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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Rodríguez, Paula: Dringliche Angelegenheiten

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

Ein Toter, der Bus fährt und der eilige Heilige

Als Hugo Victor Lamadrid, die Hauptperson des Romans Dringliche Angelegenheiten, auf dem Weg nach Buenos Aires in ein Eisenbahnunglück gerät, bei dem 43 Tote und zahlreiche Verletzte zu beklagen sind, bietet sich ihm dagegen die einmalige Chance unerkannt zu entkommen und so unter einer anderen Identität ein neues Leben zu beginnen.

Seit seinem Studiumabbruch zwei Jahrzehnte zuvor scheint ihm sein Lebensweg unaufhaltsam abwärts gegangen zu sein und den Tiefpunkt darin erreicht zu haben, dass Polizei und Presse auf ihn als Hauptverdächtigen in einem Mordfall Jagd machen.

Seine Ausbildung zum Journalisten war damals an dem von ihm verfassten Satz „Die Todesopfer fuhren in Waggon 7 der Linie 4.“ gescheitert, der ihm nichts als Spott und Hohn eingebracht hatte. Und sein akademischer Lehrer „Rafael Uzquiaga, der Starreporter, die Lichtgestalt der intellektuellen Redlichkeit“ hatte ihm „ – nachdem er es ihm zum x-ten Mal vergeblich erklärt hatte: «Tote fahren nicht Bus!» – wütend, beleidigt, im Gefühl seiner moralischen Überlegenheit“ den niederschmetternden Rat gegeben: „«Such dir was anderes, das ist nichts für dich.»“

Dass er, der Tot(gesagt)e nach seiner geglückten Flucht aus dem Krankenhaus mit einem Bus in die Freiheit fährt, erfüllt ihn mit großer Genugtuung. Und dem überheblichen Rifle Barrios und seinem Fan-Club, „die Jungs von El Grupo“, ein Schnippchen zu schlagen, vermag ihn sichtlich aufzuheitern.

Von Santo Expedito, dem Schutzpatron alles Dringlichen und Eiligen, hat Hugo ein Heiligenbildchen im Reisegepäck. Dieser in Lateinamerika äußerst populäre Nothelfer war ursprünglich ein Soldat im alten Rom, der so fest vom neuen Glauben überzeugt war, dass er sich ohne Aufschub, lieber heute als morgen, zum Christentum bekehrte.

Ähnlich rasch und kurz entschlossen wie Expeditus, der sich der Legende nach dem Ansinnen des Teufels, seine Entscheidung auf den folgenden Tag zu verschieben, widersetzte und sich für das Heute (hodie) entschied, handeln auch die meisten Personen des Romans. Des Hier und Heute bedient sich ebenfalls die Medienmeute, die tagesaktuell über den Unfall und Hugos vermeintlichen Tod beziehungsweise sein Verschwinden Bericht erstattet. Ist Schnelligkeit doch seit jeher das A und O des Journalismus!

Auf der Erzählebene vermitteln die vielen knappen Kapitel mit ihren stakkatoartig rasch wechselnden Perspektiven den Eindruck von Geschwindigkeit, genauso wie die Häufung von Handlungsabläufen, die sich in rasendem Tempo abspielen wie der sekundenschnelle Aufprall beim Bahnunglück, die schwindelerregend rasanten Achterbahnfahrten im Vergnügungspark von Luján, der Strudel auf einem See bei Córdoba, der „plötzlich, als hätte jemand den Stöpsel gezogen“ eine ganze Familie in den Abgrund reißt und der Meteorit, „der auf die Erde zurast […] und einen Tsunami“ auslöst.

In seinen letzten Worten stellt der lebensmüde Hugo eine erschreckend ernüchternde Bilanz auf: „Mit dem ersten Absturz gehts los. Bloß auf den kommts an. Danach gehts nur noch abwärts, auch wenn du meinst, es geht nach oben. Es geht nur noch nach oben, damit du noch schneller und tiefer abstürzt.“

Paula Rodríguez

Dringliche Angelegenheiten

Unionsverlag Zürich 2023

 


Bildquellen: [1] CoverScan [2] CreativeCommons

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