Aus der Perspektive der Hauptstadt Buenos Aires wäre man wahrscheinlich versucht, Lumbre als ein neues Exemplar des magischen Realismus zu betrachten. Die Tatsache, in einem der zahlreichen Dörfer der sogenannten argentinischen Pampa aufzuwachsen, veranlasst mich jedoch zu der Feststellung, dass die Erzählung von Hernán Ronsino ohne Übertreibung die Normalität des Lebens in der Provinz widerspiegelt. Denn es handelt sich um eine Realität ohne Zauberei. Oder besser gesagt, es handelt sich um ein Alltagsleben, das mit der Magie untrennbar verbunden ist. Chivilcoy, die kleine Stadt, in der Lumbre spielt, kann als plakatives Beispiel von jenen Orten gelten, die im Schatten von Buenos Aires – das von dem Schriftsteller Ezequiel Martínez Estrada Der Kopf Goliaths genannt wurde – wiederkäuen.
In einem Ort wie Chivilcoy finden die Mitbewohner ihren Grundmythos, wie beispielsweise in einem mit der Teilnahme einiger Mitbewohner Vorort gedrehten Film, der in den Kinos von Buenos Aires irgendwann gezeigt wurde. Das Leben in der Pampa beschränkt sich meistens auf die Hoffnung, dass der Fortschritt irgendwann aus der Stadt kommen wird. Federico Souza, der Erzähler-Protagonist, stellt keine Ausnahme dar, und vor zwölf Jahren hat er seine Heimat verlassen, um in der Großstadt sein Glück zu versuchen. Er ist ausgewandert, um sein zu können: „Damals wollte ich mir ein Leben aufbauen, in dem von der Kleinstadt keine Spur bleiben sollte“ (S.140-141).
Ist das Buch Zama von Antonio Di Benedetto der Roman des Wartens, dann ist Lumbre der der Erinnerung. Durch den Kontakt mit den Orten und Menschen seiner Vergangenheit wird der Erzähler von Erinnerungen heimgesucht, welche in Vergessenheit geraten waren. Jeder Geruch oder Blick kann jederzeit zu einer Abweichung in der Erzählung führen. Durch die Reminiszenz und freie Assoziierung sprudeln in totaler Freiheit zahlreiche Erlebnisse. Ebenso werden die Sätze während des Erzählens gebildet, womit dem Buch ein sehr lebendiger, unerwarteter Rhythmus gelingt. „Da wird es Angebote regnen. Und als Foster regnen sagt, denkt Luna an den Paraná-Fluss, und an den Paraná zu denken, diesen dunklen Fleck, der dahinrauscht, erinnert ihn natürlich wieder an Santiago del Estero, wo er geboren ist; und als Foster Angebote sagt, denkt Luna an Paris“ (S.251). Im Gegensatz zu konventionellen Erzähl- und Schreibweisen gibt Ronsino dem Gedanken den benötigten Raum.
Die Erinnerung bedeutet in diesem Roman nicht unbedingt eine (un)mögliche Rückkehr in die Vergangenheit der Protagonisten, sondern sie wird vielmehr als eine Wiederbegegnung präsentiert. Die besondere Art und Weise, in der die Gedanken Souzas auftauchen, informieren über die verschiedenen Schichten, die die individuelle Biographie und die Geschichte der Stadt bilden. In diesem Sinne stellt die Erinnerung Souzas irgendwie eine Art Wiedereinstellung von – absichtlich oder unabsichtlich – vergessenen Dingen in die Gesamtheit des Seins dar. Lumbre kann als der Augenblick verstanden werden, in dem sich das Gedächtnis und das Vergessen miteinander versöhnen.
Der Roman kann die Lesenden überraschen. Allen, die konkrete Ereignisse oder Informationen von diesem Buch erwarten, wird in Lumbre eine Lektion erteilt. Denn Ronsino zeigt, dass die Literatur nicht nur dank der Ereignisse, sondern auch dank des Erzählens am Leben bleibt. Die Wiederholung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wiederholungen sind in diesem Buch keine bloßen Repetitionen, sondern vielmehr Variationen über ein Thema. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob die Wiederholungen eigentlich der Versuch einer Provokation sind, würde ich doch sagen, dass sie die Aufgabe haben, mit Hilfe von Déjà-vus ein familiäres Umfeld zu erschaffen. „Auf dem Namensschild, das er an der Brusttasche seiner Uniform trägt, ist ein Buchstabe verblasst. Und genau deshalb, wegen dieser Lücke, muss ich an einen Zahn denken. Oder besser: an einem Mund, in dem etwas fehlt“ (S.137), was viel später wieder zu lesen ist: „Das Loch beeindruckt mich. Ich denke an einen ausgerissenen Backenzahn. Ich denke an Wachtmeister Andr as“ [sic] (S.289). Und dazu seine Umkehrung: „Das Fahrrad lehnt noch am Drahtzaun. Neben der ausgegrabenen Wurzel – eine Art verfaultem Backenzahn“ (S.293). Am Ende des Buches wird man vom Übersetzer darüber informiert, dass einige Charaktere bereits im vorigen Roman Ronsinos zu finden seien. Das bedeutet jedoch nicht, dass man zuerst Letzter Zug nach Buenos Aires lesen muss. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der der Autor den Lesenden die Charaktere einführt, erzeugt meisterhaft ein Gefühl von Wiederbegegnung, als ob wir diese Menschen irgendwie schon kannten.
Die Erinnerung hat ein eigenes Tempo, in dem sich die Statik und die Bewegung, die Gegenwart und die Vergangenheit, die eigenen Erlebnisse und die gehörten bzw. gelesenen Geschichten abwechseln. Während Absätze mit konstanter Geschwindigkeit fließen, verlieren andere an Tempo, damit der Text alle möglichen Wege nimmt. Von oben gesehen ähnelt das Ergebnis den Flüsschen bei der Überflutung der flachen Pampa. Die sekundenlange Pause, die die improvisierte Kapelle zwischen einem Lied und dem nächsten macht, wird von Souza ad lib gedehnt, was ihm – ebenso wie Johnny bei Cortázars Der Verfolger – den Zugang zu einer anderen zeitlichen Dimension erlaubt.
Obwohl es im Roman um eine Reise aus Buenos Aires – unumgänglicher Referenzpunkt der argentinischen Eigenart – in die Provinz geht, handelt es sich jedoch nicht um eine Erkundungsfahrt, sondern um eine Heimreise. Im Gegensatz zu 95 Prozent der argentinischen Literatur handelt es sich in Lumbre um eine Erzählung, die im sogenannten Inland stattfindet und deren Erzähler-Schriftsteller selbst aus diesem Inland kommt. Mit einem Roman wie Lumbre verlässt die Literatur die traditionelle Perspektive der Ethnographie, um sich endlich der eigenen Identität und Lebensgeschichte zu widmen. Sich an etwas zu erinnern bedeutet, sich mit der eigenen Biographie auseinanderzusetzen, um mit sich selbst eins zu werden.
Hernán Ronsino
Lumbre [Glühen]
Bilgerverlag. Zürich: 2016, 325 Seiten