Das grausame Gesicht der Gewalt in „La Vida Loca“ und „Última Parada 174“
Im Zuge der Argentinischen Filmtage, die vom 29. Januar bis zum 07. Februar 2010 in ihrer bereits vierten Auflage in Leipzig stattfanden, hat sich QUETZAL speziell einem kleinen Programmteil zugewandt: der Ventana Latina. Die im Rahmen des Lateinamerikanischen Fensters präsentierten Filme fokussierten – wie die Veranstalter verkündeten eher zufällig – auf das Thema der Gewalt in vielen Ländern des Kontinents. Und die Organisatoren trafen damit ins Herz der Zuschauer. Einige Veranstaltungen waren komplett ausverkauft. Hunderte Kinofans mussten zum Teil trotz Kartenvorbestellung vor den Sälen verharren.
Diejenigen, die eine Karte ergattern konnten, bekamen durch die gebündelte Ausrichtung auf das Genre der Gewalt die Möglichkeit, dieses Phänomen in seinen unterschiedlichen Dimensionen, Ursachen und schrecklichen Folgen wahrzunehmen. Viele Besucher blieben nach den Filmen konsterniert auf ihren Plätzen sitzen oder versuchten in Gesprächen, das Unvorstellbare zu verstehen.
Die beiden tiefgründigsten Werke zu diesem Thema im Programm waren der brasilianische Film „Última Parada 174“ („Letzter Halt 174“) des Regisseurs Bruno Barreto und die Dokumentation „La Vida Loca“ („Das irre Leben“) des französisch-spanischen Filmemachers Christian Poveda. QUETZAL stellt die Filme an dieser Stelle vor.
Última Parada 174
„Última Parada 174“ aus dem Jahr 2008 ist die Geschichte einer Busentführung, die am 12. Juni 2000 ganz Rio de Janeiro in Atem hielt. Das Drehbuch zu diesem Film stammt von Bráulio Mantovani, der sich bereits mit „Cidade de Deus“ („City of God“, 2002) und „Tropa de Elite“ („The Elite Squad“, 2007) einen Namen im neueren brasilianischen Kino gemacht hat. Dem kundigen Cineasten werden daher einige Ähnlichkeiten in der Dramaturgie sofort auffallen. Doch bleibt für Vergleiche kaum Zeit. Schnörkellos schreitet die Handlung voran. Im Fokus steht die Geschichte zweier Jungen, deren kriminelle Karriere praktisch schon im Baby- beziehungsweise Kindesalter vorprogrammiert ist: Alessandro wird bereits im Alter von drei Monaten von seiner Mutter Marisa getrennt, weil sie ihre (Drogen-)Schulden nicht begleichen kann. Er wächst im Favela-Milieu auf. Sandro hingegen verliert mit zehn Jahren seine Mutter, die in ihrer kleinen Bar mit den großen Träumen niedergestochen wurde. Beide Jungen kommen zusammen, leben auf der Straße, bestehlen Passanten, nehmen Drogen. Der Film zeigt die Allgegenwärtigkeit der Gewalt, den Kreislauf aus Rauschmitteln, Waffen, Raub, Mord, Gefängnis. Er betreibt keine Glorifizierung. Und er beschönigt auch nicht. Schockiert ob einer solchen Normalität verharrt man als Zuschauer in einer fast beklemmenden Starre.
Die geradlinige Dramaturgie geht mit einer ausgezeichneten schauspielerischen Leistung der jungendlichen Hauptdarsteller einher. Auch die Dialoge überzeugen, wirken real und nicht gekünstelt. Und trotzdem scheint gerade gegen Ende die Handlung zu sehr konstruiert, so, als wäre das Drehbuch ursprünglich für einen anderen Film geschrieben. Von den beiden Protagonisten bleibt nur einer, Alessandro, wichtig. Er ist es auch, der schließlich den Bus entführt. Doch genau dieser Übergang von der fiktiv-realen Darstellung des Lebens der beiden Kriminellen hin zur Nachstellung der realen Busentführung gelingt überhaupt nicht. Es passt weder dramaturgisch noch stilistisch ins Gesamtkonzept. Dabei sollte dies der Hauptteil des Films sein. Zudem wirkt der Versuch des Regisseurs, Humor ausgerechnet in der violenten-spannungsgeladen Situation unterzubringen, geradezu paradox.
So bleibt als Fazit, dass „Última Parada 174“ einen schockierenden Einblick in die alltägliche Gewalt in den Favelas Rio de Janeiros zeigt. Er handelt von der scheinbaren Ausweglosigkeit gestrandeter Jugendlicher, die sich trotz der Gefahr von Mord oder Gefängnis und selbst durch Resozialisierungsprogramme nicht von ihrem kriminellen Weg abbringen lassen. Sie kennen nichts anderes. Doch führt gerade der missglückte letzte Teil des Films den Zuschauer vor Augen, dass es sich bei diesem Film lediglich um Unterhaltungskino handelt.
La Vida Loca
Ausdrücklich kein Unterhaltungskino ist hingegen die Dokumentation von Christian Poveda – „La Vida Loca“. Das allein schon deshalb, weil der Regisseur seine Recherchen und Dreharbeiten mit dem Leben bezahlte. Im Mittelpunkt dieses Dokumentarfilms stehen Mitglieder einer Jugendgang in den Vororten von San Salvador, die Mara 18. Doch Poveda geht es nicht um eine Außendarstellung der Gewalt, die von diesen Banden ausgeht. Er fokussiert auch nicht auf eine statistische Beschreibung, juristische Aufarbeitung oder wissenschaftliche Erklärung des Phänomens. Sein Ziel war es, mit der Dokumentation eine Innenansicht auf das Leben der mareros, der Bandenmitglieder, zu geben. Auf geradezu dramatische Weise schildert er ihre Riten und Kodizes. Er macht den Zuschauer vertraut mit einigen Gesichtern, Menschen, erzählt ihre Geschichte in Bildern. Immer wieder wird aber die Leinwand für Sekunden schwarz. Aus dem Off erklingen zwei Schüsse. Und die gerade begleitete Person liegt tot auf dem Bürgersteig oder aufgebahrt zur Beerdigung. „Bang, bang“. Dazu die gleichnamige Filmmusik von Tres Coronas und die Einspielungen des Liedes „La Vida Loca“ von Sebastian Rocca. Das Publikum verharrt versteinert vor der Leinwand. Das ist real. Das ist das Leben und Sterben in der Mara. Das ist der Alltag in San Salvador und anderen Städten in Zentralamerika.
Christian Poveda verfolgt Aufstieg und Fall eines Rehabilitierungsprogramms. Er zeigt die Verurteilung von dessen Leiter zu 16 Jahren Haft in einem Mordprozess, hinterfragt die Politik der „harten Hand“ und die Polizeigewalt. Aber er illustriert auch die oft natürlichen kleinen Wünsche der mareros, ihre Solidarität und ihre verrückten Partys. Über allem steht jedoch ihr Leiden, das sinnlose Sterben junger Frauen und Männer. Es ist diese scheinbar aussichtslose und fortdauernde Gewalt, die den Zuschauer geschockt zurücklässt.
Ende und Anfang, Anfang und Ende. Angesichts dieses Teufelskreises stellt sich zudem die Frage, ob die Dokumentation eigentlich ein Ende hat. Die letzten Bilder zeigen den Tod einer weiteren Protagonistin – und das Aufnahmeritual eines etwa acht- bis zehnjährigen Jungen in die Mara. Das Leiden geht immer weiter. Letztlich starb auch Christian Poveda im Kugelhagel. Was noch über Tage im Kopf bleibt, ist der Nachhall der Filmmusik: „Bang, bang. Te disparé, y te maté. Bang, bang, te disparé. Bang, bang. Y así murió mi amor.”
Última Parada 174
Regie: Bruno Barreto
Brasilien, 2008
La Vida Loca
Regie: Christian Poveda
Spanien/Frankreich, 2008.