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Víctor Montoya – Microcuentos – Teil 16

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

QUETZAL veröffentlicht exklusiv die deutsche Übersetzung einer weiteren Reihe von Microcuentos“ des bolivianischen Schriftstellers Víctor Montoya.

 

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Tatiana

Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie zurückgezogen in den eigenen vier Wänden. Sie fühlte sich bloßgestellt, da die Leute mit Fingern auf sie zeigten. Bereits als Kind erschauerte sie ob der angewiderten Blicke, die man ihr zuwarf, wenn sie vor die Tür ging. Sich selbst gänzlich unerträglich geworden entschloss sie sich schließlich ihrem Papa die Frage zu stellen: Warum bin ich in unserer Familie die Abstoßenste?”

Er dachte kurz nach. Wie sollte er ihr erklären, warum sie das hässlichste aller hässlichen Gesichter hatte? Eine kurze Erwiderung musste genügen: „Als deine Mama mit dir schwanger ging, verabscheute sie jemanden aus tiefster Seele. Deshalb kamst du so zur Welt.“

Stehenden Fußes lief Tatiana zu ihrer Mama, um herauszufinden, wem denn dieser Hass gegolten habe.

„Dein Papa hatte eine andere! Die war’s!“, gab sie ihr mit Tränen in den Augen zur Antwort.

 

Meeresungeheuer

Mit voller Wucht rollten die Wellen vom Horizont heran und dunkle Schaumladungen breiteten sich aus. Das Schiff begann den Kurs zu verlieren und mit gesetzten Segeln auf den tobenden Meereswellen zu treiben, deren Wässer ins Bodenlose stürzten. Unter Hilferufen und Todesschreien ging die Bemannung rettungslos unter – bis auf einen Einzigen. Dieser wurde von einem Wal verschluckt und in Hafennähe ausgespien. Schiff und Besatzung seien keineswegs in die Tiefe gerissen worden. Vielmehr habe ein teufelsähnliches Ungeheuer sie verschlungen, ein geflügeltes Mischwesen mit schuppigem Körper, Augen auf den Hörnerspitzen und Saurierschwanz, wusste der Überlebende zu berichten.

 

Der Pauker

Als die Schüler in Mathematik reihenweise durch die Prüfungen rasselten, hinterfragten sie ohne Umschweife die Unterrichtsmethoden des Pädagogen.

Der Lehrer sei komplizierter als jede algebraische Formel, hörte man sie klagen, einzeln, paarweise und in Dreiergrüppchen.

Er aber schaltete die Ohren auf Durchzug und schwieg.

Dass der Pauker sein Fach wie kein anderer beherrschte, stellten die Pennäler nicht in Abrede. Bei ihm haperte es vielmehr an der Didaktik, der Kunst seinen Zöglingen die Zahlen so schmackhaft zu machen, dass sie ihnen runtergingen wie Öl.

 

 


 

Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquellen: [1-2] Quetzal-Redaktion_CD

 

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