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Der gelähmte Handelsmann – Erzählung

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Es lebte einst ein herausragender Handelsmann. Unzählige Ländereien, ein großes Vermögen, ein stattliches Gefolge von Kriegern und eine aus den schönsten Weibsbildern seines Palastes handverlesene Gruppe von Hofdamen nannte er sein Eigen. Die Pracht seiner Residenz versetzte einen in Ehrfurcht und Staunen. Wandbehänge und Mosaike großer Handwerkskunst schmückten die prunkvollen Säle. Den Innengarten mit seinen Edelsteinen, Obstbäumen und exotischen Vögeln zierte ein Brunnen, der von purpurgoldenen Löwenfiguren flankiert wurde, aus deren Mäulern kristallklares Wasser hervorperlte.

montoya_alterKaufmann_quetzalredaktion_cdDas privilegierte Leben des Kaufmanns in Überfluss und angenehmer Gesellschaft überschattete jedoch ein seltsames Leiden. Da seine Beine so starr waren wie die einer Marmorstatue, konnte er sich nicht aufrichten, geschweige fortbewegen. Diese Erkrankung vermochte niemand zu erklären. Und was es noch viel schlimmer machte, war, dass kein Arzt, kein Gelehrter und kein Wunderheiler ein Mittel kannte, mit dem diesem Übel, das ihn zu einem Leben auf dem Ruhebett verdammte, beizukommen war.

Die Ältesten und Treuesten seiner Entourage sagten, dass dieses Malum genauso wie alle Wohltaten zum Vermächtnis seines Vaters gehörten, der einer der größten Kaufleute ganz Arabiens gewesen war. Worüber hingegen eisernes Stillschweigen bewahrt wurde, war die Tatsache, dass die Paralyse den Verwünschungen einer alten Hexe zuzuschreiben war, die im Auftrag einer eifersüchtigen und gekränkten Geliebten des alten Herrn die Wöchnerin und ihren Nachwuchs behexen sollte. Nachdem sie die Beine des Neugeborenen mit einem Gebräu aus einer Phiole besprenkt und einige Spritzer davon auf den Nacken der jungen Mutter appliziert hatte, trug der Kleine besagte Lähmung davon, während die Mama ihrer Sprache und Teile ihres Erinnerungsvermögens verlustig ging.

Kurze Zeit darauf riss eine Herzattacke den Senior mitten aus dem Leben. Seine junge Witwe, die man den lieben langen Tag ungezählte Runden in den Gärten des vornehmen Anwesens drehen sah, war eines Tages verschwunden. Niemandem war aufgefallen, wie sie aus einem nach dem Wald hin gelegenen Fenster geklettert war. Ihr Säugling wurde der Obhut von Ammen anvertraut, die ihn wie ihr eigenes Kind stillten und umsorgten.

Als er schließlich erwachsen war, regelte er die geschäftlichen und privaten Belange von seinem Schlafbereich aus. Die Palastdamen und zuverlässigen Bediensteten unterstützten ihn dabei nach Kräften. Wenn er seine Tage nicht mit Schachpartien verbrachte, betrachtete er seine Situation als einsamer und wohlhabender junger Mann, hauptsächlich dachte er aber über seine eigenartige montoya_Kaufmann_Hexe_quetzalredaktion_cdKrankheit nach, die ihm den Weg zu Ehe und Vaterschaft verstellte. Das Leben eines Mannes ohne Gemahlin und ohne Nachkommen ist keins. Bei diesem Gedanken überkam ihn stets tiefe Schwermut. Fühllos von der Taille abwärts konnten ihn die edlen Gesellschafterinnen nur mit Küssen und zärtlichen Berührungen trösten. Mit Parfums, Stoffen und Preziosen, die er aus den exotischsten Regionen der arabischen Kalifate herbeischaffen ließ, zeigte er sich ihnen erkenntlich.

So ging die Zeit dahin. Doch eines klaren und sonnigen Morgens tauchte am Tor eine bucklige Alte auf. Zerlumpt und barfuß begehrte sie von den Wächtern Einlass. Sie habe dringend in einer persönlichen Angelegenheit mit dem Handeltreibenden zu sprechen. Der Herr des Hauses, um Erlaubnis gefragt, gewährte ihr Zutritt, wie jeder gütige und wohlmeinende Mensch es ihm gleich getan hätte, und so ließ man sie vor. Auf Zehenspitzen näherte sie sich seiner Bettstelle, küsste ihm unter Verneigungen die juwelengeschmückten Hände und sprach: „Oh großer Herr! Ich bin zu Ihnen gekommen mit der Bitte in Ihrem Palast aufgenommen zu werden wie eine Sklavin unter Sklavinnen. Ihre Güte, Gottesfurcht und Gastfreundlichkeit werde ich Ihnen reich vergelten, indem ich Sie von Ihrem schrecklichen Leid befreie.“

Kaum hatte der Kaufmann diese Worte vernommen, war ihm als kämen Herz und Verstand gleichermaßen zur Erleuchtung. Obschon die Bittstellerin den untersten Klassen anzugehören schien, hatte sie die guten Manieren einer vornehmen Dame. Ohne viel Federlesen ließ er sie gastlich aufnehmen. Die Ehrendamen, die dem Schauspiel mit offenem Mund gefolgt waren, wurden angewiesen, ihr ein Bad zu bereiten, sie in die prächtigsten Gewänder zu hüllen, für sie eine Tafel mit den erlesensten Speisen zu bereiten und ihr das bequemste aller Gemächer herzurichten.

Gepriesen sei Allah, er ist weise, groß und mächtig“, rief die Alte. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie nicht müde wurde, dem Hausherrn zu danken und ihn mit Lobpreisungen zu überschütten.

Dieser verabschiedete sich, nicht ohne vorher seine Hofdamen gebeten zu haben, die Besucherin in ihr neues Leben zu geleiten.

Sobald sie in dieser ersten Nacht alleine war, kramte sie aus ihren abgetragenen Röcken ein Säckchen mit einer Phiole darin hervor. Diese hatte sie der Schwarzkünstlerin nach vielem Hin und Her stehlen können, um damit den bösen Zauber zu brechen. Nun träufelte sie einige Tropfen davon auf ihren Nacken. Ein Schütteln ergriff sie und sodann war sie wieder jene faszinierende Erscheinung, die an der Seite des alten Händlers gelebt hatte. Sie erstrahlte in blendender Schönheit. Ihre Wortwahl war so gewandt, dass man ihr mit Vergnügen zuhörte. Ihr dunkles Haar war der Nacht entsprungen. Ihre frische Haut hatte einen Teint wie reines Silber, geeignet die Finsternis zu erhellen. Ihre Lippen erinnerten an Rosenblütenblätter und ihre Augen funkelten wie Sterne aus schwarzem montoya_Kaufmann_Schach_quetzalredaktion_cdGagat. Aus der Tiefe ihres Herzens schöpfte sie reine, bedingungslose Liebe, auch verstand sie die Sprache der Tiere und den Gesang der Vögel. All dies machte sie zu einem außergewöhnlichen Menschen.

Nicht länger das hässliche Weib folgte sie am nächsten Tag ihrem wohl durchdachten Plan, die bewegungslosen Beine ihres Sohnes mit jenem magischen Gemisch zu behandeln. Sie verließ ihre Zimmer, in der Hand die Phiole, und huschte leichten Fußes und unerkannt an den Höflingen vorbei durch die Korridore bis zu dem Raum, in dem der Kaufmann seinen gewohnten Mittagsschlaf hielt. Sie schlich sich an ihn heran und es kam ihr zupass, dass er auf einem weichen Diwan ruhte. Sie hob sein Gewand, verabreichte die Tinktur und sprach: „Ab jetzt wirst du aus der Gefangenschaft deines eigenen Körpers befreit sein, mit der dich die böse Zauberin der Fähigkeit beraubte, ein normales Leben zu führen.“

Noch im Schlaf wurde der junge Mann von seinem Fluch erlöst und war blitzartig geheilt. Als er erwachte, fühlte sein Körper sich so leicht an wie noch nie zuvor, ganz so als habe er im Schlaf die Fähigkeit erlangt, sich vogelgleich in die Lüfte emporzuheben. Er bestaunte die neugewonnene Beweglichkeit seiner Gliedmaßen, richtete sich zum allerersten Mal auf und vollführte auf dem Teppich Jubelsprünge. Da erkannte er in der Person, die bei ihm war, seine Mama. Er war von endloser Bewunderung für sie erfüllt, während sie Tränen der Freude weinte. Nach all den Jahren der Trennung war es ihnen nun endlich vergönnt, sich bei den Händen zu nehmen und inniglich zu umarmen, ganz so wie die Natur es für eine Mutter und ihr Kind vorgesehen hat.

Zu guter Letzt priesen beide den Allmächtigen, weil er ihnen die Gnade erwiesen hatte, ihre Seelen in jenem Palast wieder zu vereinen, der einst dem Vater gehört hatte – war dieser doch in der festen Hoffnung gestorben, dass seine Frau und sein Stammhalter, also die beiden Menschen, die er zu Lebzeiten am meisten geliebt hatte, irgendeinmal einander wiedersehen würden.

 

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquellen: [1-3] Quetzal-Redaktion_CD

 

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