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Llallagua, eine Bergbausiedlung in den Anden

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Bolivien: Bergbau in den Anden - Quelle: Viaje al corazón de BoliviaIn diesen Bergen, die die Indianer auf den Namen Llallagua tauften, da ihre Form jener glücksverheißenden Knollenfrucht ähnelt, stieß Ende des 19. Jahrhunderts Simón I. Patiño, einer der Magnaten des bolivianischen Bergbaus, auf das größte Zinnvorkommen der Welt. Seit der Zeit verwandelte Llallagua sich in das neue Potosí, und Simón I. Patiño, der wie ein Konquistador ohne Degen und Rüstung gegen das Gestein kämpfte, wurde der König des Zinns und neben Ford und Rockefeller einer der wenigen Multimillionäre.

Als ich nach Llallagua zog, wo alles Stein ist, sagte mir dieser Patiño nichts, noch sah ich seine Reichtümer an die Hungernden des Landes verteilt; wohl aber bemerkte ich die moderne Maschinerie seines Unternehmens, wo die Erze mit gleicher Intensität zermahlen wurden, wie sich die Lungen der Minenarbeiter zersetzten. Es war in Llallagua dasselbe alte Lied wie überall: Die einen legen sich krumm, die anderen sacken das Geld ein. Mein Leben vor Augen – in einem Haus ohne elektrisches Licht, ohne fließendes Wasser, ohne Gasherd und ohne Scheiben in den Fenstern – kam ich zu der Erkenntnis, dass unser Dasein wie ein Trichter ist: Für einige wenige weit, und für all die anderen eng.

In diesem Außenbezirk von Llallagua, wo die Häuser die natürliche Fortsetzung des Erdbodens zu sein scheinen, verbrachte ich meine Kindheit mit keinem anderen Trost als Träume und Hoffnungen. Wie alle Bewohner des Hochlandes lebte ich inmitten abschüssiger Berge in einer Höhe von fast 4.000 Metern in ganz armen Verhältnissen. Dass jenseits des Flusses die berühmten Minen von Siglo XX der Welt den Reichtum bescherten, der mit Elend zu bezahlen war, war auch mir bekannt.

Die Minenarbeiter wussten, dass der Zinn, den sie aus dem Inneren des Berges förderten und der ihnen Staublungen einbrachte, als Waffen und Geld an die Nation zurückfloss, was die Reichen wiederum gebrauchten, um Blutbäder zu verüben und Staatsstreiche anzuzetteln. Die Bergleute bemächtigten sich der radikalsten revolutionären Ideen und nahmen den militanten Kampf zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen auf, was von der herrschenden Klasse blutig niedergeschlagen wurde, angefangen vom Massaker in Uncía 1923 bis zu dem von San Juan 1967, das ich unmittelbar vor Ort miterlebte und an das ich immer noch eine grauenerregende Erinnerung bewahre. Es war im gleichen Jahr, in dem die Guerilla des Che in Ñancahuazú aufgestellt wurde und die Regierungshäscher Isaac Camacho, den Anführer der Minenarbeiter, verschwinden ließen. Ich selbst sah ihn zum letzten Mal in meinem Haus, als er es – eingehüllt in einen schwarzen Mantel und ein Zigarillo zwischen den Lippen – verließ, wenige Tage bevor er aufgegriffen und dann nie wieder gesehen wurde.

Bolivien: Bergbau in den Anden, Portrait eines Bergbauarbeiters - Quelle: Viaje al corazón de BoliviaAngenommen, die äußere Umgebung prägt den Charakter des Individuums, dann folgt daraus, dass meiner dem öden und steinigen des Hochlandes ähnelt. Entsprechend ist es nicht zufällig, dass ich mich als Kind, selbst unter Freunden, fast immer wie der Steinerne Gast fühlte. Ich war wortkarg und menschenscheu. Aber trotzdem spielte ich auf den Schotterplätzen zwischen den Wänden aus Bruchsteinfels und dem Fluss mit einem runden Ding aus Lumpen Fußball, bis uns vom vielen gegen die Steine Treten die Füße kaputt gingen. Wenn wir uns am Abend auf dem gleichen Platz wiedereinfanden, wurden Grusel- und Zaubergeschichten erzählt. Nachdem die Kleinen ins Bett geschickt worden waren, versammelten sich die Großen bei einer Karbidlampe, um von den Gespenstergeschichten zu etwas pikanteren Themen überzugehen, und der Spektakel, den wir machten, schien von den Uferböschungen widerzuhallen.

In Jungenbanden zusammengeschlossen, lieferten wir uns so manche Schlägerei mit den Kindern aus der Straße über uns. Diese attackierten uns, indem sie die Schleudern durch die Luft zischen ließen, während wir, geschützt durch Blech-, Pappkarton- oder Holzschilder, dem heftigen Angriff standhielten, mit nicht viel mehr als unserem Mut bewaffnet. An diesem Fluss, der im Sommer ausgetrocknet und zur Regenzeit wasserreich war, war es an der Tagesordnung, dass Kinder nach Hause liefen, da ein Stein sie am Kopf getroffen hatte.

In dieser Ortschaft, deren Straßen und Häusern nie die Planung eines Architekten zuteil geworden war, wurde das erste Bollwerk der Gewerkschaftsbewegung der Minenarbeiter errichtet und über Gedeih und Verderb der wirtschaftlichen Zukunft des Landes entschieden, bis die Regierung unter Victor Paz Estenssoro 1985 die Verordnung 21060 erließ, womit die gefeuerten Minenarbeiter und ihre Familien zur Umsiedlung in die Städte gezwungen wurden.

Llallagua war nicht länger das Laboratorium der bolivianischen Revolution und der Tío (Gottheit des Guten und des Bösen, Herr und Gebieter über die Steiger und das reiche Mineralienvorkommen) blieb in den Stollen zurück. Aber es kam noch schlimmer, als verschiedene Häuser, die aus der Entfernung einer den Berg erklimmenden Herde Lamas glichen, dem Erdboden gleich gemacht wurden, nachdem jemand eine Kerze in die Nähe der Kisten mit Dynamit mitnahm, die bei einem Händler gelagert waren. Die Explosion hatte, wie mir ein durch Schweden reisender Freund mitteilte, verhängnisvolle Folgen; die Dächer aus Zinkspat flogen durch die Luft und die Wände kehrten in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Eine unwahrscheinliche Tatsache, die ich nicht wahrhaben wollte, denn mir war, als ob ein Teil meiner Kindheit aus dem Zusammenhang gelöst zurückgeblieben wäre.

Aber es gibt diese Fotografie von Michel Desjardins, veröffentlicht im Buch „Bolivia, beskrivning av ett u-land“ („Bolivien, Beschreibung eines Entwicklungslandes“) von Sven Erik Östling, die hinreichend ist, um über die Tragödie dieser Bergbausiedlung in den Anden nachzudenken und um sich mit einem seltsamen Gefühl von Hassliebe an das Haus meiner Kindheit zu erinnern; eben das, welches ich, wegen dieser Launen des Schicksals und der vermaledeiten Dynamitexplosion, die es auf dem Fluss verstreute, niemals mehr wiedersehen und betreten werde.

Übers. aus dem Span.: Gabriele Eschweiler

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Bildquellen: [1], [2] Viaje al corazón de Bolivia

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