnestiegesetz ausdrückt, weder verstehen noch mit ihr einverstanden sein. Ich sehe und fühle, dass die Wunden der Opfer offen sind und immer noch stark bluten, wie die extreme politische Polarisation zeigt, die den Wahlkampf in diesem Jahr prägte. [1] Die historische Straflosigkeit betrifft die UCA und die Jesuiten direkt, denn im Fall der ermordeten Priester [2] gab es weder ein Urteil noch wurden die tatsächlichen Vorfälle aufgeklärt, was den Prozess der Versöhnung unmöglich macht. Die Jesuiten wurden sogar beschuldigt, gar nicht vergeben zu wollen, woraufhin sie zu Recht entgegneten: „Wir wollen wissen, wem wir vergeben“, womit sie sich auf die Dringlichkeit beziehen, die Wahrheit zu erfahren. Rafael de Sivatte stellt biblisch fest, dass es etwas anderes ist, die fremde Wange anzubieten, als die eigene. José Maria Tojeira zitiert G.K. Chester und unterstreicht, dass „vergeben“ kein reflexives Verb ist, es reicht nicht „sich“ zu vergeben.

2. Die politische Straflosigkeit der Korruption, die in den vergangenen zwanzig Jahren ARENA Regierung herrschte, hat ihre Wurzeln in der Erfahrung der historischen Straflosigkeit. Adolfo Tórrez‘ Selbstmord (oder Mord, wie El Faro fragt) [3] am 2. Juni 2009 ist eine programmatische Tatsache des Machtwechsels in El Salvador und die weiteren Fälle von Korruption, welche die neue Regierung der FMLN in diesen Tagen entdeckt, sind nur die Spitze eines Eisberges. Es zeigt sich, dass nach dem Friedensabkommen von 1992 die Elite weiterhin regierte, das Geld des Volkes veruntreute – ohne Scham und vor allem ohne Angst vor Konsequenzen der eigenen Taten, was die tiefe Verwurzelung der Straflosigkeit von Korruption in den politischen Strukturen El Salvadors zeigt. Ich möchte etwas betonen, was oft nicht beachtet wird: Die ungestrafte politische Korruption hat konkrete Opfer. Wenn hohe Funktionäre des ANDA [4] Geld stehlen (El Faro vom 16. Juli 2009), dann stehlen sie es jemandem. Menschen, die an durch verseuchtes Wasser verursachten Krankheiten sterben werden von jemandem ermordet, in diesem Fall von Carlos Perla und anderen. Ein anderes gutes Beispiel sind die AIDS-Toten. Es stirbt niemand an HIV, die AIDS Toten wurden vielmehr durch den Mangel an Medikamente zur Bekämpfung des Virus ermordet.

3. Die dritte Art Straflosigkeit zeigt sich im Phänomen der Gewalt, die täglich 13 bis 15 Tote in einem Land verursacht, das gerade einmal 6 Mio. Einwohner hat. El Salvador weist eine der höchsten Mordraten der Welt auf und in den 17 Jahren seit Kriegsende gab es die gleiche Anzahl von Toten wie in den zwölf Jahren des Bürgerkrieges (man geht von 100.000 Opfern aus). Die Täter dieser Verbrechen – es ist viel von den „Maras“ [5] die Rede – bleiben straflos, weil es an Untersuchungen durch die nationale Polizei fehlt; aber vor allem deshalb, weil die Strafen, die verhängt werden, statt zu bestrafen sie im Inneren der Gefängnisse beschützen, wo sie sich besser organisieren als zuvor. Daran zeigt sich nicht nur das vollständige Scheitern des Gefängnissystems, von dem ich später noch sprechen werde, sondern auch wie verhängnisvoll der Kontext der historischen und politischen Straflosigkeit ist: Wir leben in einem Land, in dem sich durch das Vergessen des Genozids an 30.000 Indigenen 1932 die Geschichte in den 1970er Jahren auf tragische Weise wiederholte, als Repressionen der Militärregierung gegen die Bevölkerung im stärker wurden. Dies führte letzten Endes zum Bürgerkrieg, der 100.000 tote Brüder und Schwestern hinterließ. Wir leben in einem Land, in dem die Elite sich schon immer (sagen wir: seit 500 Jahren) auf Kosten der Armut der Mehrheiten bereicherte, indem sie den Mann, und die Frau sogar noch mehr, die Erde und die Rohstoffe ausbeuten. Die fürchterliche Kriminalität in El Salvador, die uns im Kriegszustand leben lässt, wie die OAS vor kurzem sagte, muss man in diesem Kontext verstehen: Wir werden sie niemals bekämpfen und noch viel weniger ihr vorbeugen können, solange die oben diejenigen sind, die das System der Straflosigkeit in Wirklichkeit schaffen und erhalten, welches sich schon seit langem in eine richtige Kultur der Straflosigkeit verwandelt hat. Die Straflosigkeit in El Salvador ist von oben eingerichtet, um die verarmten Mehrheiten zu unterdrücken, auszubeuten und auszuschließen. Die Straflosigkeit in El Salvador ist geschichtlich verwurzelt – seit 500 Jahren. So ist die Straflosigkeit, in der die „Maras“ agieren können, weder ihre Erfindung noch Zufall, sondern die Antwort aus der Hoffnungslosigkeit von unten auf das straflose System von oben.

Befreiungstheologische Argumente zum Problem der Straflosigkeit

Die oben skizzierte Katastrophe fordert gerade aus befreiungstheologischer Sicht eine Antwort. Die Theologie der Befreiung spielt seit den 1970er Jahren eine wichtige Rolle in vielen lateinamerikanischen Ländern. In El Salvador sind ihre Schlüsselfiguren Oscar Arnulfo Romero, der zwischen 1977 und 1980 Erzbischof San Salvadors war und sich in dieser Zeit unter anderem in seinen prophetischen Predigten mit dem durch politische Repressionen stark unterdrückten Volk solidarisierte, und die Jesuiten um Ignacio Ellacuría, der 1965 die UCA mitgründete und sich im Bürgerkrieg in den 1980er Jahren immer wieder für Verhandlungen zwischen Guerilla und Militär einsetzte. Sowohl Oscar Romero als auch Ignacio Ellacuría sowie fünf seiner Ordensbrüder wurden für ihr Engagement vom Militär ermordet. Beide Fälle sind bis heute weder juristisch aufgeklärt worden, noch wurden sie für ihre Martyrium heilig gesprochen, was den Konflikt zwischen katholischer Amtskirche und lateinamerikanischen Befreiungstheologen deutlich macht. Wie diese Beispiele zeigen, verhält sich also die Theologie der Befreiung zur politischen Situation eines Landes nicht neutral, sondern optiert bis zur letzten Konsequenz für die Armen und Opfer. Sie versteht sich als historische und kontextuelle Theologie, sodass es ihr gelingt, eine Alternative zur europäischen Theologie – für die lateinamerikanischen Völker eine imperialistische – zu sein. Sie hat ihre Priorität in der Praxis, insbesondere in der populären Lektüre der Bibel. Sie setzt das Reich Gottes als Prinzip, das Menschen gemeinsam leben können, und beleuchtet davon ausgehend wirtschaftliche, politische und historische Strukturen, wie den Kapitalismus, und bedenkt Alternativen. Als Gegensatz und Feindbild sieht die Theologie der  Befreiung nicht die Atheisten, sondern Christen, die unter dem Deckmantel der Religion Geld und Macht zu ihren Götzen machen.

In der Basisarbeit mit Menschen in El Salvador sind religiöse Sprache und theologische Fragestellungen Mittel, um die Not des alltäglichen Lebens und die Ungerechtigkeit der gesellschaftspolitischen Situation zu beobachten, zu bewerten und dann zu bekämpfen. Der spirituelle und materielle Gehalt sind also nicht – wie in Deutschland oft – voneinander zu trennen, sondern fallen in eins. Dies liegt nicht etwa an strenger katholischer Erziehung, sondern viel mehr daran, dass Gott für die Armen optiert und so die Armut zu einem Ort macht, an dem er das tägliche Leben mit durchleidet und durchlebt. So beschreibt Jaime Rivelino A., der mit Frau und fünf Kindern von zehn Dollar täglich lebt: „Gott offenbart sich dem Menschen durch den Armen.“ In diesen hier knapp geschilderten gesellschaftlichen und theologischen Kontext ordnen sich die folgenden Argumente ein.

1. Zur politischen Straflosigkeit: In 2. Sam 10-11 begeht David, König von Israel, Ehebruch, lügt, um ihn zu verschleiern und ermordet in letzter Konsequenz Uria – er verwickelt sich also mehr und mehr in die Finsternis der Sünde, ohne die Schuld zu bemerken, die er für die begangenen Verbrechen trägt. Dem Prophet Nathan gelingt es, David diese vor Augen zu führen, indem er ihn sein eigenes Urteil aussprechen lässt: „Der Mann, der dies getan hat, verdient den Tod.“ Anschließend dreht Nathan den Spieß um: „Dieser Mann bist du.“ Der erste Schritt zur Gerechtigkeit ist getan: Das Bewusstsein Davids eine Sünde begangen zu haben, das die Vergebung Jahwes möglich macht. David wird nicht sterben, sondern wird mit dem Tod des Sohnes bestraft werden, der Frucht des Sünde (= der Ehebruch) ist. Aber wenig später wird er gesegnet durch die Geburt Salomons werden, der Frucht der Beziehung ist, die sündhaft begann, dann aber segensreich wurde. Der Schlüsselpunkt ist der schmerzhafte Prozess, den David durchlebt: Er anerkennt seine Sünde, versucht seinen Sohn zu retten, betrauert seinen Tod, tröstet Bathseba. Dies ist ein Prozess, der ihn umkehren lässt.

Nathan zeigt uns, dass es keine Kavaliersdelikte gibt, keine Straffreiheit für den König, keine Straffreiheit für die Elite El Salvadors vor Gott und deswegen auch nicht vor dem salvadorianischen Volk. Nathan zeigt uns, dass das eigene Volk der Prophet der Mächtigen sein muss, indem es ihre Sünden anprangert, ihr Urteil verkündet und ihre Umkehr begleitet. Nathan lehrt uns, dass es Umkehr geben kann, wenn die Mächtigen aus der Finsternis der Sünde heraus ans Licht treten und einen Prozess der Reue und der Demut gegenüber ihres Gewissens und gegenüber Gott durchleben – nur, dass die Sünde in El Salvador stärker als die des König Davids in den geschichtlichen Strukturen verankert ist, sodass die Finsternis schwärzer und undurch­dringlicher aussieht.

2. Zur Straflosigkeit der alltäglichen Kriminalität zwei zentrale Gedanken: In seinem Brief an die Römer (Rm 7) erklärt Paulus die Funktion des Gesetzes im Laufe der Heilsgeschichte: Jahwe gab dem Volk Israel das Gesetz zur Orientierung, wie sie mit ihm auf dem Weg Richtung Erlösung wandern könnten. Die Macht der Sünde erwies sich aber als so stark, dass das Volk, obwohl es wollte, das Gesetz nicht erfüllen konnte, sondern es überschritt, es korrumpierte, es missbrauchte, um ein System des Legalismus einzurichten, das Menschen ausschloss und von Jahwe entfernte, anstatt sie mit einzubeziehen und sie ihm näher zu bringen. Also setzte Jahwe für sein Volk alles aufs Spiel, indem er seinen eigenen Sohn schickte, der Fleisch wurde, gegen das legalistische System kämpfte und dafür vom selben Volk Israel ermordet wurde und für die Sünden der Israeliten starb. Der Tod Jesu drückt aus, dass das Gesetz nicht zur Erlösung führt, denn es zeigt uns zwar, was zu tun ist, aber es befähigt uns nicht, dies zu erfüllen.

Vor diesem Hintergrund verstehen wir das Problem der Strukturen besser, in denen die unbestrafte Kriminalität in den Straßen El Salvadors entsteht: Das salvadorianische Rechts­system, basiert auf einer kapitalistischen Wirtschaftordnung und einer imperialistischen politischen Struktur, schreibt den Jugendlichen vor, was sie nicht tun dürfen, aber es ermöglicht ihnen nicht, dies zu befolgen: Es vernichtet jegliche Möglichkeiten auch nur irgendetwas zu tun, es bietet ihnen weder Bildung, noch lehrt es sie Solidarität, es schließt sie aus, es würdigt sie herab, es verachtet ihr Leben, es zwingt sie in die Gewalt. Das Leben und der Tod Jesu überwindet den Legalismus, der Tod bedeutet, indem er dem Volk Israel freie Gnade schenkt, sodass der einzige Ausweg aus der ungestraften Gewalt in El Salvador die Inklusion und das Anbieten von Möglichkeiten ist. All dies impliziert einen tiefgehenden kulturellen Wandel basierend auf einem System, das politisch und wirtschaftlich solidarisch, sozialistisch [6] und somit zutiefst christlich ist.

Paulus beschreibt außerdem das Gesetz in seiner pädagogischen Funktion: Wenn Gott uns bestraft, tut er dies, damit wir uns unserer Sünde bewusst werden. Der Schmerz, den wir erleiden, wenn wir unsere Sünde erkennen, ist notwendig für den Prozess der Umkehr. Darin zeigt sich, wie absurd das Gefängnissystem in El Salvador ist, denn die Verurteilung zu mehreren Jahren Gefängnis hat keinerlei pädagogischen Sinn – im Gegenteil: Es ist ein aus dem Westen importiertes System, das auf die salvadorianische Wirklichkeit nicht antwortet; es ist ein System, das ausschließt (im wörtlichen Sinne „wegschließt“) statt zu verändern, das verhärtet statt menschlich zu machen, das Angst erzeugt statt Hoffnung.

Wenn wir die paulinische Theologie im Römerbrief ernst nehmen, bedeutet das nicht Anarchie (Aufhebung aller Gesetze und Ordnungen), sondern das Gesetz und damit die juristischen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu verändern: in ethische Richtlinien, die huma­nisieren und die Umkehr ermöglichen, in Grundsätze, die auf die Nächstenliebe verweisen.

3. Schließlich eine christologische Antwort zur historischen Straflosigkeit, die für mich die größte Relevanz hat: Wie schon zuvor ausgeführt, bietet uns Gott im Tod Jesu am Kreuz die Vergebung unserer Sünden an. Die Vergebung, die freie Gnade Gottes, anzunehmen, verlangt vom Menschen jedoch erstens Demut, das Bewusstsein, dass wir gesündigt haben, und zweitens eine aktive Antwort, sodass wir, nachdem wir uns die freie Gnade haben schenken lassen, anfangen mitzuwirken, um das Reich Gottes zu verwirklichen.

Folglich ist die im Tod Jesu angebotene Vergebung keine Amnestie, wie Jon Sobrino [7] in seiner Christologie in drei Punkten erklärt:

a. Der Mensch kann sich nicht durch seinen eigenen Verdienst retten wegen der unendlichen Distanz, die zwischen ihm und Gott ist. Deshalb ist es immer Gott, der sich uns nähert, indem er uns Erlösung anbietet. Wir können nur – und sogar das fällt oft schwer – die Erlösung akzeptieren und uns schenken lassen, indem wir mit Glauben antworten. Das gleiche geschieht in der Beziehung zwischen Opfer und Mörder: Der Mörder kann sich wegen der Schwere seiner Schuld nicht dem Opfer nähern, sondern dieses ihm, indem es anbietet, ihm die begangenen Verbrechen zu vergeben. Wenn er dies akzeptiert, öffnet sich ein Raum, um in Beziehung zu treten, die bis zur Versöhnung der beiden Seiten und zum Frieden durch Gerechtigkeit führen kann. Woran es fehlt, ist nicht das Angebot der Vergebung von Seiten des Opfers, wie man im Fall der Jesuiten sieht, sondern Demut und Glaube von Seiten der Täter, diese zu akzeptieren.

b. Im Kreuz Christi rettet Gott uns nicht nur, sondern bietet uns einen neuen Bund an: Ich werde euer Gott sein und ihr werdet mein Volk sein. In dieser Tatsache manifestiert sich die geschichtliche Kontinuität: Der Neue Bund Gottes mit seinem Volk durch Christus, den das Neue Testament beschreibt, versteht sich durch den ersten Bund Gott mit dem Volk Israel, über den das Alte Testament berichtet. Das bedeutet, dass im möglichen Prozess der Investigation der Wahrheit über die im Bürgerkrieg in El Salvador begangenen Massaker die Geschichte weder vergessen noch gelöscht wird, weder durch juristische Prozesse und Urteile, noch durch Versöhnung und Frieden, sondern, dass wir sie fortschreiben, indem wir sie kennen lernen, von ihr lernen und so ihren Mördern vergeben. So wird es kein weiteres „Vergeben und Vergessen“ geben, das so oft zum „Vergessen der Vergebung“ wurde, sondern Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur.

c. Zu guter Letzt: Jon Sobrino erinnert uns an einen Gedanken von Ignacio Ellacuría [8]: Um uns von der Sünde zu befreien, müssen wir an ihr tragen; und um die Ungerechtigkeit auszurotten, müssen wir an ihr leiden. Das beutet konkret, dass wir verpflichtet sind, die Ungerechtigkeit von innen zu bekämpfen: den Schmerz der Opfer zu teilen, ihn zu unserem eigenen Schmerz machen und von diesem Schmerz aus, der uns die Richtung vorgibt und Begleitung ist, sie zu bekämpfen. Deshalb ist das Amnestiegesetz anti-christlich und alle Mitglieder der Kirche, die die Nachfolge Jesu ernst nehmen, müssen gemeinsam und aktiv für seine Aufhebung arbeiten.

Einige wenige Worte zum Schluss

El Salvadors Vizepraesident Salvador Sánchez Cerén mit Wahlbeobachterinnen aus Deutschland. Bildquelle: Luise Anna Reinisch.Obwohl wir drei Arten von Straflosigkeit unterscheiden, um theologisch auf jede von ihnen zu antworten, muss unterstrichen werden, dass die Opfer immer dieselben sind: Im Bürgerkrieg ermordete das Militär arme Bauern und im Kampf für Gerechtigkeit engagierte und organisierte Menschen. Heute ermorden die Politiker Bauern durch – heilbare – Krankheiten und Wasser­mangel und die Armen der Städte durch Hunger, Durst und Verschmutzung. Die „Maras“ ermorden ihre eigenen Brüder, die an Hoffnungslosigkeit, Armut, Exklusion und Arbeitslosigkeit leiden. Die Toten sind immer dieselben. So vereinigt sich der Schrei, der die Wahrheit über ihren Tod zu wissen fordert, im Kampf um Gerechtigkeit für die neuen Generationen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Wahrheit wie auch die Gerechtigkeit absolut und unparteiisch sind: Es gibt nicht unterschiedliche Wahrheiten und Gerechtigkeiten, es gibt nicht zwei, es hängt nicht vom Blickwinkel oder vom politischen Ideal ab. Wahrheit und Gerechtigkeit drängen und fordern ihre Erfüllung in der Geschichte. Wahrheit und Gerechtigkeit haben eine Dynamik, welche der Realisierung des Gottesreiches eigen ist, wie sich sehr gut während des Internationalen Tribunal für Restaurative Gerechtigkeit sehen ließ, das im März diesen Jahres in der UCA stattfand. [9] Das Alte Testament lehrt uns, dass die Gerechtigkeit Gottes mehr als ein isoliertes Urteil ist, sondern eine Dynamik, die sich in der Geschichte vollzieht, aber damit sie sich entfalte, müssen wir urteilen: prophetisch und von den Opfern aus urteilen.

Die Gerechtigkeit Gottes ereignet sich, wenn das Opfer wieder lebt! [10]

In all dieser Finsternis der Straf- und Hoffnungslosigkeit möchte ich noch mal Jon Sobrino zitieren: „Im Kreuz Christi hat sich die größte Schwäche in Stärke verwandelt, die Armut in Reichtum, der Egoismus sich dezentralisiert, die Teilung in Versöhnung, das Negative ins Positive.“

Das heißt für El Salvador, dass seine so grausame und blutige Geschichte sich in den menschlich wertvollsten Schatz des Landes verwandeln kann; und in der Aufhebung der Straflosigkeit, die in den Strukturen so tief verwurzelt ist, kann die historische Befreiung dieses gebeutelten Volkes beginnen: Aber nur, wenn wir nicht vergessen, dass „die Erlösung von unten kommt, von dem was schwach und klein ist in dieser Welt, das erwählt wurde um zu erretten.“

Also, lasst uns die Zeichen unserer Zeit lesen!

Antiguo Cuscatlán, 29. Juli 2009

* Luise Anna Reinisch studierte von Januar bis Juli 2009 an der UCA (Universidad Centro­americana José Simeon Cañas) in San Salvador Theologie der Befreiung und Nationale Wirklichkeit El Salvadors. Sie bekam durch die Arbeit als Internationale Wahlbeobachterin bei den Präsidentschaftswahlen im März und durch pastorale Arbeit in einer Armengemeinde außerhalb der Hauptstadt einen tiefen Einblick in die geschichtliche, politische und gesellschaftliche Realität dieses Landes. Als Theologin bearbeitet sie hier ein wichtiges Thema aus der Lebenswirklichkeit des Landes: Die historische, politische und reale Straflosigkeit auf der Straße.

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, Luise Anna Reinisch.

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[1] Am 15. März 2009 fanden in El Salvador die Präsidentschaftswahlen statt, zu der letzten Endes nur zwei Kandidaten antraten: Mauricio Funes von der FMLN (Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional) und Rodrigo Ávila von ARENA (Alianza Republicana Nacionalista). Die anderen drei Parteien hatten kurzfristig ihre Kandidaten zurückgezogen. Der Wahlkampf wurde durch verschiedene Hetzkampanien sehr polarisiert, sodass Inhalte fast nicht diskutiert werden konnten. So warb ARENA im Fernsehen für sich, indem sie behauptete, gewänne die FMLN, würde Hugo Chávez in El Salvador einmarschieren.

[2] Am Morgen des 16. November 1989 wurden an der UCA sechs Jesuiten und zwei Hausangestellte von einem Elitetrupp des staatlichen Militärs erschossen und massakriert.

[3] Adolfo Tórrez (ARENA) geriet im März 2008 unter Korruptionsverdacht, da er in einem von El Faro aufgezeichneten Telefongespräch dem ehemaligen Abgeordneten Silvo Pereira, der wegen Verdacht auf Geldwäsche und Auftragsmord in den USA in Haft saß, anbot, ihn juristisch in El Salvador sauber zu waschen. Im April 2009, einen Monat nach dem Wahlsieg des links-gemäßigten Präsidentschaftskandidaten Mauricio Funes (FMLN), trat er vom Parteivorsitz der rechts-konservativen Partei ARENA zurück. Einen Tag nach dessen Machtergreifung am Morgen des 2. Juni 2009 erschoss sich Aldolfo Tórrez vor seinem eigenen Haus nach offiziellen Angaben selbst. El Faro, wie auch andere salvadorianische Medien, äußerten jedoch Zweifel an dem Selbstmord, da das Interesse, Tórrez aus dem Weg zu schaffen, damit er nicht noch weitere Einzelheiten zum Fall Pereira preisgeben konnte, sehr groß gewesen sei. Der Fall ist – wie so viele andere auch – bis heute nicht aufgeklärt worden, weil El Salvador schon seit Monaten keinen Generalstaatsanwalt hat, was ARENA sehr zu gute kommt.

[4] ANDA = Administración Nacional de Acueductos y Alcantarillados, Nationales Amt für Aquädukte und Kanalisation.

[5] Mit „Maras“ werden Banden salvadorianischer Jugendlicher bezeichnet, die in den 80er Jahren in Los Angeles (Kalifornien) entstanden, dann aber nach der Deportation der Jugendlichen durch die US-Amerikanische Einwanderungsbehörde in El Salvador Fuß fassten und dort bis heute immer wieder Menschen ermorden.

[6] Ich nehme hiermit keinen Bezug auf den Sozialismus, der in der DDR real existiert hat; sondern auf die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage Lateinamerikas. Ich bewerte auch nicht, ob die Politik von Hugo Chávez in Venezuela die adäquate Umsetzung des Sozialismus ist; sondern möchte nur unterstreichen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in El Salvador wie in anderen Ländern Lateinamerikas zu einer immensen Ungleichheit und diese zu Gewalt führt. Der Begriff „sozialistisch“ beinhaltet hier die Infragestellung des Privateigentums an sich und seines überproportionalen Stellenwertes. Der Kapitalismus ist m.E. außerdem in Lateinamerika nicht kulturell verankert, wie sich besonders in Ländern wie Bolivien zeigt.

[7] Jon Sobrino: 1938 in Spanien geboren, seit 1957 für den Jesuitenorden in El Salvador, wo er zu einem wichtigen Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wurde. Nach dem Massaker an sechs seiner jesuitischen Brüder im November 1989 widmete er einen großen Teil seines Lebens, die Erinnerung an diese aufrecht zu erhalten, besonders die Theologie von Ignacio Ellacuría zu verbreiten und schrieb eine zweibändige Christologie. Jon Sobrino lehrt und arbeitet an der UCA – ich durfte Anfang diesen Jahres an seinem Kurs über die Theologie Ellacurías teilnehmen.

[8] Ignacio Ellacuría: 1930 in Spanien geboren, seit 1948 vom Jesuiten nach El Salvador entsandt. Dort schrieb er wichtige Grundlagenwerke in Politik, Philosophie und Theologie der Befreiung. Außerdem war er 1965 Gründungsmitglied der UCA und in der Folge für mehrere Jahre ihr Präsident. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges 1980 setzte er sich bald für Verhandlungen und Dialogveranstaltungen in einer Zeit, in der beide Seiten noch an Radikalisierung dachten, und wurde so zu einem wichtigen Mediator. Im November 1989 wurden er und fünf seiner Ordensbrüder sowie zwei Hausangestellte von einer Elitetruppe des nationalen Militärs erschossen und massakriert.

[9] Während des erwähnten Tribunals wurde besonders in den Zeugnissen der Opfer und Zeugen für alle Anwesenden sichtbar, wie stark Wahrheit und Gerechtigkeit danach drängen enthüllt zu werden und wie sich in einer Gruppe von Menschen eine Dynamik entwickeln und verstärken kann, die dies ermöglich, bis zum Schluss die Präsenz der Wahrheit und der Gerechtigkeit im Raum greifbar und im Urteil des Tribunals verbalisierbar ist.

[10] „Die Gerechtigkeit Gottes ereignet sich, wenn das Opfer wieder lebt.“ In der Theologie der Befreiung wird immer wieder betont, dass die Herrlichkeit Gottes sich nicht in dem Leben irgendeines Menschen ausdrückt, sondern im Leben des Armen: „La gloria de Dios es que el pobre vive.“ – Die Herrlichkeit Gottes ereignet sich, wenn der Arme lebt. Es ist also nicht nur erschreckend, wie viele Menschen an Armut sterben, sondern auch ein Wunder, dass Menschen in völliger Armut überleben. Ebenso wird das Gottesreich verwirklicht und die Gerechtigkeit Gottes sichtbar, wenn einem Opfer wieder zum Leben verholfen wird.

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